Beweisgründe

[162] Beweisgründe.

Zugestandene oder offenbare Wahrheiten, aus welchen der Beweis andrer, in Zweifel gezogenen, Wahrheiten hergeleitet oder wahrscheinlich gemacht wird. Wenn in einer Klagsache jemand eines Diebstals beschuldiget wird, und der Ankläger die Wahrheit der Beschuldigung damit erweisen will, daß der Beklagte seit der Zeit des geschehenen Diebstals reich ist, da er sonst arm gewesen, so ist diese schnelle Veränderung der Armuth in Reichthum der Grund des Beweises. Die Erfindung der Beweisgründe ist ein wichtiger Theil der Beredsamkeit: deswegen haben auch die alten Lehrer der Redner, besonders Aristoteles und Cicero weitläuftig von dieser Sache geschrieben.

Die Erfindung der Beweisgründe wird dadurch sehr erleichtert, daß man dem Redner die Quellen anzeiget, aus welchen in verschiedenen Fällen die Beweisgründe zu schöpfen sind.

Es giebt überhaupt zwey Wege, eine Sache zu erweisen; die Erfahrung, und die Vernunftschlüsse. Beweise durch Vernunftschlüsse nennten die Alten überlegte, durch Kunst geführte Beweise, da sie die, welche aus der Erfahrung genommen werden, unkünstliche hiessen. Diese sind Zeugnisse, Documente und Schriften. Die Quellen der andern sind mannigfaltig, und bedürfen einer nähern Erforschung.

Es giebt ebenfalls zwey Hauptwege, eine Sache vernunftmäßig zu beweisen, ein gerader, der ohne alle Umschweife zum Zwek führet, und ein Umweg, welcher vorher auf andere Wahrheiten leitet, von denen hernach ein gerader Weg zu derjenigen hinführt, die zu erweisen ist. Man betritt den geraden Weg, wann man den Beweis unmittelbar aus der Natur der Sache, wovon die Rede ist, herleitet, und man nimmt den Umweg, wenn man etwas, das ausser der Hauptsache liegt, zum Grunde des Beweises legt, und hernach hieraus durch natürliche Verbindung zur Hauptsache kommt. In Fragen, die gewisse Vorfälle, oder geschehene Sachen betreffen, kann man oft aus genauer Betrachtung der vorgegebenen Sache und ihrer Umstände zeigen, [162] daß das Vorgeben falsch ist. Dies ist der gerade Weg zu beweisen. Liegt in der Sache selbst nichts, woraus der Beweis könnte geführt werden, so findet sich oft, zu demselben Behuf, etwas ausser ihr. Man beweißt nämlich, daß die Sache, wenn sie wahr wäre, diese oder jene Folge hätte nach sich ziehen müssen, und zeiget, daß dieses nicht geschehn. Daraus schließt man, daß also das Vorgeben falsch sey; dies ist ein Umweg. Eben dieses hat auch in Fällen statt, wo die Beschaffenheit einer Sache untersucht wird. Nämlich die Beschaffenheit der Sache, welche man erhärten will, wird entweder aus der Natur der Sache geradezu erwiesen, oder man erweißt die Richtigkeit einer andern Sache, und zeiget hernach, daß aus dieser auch jene nothwendig folge.

Wir müssen aber, um diese Sache näher zu beleuchten, die besondern Fälle dieser beyden Hauptgattungen der vernunftmäßigen Beweise, betrachten. Dasjenige, was man beweisen will, läßt sich allemal auf einen einfachen Satz bringen, in welchem von einer Sache etwas gesagt wird; das ist, nach den Ausdrüken der Schulen zu reden, wo ein Subjectum und ein Prædicatum ist. Mithin kann der Redner sich umsehen, ob die Natur des einen oder des andern ihm den besten Grund zum Beweis abgebe. Er wird bald sehen, welche von beyden ihn am sichersten zum Zwek führen. Wir wollen setzen, der Redner habe unternommen, einen der Verrätherey gegen den Staat angeklagten zu vertheidigen; so ist der Satz, den er zu beweisen hat, dieser: Dieser Mann hat den Staat nicht verrathen. Der Beweis soll aus der Natur der Sache genommen werden.

