Niß

[511] Niß, eine Ableitungssylbe, welche Hauptwörter aus Bey- und Zeitwörtern bildet, welche theils die Handlung selbst oder einen Zustand, theils aber auch eine Sache, welche etwas thut, oder auch welche gethan wird, einen Ort u.s.f. bedeuten.

Die Wörter, aus welchen vermittelst dieser Endung Hauptwörter gebildet werden können, sind 1) Beywörter, von welcher Art Finsterniß, Wildniß, Geheimniß, und die veralteten Schwerniß und Wärniß sind. 2) Zeitwörter, deren Anzahl größer ist. Die Bildung kann hier so wohl von dem Infinitive geschehen, da denn die erhaltenen Hauptwörter zuweilen die Stelle der Verbalium auf -ung vertreten, wie Emfpängniß, Fäulniß, Verdammniß, Erlaubniß, Fahrniß, Kümmerniß, Besorgniß, Begegniß, Beschwerniß, Ärgerniß, Hinderniß, Säumniß u.s.f. Da denn, wenn die beybehaltene Stammsylbe des Zeitwortes sich schon auf ein n endiget, das t euphonicum eingeschaltet wird, wie Kenntniß, Erkenntniß, Bekenntniß. Als auch von dem Mittelworte der vergangenen Zeit, da denn, wenn sich dasselbe auf ein t oder en endiget, diese weggeworfen werden; auf welche Art Betrübniß, Bündniß, Geständniß, Begängniß u.s.f. aus betrübt, gebunden, gestanden, begangen gebildet sind. Nur der Wohllaut behält zuweilen das t bey, wie in Bewandtniß, Vermächtniß, Gedächtniß und vielleicht noch einigen andern. Gemeiniglich werden auch die Selbstlauter a, o und u in ä, ö und ü verwandelt. Nur Erlaubniß, Fahrniß, Bewandtniß, Verdammniß, Besorgniß, Befugniß und Erforderniß behalten ihre Selbstlauter. Was die Bedeutung dieser Wörter betrifft, so hängt selbige von denjenigen Wörtern ab, von welchen sie gebildet worden. 1) Sind es Beywörter, so bezeichnen sie so wohl das Abstractum, als auch das mit der Eigenschaft des Beywortes begabte Ding. 2) Die von Infinitiven gemachten Hauptwörter, bedeuten theils die Handlung, den Zustand, wie Begräbniß, Gefängniß, Verlöbniß u.s.f. bekommen aber auch verschiedene figürliche Bedeutungen, und vertreten im ersten Falle die Zeitwörter auf -ung; theils aber auch ein Ding, welches die Handlung des Zeitwortes verrichtet, welches aber keine Person seyn darf, wie Bedrängniß, Fahrniß, was fähret oder sich bewegt, welches aber auch von dem Mittelworte gemacht seyn kann, etwas welches beweget wird, Begegniß, was uns begegnet, Beschwerniß, Ärgerniß, Hinderniß, Versäumniß, Bedürfniß, was man bedarf, Behältniß, was etwas aufbehält u.s.f. 3) Diejenigen, welche von dem Mittelworte der vergangenen Zeit herkommen, bezeichnen theils, so wie die von Beywörtern, ein Abstractum, oder den Zustand, theils auch etwas das gethan wird; wie Bündniß, Geständniß, Vermächtniß, Gedächtniß, Verständniß, Bildniß u.s.f. In manchen Wörtern kommen mehrere dieser Bedeutungen zusammen, und alsdann[511] scheinet auch das Wort so wohl von dem Infinitive, als auch von dem Mittelworte zugleich gebildet zu seyn.

Mit dem Geschlechte dieses Wortes haben sich die Sprachlehrer viel zu schaffen gemacht. In dem 2ten Bande der Schriften der Anhältischen Deutschen Gesellschaft wird S. 432 auf sieben Blättern davon gehandelt; Heynatz widmet demselben in seinem zehnten Briefe gleichfalls sieben Blätter, und Stosch handelt im dritten Theile seiner Bestimmung gleichbedeutender Wörter S. 418 auch davon. Daß die Wörter auf -niß so wohl im weiblichen als ungewissen Geschlechte üblich sind, gestehet ein jeder ein. Die meisten wollen mit Gottscheden das weibliche Geschlecht gebrauchen, wenn ein Wort das Abstractum oder die Handlung bedeutet, und das ungewisse, wenn es im Concreto gebraucht wird. Ich weiß nicht, warum sich bloß die Wörter auf -niß diesem Gesetze unterwerfen sollen, da wir so viele tausend andere haben, welche so wohl im Abstracto als Concreto gebraucht werden, ohne jemahls ihr Geschlecht zu ändern. Das sicherste ist also wohl, man halte sich an den Gebrauch, und lasse einem Worte dasjenige Geschlecht, welches demselben am häufigsten gegeben wird.

