Unterstehen

[927] Unterstehen, verb. irreg. neutr. S. Stehen, welches das Hülfswort seyn, als ein Recipr. aber haben erfordert. 1. Únterstehen; ich stehe unter, bin untergestanden, unter zu stehen; unter ein Obdach stehen oder treten, mit dessen Verschweigung; untertreten. Wir wurden nicht naß, denn wir standen unter. Es regnete, aber wir konnten nirgends unterstehen.

2. Unterstéhen; ich unterstehe, unterstand, zu unterstehen; ein Reciprocum, die Bewerkstelligung einer schweren und wichtigen Sache mit Zuversicht und Vertrauen über sich nehmen, und selbige wirklich anfangen; wo es doch am häufigsten nur in engerm Verstande, theils von verwegen, theils auch von verbothenen Handlungen gebraucht wird. Sowohl mit dem Infinitiv und dem Wörtchen zu. Er wird den Höchsten lästern, und wird sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern, Dan. 7, 24. Du unterstehest dich, zu begreifen den Weg des Allerhöchsten? 4 Efr. 4, 2. Niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden, Apost. 18, 10. Als auch mit dem Accusativ der Sache, doch am häufigsten nur mit dem Partikeln es, was u.s.f. Er hat es sich unterstanden. Was unterstehest du dich? Was unterstehet sich der Arme, Pred. 6, 8. Ingleichen mit einigen Beywörtern. Er unterstehet sich viel. Mit Hauptwörtern ist es im Hochdeutschen nicht gangbar,[927] sondern man bedient sich dafür einer Umschreibung. Nicht, sich einen Mord unterstehen, sondern sich unterstehen einen Mord zu begehen. Im Oberdeutschen hingegen sagt man in der zweyten Endung, sich eines Mordes unterstehen, welche Wortfügung auch im Hochdeutschen nachgeahmet wird. Ich unterstehe mich dessen nicht. Ihr muest euch untersteen der abentheuer, Theuerd. Kap. 6; wo es noch in dem veralteten guten, wenigstens gleichgültigen Verstand des Unternehmens, Wagens gebraucht wird. In noch weiterm Verstande heißt es eben daselbst Kap. 48: sich des Bären unterstehen, sich an ihn machen, ihn angreifen.

Anm. Schwed. unterstå, welches aber auch verstehen, intelligere, bedeutet. Unterstehen gründet sich in dem zweyten Falle auf eben die Figur, als unterfangen, unternehmen und unterwinden, und bedeutet eigentlich, sich unter etwas stehen, d.i. stellen, oder darunter treten, um es aufzuheben; Lat. sustinere. Ottfried gebraucht dafür ingaan, sich unterstehen, eigentlich es angehen, Lat. aggredi. Wachter erkläret es daher irrig durch widerstehen, welcher Begriff gar nicht hierher gehöret. Daß es ehedem auch außer der Reciprocation gebraucht worden, erhellet aus dem Theuerd. Kap. 86:


Als es nun ging gen den Morgen

Wolten die morder vnderstan

Den mord zu thun.


Nach einer jetzt veralteten Bedeutung wurde es ehedem mit dem Accusativ für verhindern gebraucht; etwas unterstehen, eigentlich, sich darunter stellen, dessen Bewegung aufzuhalten.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 927-928.
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