Zeichnende Künste

[1280] Zeichnende Künste.

Unter dieser allgemeinen Benennung begreift man die ganze Classe der schönen Künste, die durch Darstellung sichtbarer Formen auf die Gemüther würken, bey denen folglich die Zeichnung dieser Formen das Wesentliche der Kunst ausmacht. Diese Künste haben ihr Fundament in der ästhetischen Kraft, die in den Formen der Körper liegt, von welcher an seinem Orte gesprochen worden.1 Ein feines und lebhaftes Gefühl für alle Arten dieser Kraft und ein scharfes Aug, das die mannigfaltigen Formen der Natur sehr bestimmt und getreu faßt, sind die wesentlichsten Talente zu diesen Künsten.

Man hat auf so vielfältige Weise versucht die sichtbaren Formen, als Gegenstände des Geschmaks darzustellen, daß der Hauptstamm der zeichnenden Künste sich in sehr viele Zweyge verbreitet hat. Zuerst sind zwey Hauptäste zu unterscheiden. An dem einen hangen die Zweyge der zeichnenden Kunst, die die Formen körperlich bilden, und an dem andern die, welche sie nur flach aber durch die Zauberkraft der Vermischung des Lichts und Schattens so darstellen, daß das Aug die würklich körperliche Form zu sehen glaubt. Jene werden auch die bildenden Künste genennt, weil sie unförmliche körperliche Massen zu schönen Formen bilden. Doch scheinet der Sprachgebrauch die Baukunst nicht mit unter diesem allgemeinen Namen zu begreifen, ob sie gleich mit den andern dieses gemein hat, daß sie aus unförmlichen Massen schöne Formen zusammensezet.

Die bildenden Künste theilen sich wieder in viel besondere Zweyge, die man aber mehr durch die Behandlung und durch das mechanische Verfahren, als durch den Geist oder den Stoff, den sie darstellen unterscheidet. Wir haben der Hauptzweyge schon besondere Meldung gethan.2 Man könnte noch mehr Arten derselben unterscheiden, wenn an einer subtileren Zergliederung dieser Sache was gelegen wäre. So könnte man z.B. die Bossirkunst, die Schnizkunst3 und die Drehkunst, auch noch als besondere Zweyge der bildenden Kunst ansehen. Die leztere hat in der That bey den Griechen ihren eigenen Namen und Rang behauptet.

Der andere Hauptast theilet sich wieder in verschiedene Zweyge, die Mahlerey, die mosaische Kunst, die Kupferstecher Kunst und das Formschneiden.

Die große Mannigfaltigkeit der zeichnenden Künste, giebt einen sehr überzeugenden Beweis von dem großen Wolgefallen, das der Mensch an schönen Formen findet. Es scheinet mir außer Zweifel zu seyn, daß dieses natürliche Wolgefallen an Schönheit der Form, schon in seiner ersten Nüchternheit und Einfalt diese Künste hervorgebracht hat; ob sie gleich mit der Zeit vielfältig blos zur Ueppigkeit und zur Unterstüzung einer eiteln Pracht angewendet worden. Es [1281] giebt zwischen der ersten Anwendung dieser Künste, die blos auf ein unschuldiges, weiter nichts auf sich habendes Ergözen des Auges abziehlt, und ihrem Mißbrauch, der sie blos zur Unterstüzung einer übermüthigen Pracht angewendet hat, eine Mittelstrasse, die uns die zeichnenden Künste in ihrem höchsten Werthe zeigen, da sie so wol zu allgemeiner Erhebung oder Erhöhung des Gemüthes, als zu kräftiger Lenkung desselben in besondern Fällen können angewendet werden. Davon aber haben wir an andern Orten hinlänglich gesprochen.4 Wir berufen uns hier nur deswegen darauf, damit man sich überzeuge, daß die Aufnahm und Vollkommenheit dieser Künste, da sie das ihrige zu Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts beyträgt, keine gleichgültige Sache sey.

Die strengern Sittenlehrer, die die zeichnenden Künste ihres Mißbrauchs halber völlig verwerfen, bedenken nicht, wohin ihre Grundsätze führen. Wenn man alles, was blos unsern Geschmak am Schönen nährt, unterdrüken sollte, so würde der Mensch gerade die Vorzüge verliehren, die ihn am höchsten über die Thiere empor heben. Man macht uns reizende Schilderungen von der Glükseeligkeit der noch an der ersten rohen Natur hangenden Völker, die bey gänzlichem Mangel jener Künste, die nächsten und dringendsten Bedürfnisse der Natur in sorgeloser Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt nicht, wie nahe solche Menschen den Thieren sind, die eben so sorgefrey gerade die Bedürfnisse, die man für die wichtigsten hält, befriedigen. Die so mannigfaltigen Talente des Menschen geben einen offenbaren Beweiß, daß er zu einer Vollkommenheit bestimmt sey, von welcher der höchste Wolstand, der blos Ruh und völligen Genuß aller Nothdurft verstattet, noch unendlich entfernt ist. Aber diese Betrachtung kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

Die allgemeine Benennung der Künste von denen hier die Red ist, zeiget an, daß die Zeichnung das Fundament derselben ist, und daß sie ihren eigentlichen Werth daher haben: deswegen haben wir diese besonders zu betrachten.

1S. Form.
2S. Bildende Künste.
3L'art du ciseleur
4S. Baukunst; Bildhauerkunst, Mahlerey; Stein- und Stempelschneiderkunst.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1280-1282.
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