Hiebey ist offenbar, daß der Redner entweder den Begriff des Staats, oder den Begriff des Verraths zum Grunde legen kann. Findet er, daß die That, wenn sie gegen den Staat unternommen wäre, würklich eine Verrätherey wäre, so muß er suchen zu beweisen, daß sie nicht gegen den Staat, sondern gegen gewisse Personen unternommen worden. Z. E. gegen einige Glieder der Regierung, die man nicht mit dem wahren Souverain verwechseln muß. Ist aber der Fall so, daß die Handlung würklich den Staat betrift; so muß der Redner seinen Beweis aus der Natur der Handlung hernehmen und zeigen, daß sie fälschlich eine Verrätherey genennt werde.

Ein nachdenkender Redner kann selten lange im Zweifel stehen, ob er seinen Beweis aus der Natur des Subjecti oder des Prædicati hernehmen soll; denn nach genauer Untersuchung der Sache, wird er bald finden, aus welchem er die größte Ueberzeugung bewürken könne. Weiß er zum voraus, auf welches von beyden der Ankläger hauptsächlich die Klage gründen wird; so ist seine Wahl ofte dadurch bestimmt. Können ihm beyde zu Beweisgründen dienen, und er ist ungewiß, worauf der Ankläger hauptsächlich bestehen wird; so kann er einen doppelten Beweis führen, den einen aus der Natur des Subjecti, den andern von dem Prædicato hergenommen.

Bey einem aus der Natur der Sache hergenommenen Beweis setzt Cicero drey besondere Fälle. Entweder gründet sich der Beweis auf die ganze Natur und das Wesen der Sache, so daß der Redner beweisen kann, das Wesen derselben mache sein Vorgeben nothwendig; oder wenn das Wesen der Sache nicht kann bestimmt werden, so nimmt man alle ihre Eigenschaften besonders und zeiget, wie jede den Satz bestätiget; oder die Hauptsache kommt nur auf eine einzige Eigenschaft der Sache an, so hält man sich an dieser allein. Im ersten Fall ist also der Beweisgrund, die Sacherklärung; (definitio rei) im zweyten die Zergliederung der Sache, wodurch alle ihre Eigenschaften angegeben werden; (partium enumeratio) endlich im dritten Fall ist der Beweisgrund eine Worterklärung, da man aus dem Namen der Sache, wodurch ihr eine gewisse Eigenschaft beygelegt wird, den Beweis herleitet. (ex notatione) Folgende drey Beyspiele werden diese drey Arten der Beweisgründe erläutern.

Beweis, der aus der Erklärung der Sache hergenommen ist. »Wenn die Majestät des Römischen Staats in seinem Ansehen und in seiner Würde besteht, so beleidigt der diese Majestät, welcher den Feinden des römischen Volks sein Heer überliefert; nicht der, welcher denjenigen, der dieses gethan hat, dem Volke zur Bestrafung einliefert.« Hier wird der Beweis auf die Erklärung des Begriffs Majestät gegründet.

Beweis aus Zergliederung der Sache. »In diesen Umständen waren nur drey Wege möglich. Entweder, man mußte dem Befehl des Senats gehorchen; oder man mußte eine neue Berathschlagung veranlassen; oder man mußte endlich nach seinem [163] eigenen Gutdünken handeln. Eine neue Berathschlagung zu veranlassen, hieß sich zu viel herausnehmen; nach Gutdünken zu handeln, wäre Vermessenheit; also blieb nichts übrig, als dem Befehl des Senats zu gehorchen.«

Beweis aus der Worterklärung. »Wenn der ein Consul genennt wird, welcher dem Vaterland mit gutem Rath und mit That beysteht; was hat denn Opimius anders gethan?«

Kann man auf keinem dieser geraden und kurzen Wege zum Beweis der Sache kommen, weder durch das Subjectum noch durch das Prædicatum des Hauptsatzes, so muß man sich ausser der Sache nach irgend einer Wahrheit umsehen, mit welcher der zu erweisende Satz in einer solchen Verbindung steht, daß er selbst aus jener herzuleiten sey. Hier ist es nun unmöglich, alle einzele Fälle solcher Verbindungen herzusetzen. Cicero giebt derer dreyzehen an, und Aristoteles, der jede Frage durch alle Abtheilungen. erschöpfen wollte, zählt über dreyhundert. Wir überlassen jedem diese Dinge in den Topicis dieser Lehrer selbst nachzusehen.