Freylich ist der Gebrauch hier sehr schwankend und ungewiß. Im Oberdeutschen sind die meisten Wörter auf niß weiblichen Geschlechtes, obgleich auch viele daselbst im ungewissen üblich sind, denen wir im Hochdeutschen das weibliche beylegen. Die Hinderniß, die Bildniß, die Bündniß, die Gefängniß, das Wildniß, das Finsterniß, das Fäulniß u.s.f. sind lauter Oberdeutsche Formen, und man gebraucht sie, ohne auf die Bedeutung zu sehen, das Wort mag ein Abstractum oder ein Concretum bezeichnen. Hingegen lieben die Niedersachsen in diesen Wörtern das ungewisse Geschlecht, ohne doch das weibliche ganz auszuschließen.

Im Hochdeutschen sind folgende am häufigsten weiblichen Geschlechtes: die Betrübniß, die Bedrängniß die Bewandniß, die Besorgniß, die Beschwerniß, die Begegniß, welche beyden letztern doch nur selten vorkommen, die Empfängniß, die Erkenntniß, die Erlaubniß, die Fahrniß, die Finsterniß, die Fäulniß, die Kenntniß, die Kümmerniß, die Verdammniß, die Wildniß, und vielleicht noch einige andere nicht so übliche. Das ungewisse hingegen bekommen: das Ärgerniß, das Bedürfniß, das Befugniß, das Begräbniß, das Bekenntniß, das Bündniß, das Bildniß, das Behältniß das Einverständniß, das Erforderniß, das Geheimniß, das Geständniß, das Gedächtniß, das Gefängniß, das Gleichniß, das Hinderniß, das Leichenbegängniß, das Mißverständniß, das Versäumniß, das Verlöbniß, das Verhältniß, das Vermächtniß, das Verzeichniß, das Verhängniß, das Zeugniß, und vielleicht noch einige andere. Wollte man diese nach der Regel formen, daß sie weiblich seyn sollten, wenn sie den Zustand oder die Handlung bedeuten, aber ungewiß, wenn sie ein Concretum bezeichnen, so müßte man den ganzen Sprachgebrauch umschaffen, ohne eben etwas gethan zu haben, welches die Mühe belohnete. Einige der jetzt angeführten Wörter sind im Hochdeutschen zweifelhaft, und bekommen in einerley Bedeutung von einigen das weibliche, von andern aber das ungewisse Geschlecht, je nachdem jeder der Ober- oder Niederdeutschen Mundart günstiger ist. Einige andere sind in verschiedenen Bedeutungen wirklich in beyden Geschlechtern üblich, und diese muß man denn freylich so lassen wie sie sind. Vermuthlich rühret solches daher, daß es in der einen Bedeutung von den Oberdeutschen, in der andern aber von den Niederdeutschen entlehnet worden.

Die Oberdeutsche Mundart liebt diese Ableitungssylbe vorzüglich, daher sind in derselben eine Menge solcher Hauptwörter gangbar, welche die übrigen Mundarten, und folglich auch die Hochdeutsche nicht kennen. Viele derselben sind von Heynatz, und im 2ten[512] Bande der Schriften der Anhältischen Gesellschaft, an den angeführten Orten aufgezählet worden. Sie könnten aber gar leicht vierfach vermehret werden, wenn es die Mühe belohnete. Es scheinet sogar, daß man im Oberdeutschen täglich neue Wörter vermittelst dieser Sylbe bilde, wenn man sie bedarf. Im Hochdeutschen ist diese Freyheit nicht so uneingeschränkt, und es machte viel Schreibens, als Abt das Wort Empfindniß von dem Zustande des Empfindens gebrauchen wollte.

Diese Sylbe ist sehr alt, und lautet bey dem Ulphilas -nassus, bey den ältesten Oberdeutschen Schriftstellern -nisse, nisso, nissa, welche Endsylben a, e, o zugleich Beweise des weiblichen Geschlechtes sind, bey den heutigen Oberdeutschen -nuß und im Plural -nüsse, im Angels. -nisse, -nysse, -nesse, im Engl. -ness. Die Alten machten gern Abstracta damit. So ist im Isidor Miltnisso die Milde, und Hartnissa die Härte. Im Nieders. wo es doch seltener vorkommt, lautet es -nis und -nisse, Drövnis, Betrübniß, Denknisse, Gefängniß, Gefangenschaft, Düsternis, Finsterniß, Erbnis, Erbe, Eigenthum. Um die Abstammung dieser Eylbe, welche doch gewiß kein leerer Schall ist, hat sich noch niemand bekümmert. So fern die concrete Bedeutung, wie sehr wahrscheinlich ist, die erste und älteste ist, scheinet es mit Noß, Nuß, so fern es noch in manchen Gegenden ein Ding überhaupt bedeutet, verwandt, oder vielmehr ein und eben dasselbe Wort zu seyn, S. Noß.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 511-513.
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