Copieren

[231] Copieren. (Zeichnende Künste)

Ein Werk der zeichnenden Künste, welches ein andrer verfertiget hat, genau nachmachen. Das Copiren der besten Werke ist eine Uebung, welche man angehenden Künstlern auf das Beste zu empfehlen hat. Es ist kaum möglich alle Schönheiten und Vorzüge eines guten Werks einzusehen, bis man versucht hat, es nachzumachen. Erst dabey zeigen sich die Schwierigkeiten, die Bemühungen und das Nachdenken, wodurch das Original entstanden ist. Man wird beym Copiren in die [231] Nothwendigkeit gesetzt, auf alles genau Achtung zu geben, dadurch entdekt man Schönheiten und Fehler, die sonst nicht würden bemerkt worden seyn. Diese darzustellen, muß der Copiste nothwendig selbst mit der ganzen Anstrengung des Geistes, den Geheimnissen der Kunst nachspühren. Man bekommt dadurch eine Fertigkeit sowol das Schöne als das Fehlerhafte schneller zu entdeken, die äusseren und inneren Sinnen werden geschärft.

Nach dem Zeugniß verschiedener Künstler, entdekt man oft erst bey der sechsten oder siebenten Nachzeichnung gewisser Werke, Schönheiten, die man bey dem vorhergehenden Copiren noch übersehen hatte. Indem man aber die vornehmsten Werke der Kunst copirt, lernt man nach und nach so denken, und sich so ausdrüken, wie die grossen Meister gethan haben. Wer aber durch Copiren seinen Geschmak und seine Fertigkeiten zur Vollkommenheit bringen will, der muß nicht sclavisch copiren. Er muß sich nicht vorsetzen, die Handgriffe der Originalmeister, das Mechanische der Kunst allein zu errathen, sondern vielmehr sich bestreben, ihren Geist und ihren Geschmak sich zu zueignen. Man muß nicht suchen Copeyen zu machen, die alles Aeusserliche der Originale an sich haben, sondern fürnehmlich den Geist derselben, auf eine uns eigene Art zu erreichen suchen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 231-232.
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