Gothisch

[489] Gothisch. (Schöne Künste)

Man bedienet sich dieses Beyworts in den schönen Künsten vielfältig, um dadurch einen barbarischen Geschmak anzudeuten; wiewol der Sinn des Ausdruks selten genau bestimmt wird. Fürnehmlich scheinet er eine Unschiklichkeit, den Mangel der Schönheit und guter Verhältnisse, in sichtbaren Formen anzuzeigen, und ist daher entstanden, daß die Gothen, die sich in Italien niedergelassen, die Werke der alten Baukunst auf eine ungeschikte Art nachgeahmet haben. Dieses würde jedem noch halb barbarischen Volke begegnen, das schnell zu Macht und Reichthum gelanget, eh' es Zeit gehabt hat, an die Cultur des Geschmaks zu denken. Also ist der gothische Geschmak den Gothen nicht eigen, sondern allen Völkern gemein, die sich mit Werken der zeichnenden Künste abgeben, ehe der Geschmak eine hinlängliche Bildung bekommen hat. Es geht ganzen Völkern in diesem Stük, wie einzelen Menschen. Man mache einen, im niedrigen Stande gebohrnen und unter dem Pöbel aufgewachsenen, Menschen auf einmal groß und reich, so wird er, wenn er in Kleidung, in Manieren, in seinen Häusern und Gärten und in seiner Lebensart, die feinere Welt nachahmet, in allen diesen Dingen gothisch seyn. Das Gothische ist überhaupt ein ohne allen Geschmak gemachter Aufwand auf Werke der Kunst, denen es nicht am Wesentlichen, auch nicht immer am Grossen und Prächtigen, sondern am Schönen, am Angenehmen und Feinen fehlt. Da dieser Mangel des Geschmaks sich auf vielerley Art zeigen kann, so kann auch das Gothische von verschiedener Art seyn.

Darum nennt man nicht nur die von den Gothen aufgeführten plumpen, sondern auch die abentheuerlichen und mit tausend unnützen Zierrathen überladenen Gebäude, wozu vermuthlich die in Europa sich niedergelassenen Saracenen die ersten Muster gegeben haben, Gothisch. Man findet auch Gebäude, wo diese beyden Arten des schlechten Geschmaks vereiniget sind.

In der Mahlerey nennt man die Art zu zeichnen Gothisch, die in Figuren herrschte, ehe die Kunst durch das Studium der Natur und des Antiken am Ende des XV Jahrhunderts wieder hergestellt worden. Die Mahler vor diesem Zeitpunkt zeichneten nach einem Ideal, das nicht eine erhöhte Natur war, wie das Ideal der Griechen, sondern eine in Verhältnis und Bewegung verdorbene Natur. Ueber die natürlichen Verhältnisse verlängerte Glieder, mit steiffen, oder sehr gezierten, Stellungen und Bewegungen, von denen man in der Natur nichts ähnliches sieht, sind charakteristische Züge der gothischen [489] Zeichnung. Man sieht deutlich, daß die gothischen Mahler nach bloßem Gutdünken Figuren gezeichnet haben, die zwar alle Glieder des menschlichen Körpers hatten, wobey aber der Zeichner ganz unbesorgt war, ob sie die wahre Gestalt, die wahren Verhältnisse und die Wendungen der Natur haben oder nicht.

Es scheinet also überhaupt, daß der gothische Geschmak aus Mangel des Nachdenkens über das, was man zu machen hat, entstehe. Der Künstler, der nicht genau überlegt, was das Werk, das er ausführet, eigentlich seyn soll, und wie es müsse gebildet werden, um gerade das zu seyn, wird leicht gothisch. Eben dieser Mangel des Nachdenkens unterhält noch gegenwärtig den gothischen Geschmak in den Verzierungen, wenn man sie ohne alle Rüksicht auf die Natur des Werks, das verziert wird, anbringet. Gothisch ist der, in Form eines Thieres geschnittene Baum, die, wie eine Schneke gewundene Säule, der, auf einem hohen und sehr dünnen Fuße stehende Becher, und so sind sehr viel nach einem völlig willkührlichen Geschmak ausgezierte Geräthschaften. S. Verzierung.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 489-490.
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