Ist der Redner ein Mann, der sich lang in Untersuchung der Wahrheit geübt hat, so werden ihm ohne künstliche Hülfsmittel die Dinge einfallen, welche mit seiner Hauptfrage in Verbindung stehen; besonders, wenn er sich überhaupt auf die Art, wie wir im Art. Erfindung gezeigt haben, im Erfinden geübt hat. Wir wollen also hier nicht weiter gehen, als daß wir diese Materie mit einem guten Beyspiel erläutern.

Es ist keine Wahrheit, sie gehöre in die Classe der Begebenheiten, oder unter die Erforschungen der Vernunft, die nicht entweder in wesentlichen oder zufälligen Dingen mit andern Wahrheiten in irgend einer Art der Beziehung stehe. Es müssen andre Dinge ihr vorgehen, oder zugleich neben ihr seyn, oder darauf folgen. Eine Begebenheit muß Veranlasung, Gelegenheit, Ursachen gehabt haben; sie steht mit der Zeit und andern zugleich vorhandenen Umständen in Verbindung; sie hat endlich ihre Folgen. So muß auch ein Satz der Vernunft seine Gründe haben, aus denen er begreiflich wird; es müssen andre Wahrheiten zuvor erkannt gewesen seyn, ehe er hat können erkannt werden; er muß gewisse Folgen haben. Ist der Satz unstreitig wahr, so müssen alle die, welche ihm entgegen stehen, falsch seyn; alle die aber, welche er voraussetzt, wahr.

Wenn also die deutlichen Begriffe von dem Subjecto oder Prædicato des Hauptsatzes entweder fehlen, oder nicht ausführlich genug sind, die Sache zu beweisen; oder wenn in einer geschehenen Sache nichts widersprechendes ist, wenn sie nicht kann geleugnet werden, um einen Beklagten zu retten; wenn sein Charakter nichts zu seiner Vertheidigung an die Hand giebt, so muß man alsdenn auf alle Dinge acht haben, die mit der Hauptsache in irgend einer Verbindung stehen, oder eine Beziehung auf sie haben.

Wir wollen demnach in einer Frage, die von Vernunftschlüssen abhängt, setzen, man wolle erweisen, daß eine begangene That nicht gegen die Gesetze streite, und man habe sich vergeblich bemüht, in der Natur der Handlung, und in dem Sinn der Gesetze, etwas zur Entschuldigung zu entdeken, so wird man auf andere Sachen, worauf die Gesetze oder die Handlung sich bezieht, denken müssen. Man beweißt z. E. daß die Handlung einerley ist, mit einer andern bekannten, welche jederman für unschuldig und rechtmäßig gehalten hat. Oder man beweißt aus Beyspielen, daß das Gesetz auf eine gewisse Weise müsse verstanden werden, und zeiget daraus, daß es auf den Fall, wovon geredet wird, nicht gehe. Man kann bisweilen auch aus den offenbar schlimmen Folgen, die ein Gesetz haben müßte, wenn es auf gewisse Weise verstanden würde, zeigen, daß es auf den vorhabenden Fall nicht gehe.

Eben so geht es mit Begebenheiten. Man beweißt, daß der Beklagte damals, als sie geschehen, an einem entlegenen Ort gewesen; daß er unmittelbar vorher, oder nachher, Sachen gethan, wodurch diejenige, der man ihn beschuldiget, unmöglich, oder höchst unwahrscheinlich wird.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 162-164.
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