Ur

[956] Ur, ein sehr altes Wort, nicht allein in der Deutschen, sondern fast in allen Sprachen, welches indessen im Deutschen nur noch in der Zusammensetzung mit einigen Nennwörtern, und einigen wenigen davon abstammenden Zeitwörtern üblich ist. Es bedeutet daselbst,

1. Groß, und nach einer sehr nahen Figur auch vortrefflich, vorzüglich, so fern ehedem körperliche Größe und Stärke der vornehmste und fast einzige wesentliche Vorzug war. Diese Bedeutung ist ohne Zweifel eine der ersten und ältesten, allein sie ist nur noch in einigen wenigen Wörtern vorhanden, welches denn vermuthlich den Frisch bewogen, sie ganz zu leugnen. Allein unser Urochs, bey den alten Galliern Ur, das alte Urhahn, das gleichfalls veraltete Urgaul, ein vorzüglich großes und schönes Pferd, das Baierische Ursau, eine große und schöne Sau, ein Hauptschwein, das Westphählische Urkämpe, ein großer, vorzüglicher Kämpe oder Eber, und vielleicht noch einige andere mehr, beweisen diese Bedeutung zur Gnüge. In den beyden ersten ist dieses Wort in gedehnten breiten Mundarten in Auer übergegangen, Auerhahn und Auerochs, S. diese Wörter. Das so alte Aar, ein großer Vogel, ist nahe damit verwandt. Man könnte auch die Bedeutung das wild als eine Figur der Größe ansehen, wenn sie von dem Worte ur in unsern noch vorhandenen Zusammensetzungen erweislicher wäre, als sie wirklich ist. Allein, sie würde sich alsdann füglicher als eine unmittelbare Onomatopöie des wilden ungestümen Geräusches betrachten, und als einen Verwandten, von dem Angels. yrre, zornig, dem Lat. Ira, Zorn, unserm irren, und andern ähnlichen mehr ansehen lassen. Im Isländ. ist yr gleichfalls wild.

2. Auf, d.i. eine Bewegung in die Höhe zu bezeichnen, nebst vielen daraus entspringenden figürlichen Bedeutungen. Dahin gehören das alte urheben, aufheben, in eigentlichem Verstande, wovon unser Urheber abgeleitet werden muß, indem ur hier nicht die folgende Bedeutung des ersten hat; die gleichfalls veralteten urrisen und Vrständ, aufstehen und Auferstehung, das alte Urlop, Auflauf, bey dem Raban Maurus Vrheiz, und andere größten Theils veraltete mehr. Dahin gehöret auch die Bedeutung des über, welche aber im Hochdeutschen gleichfalls veraltet ist. Bey den alten Oberdeutschen Schriftstellern ist Urdriezze, Überdruß, und im Österreichischen wird Urfar noch für Überfahrt gebraucht.

3. Das erste in einer Sache, einen Anfang, eine der ältesten Bedeutungen, welche eine Figur der vorigen ist. Ur ist in diesem Verstande mit unserm eher, erst, dem Gothischen air, frühe, dem Griech. ηρ, die Morgenzeit und der Frühling, άρχη, der Anfang, dem alten Latein. ora, der Anfang, und den davon abstammenden oriri und ordiri genau verwandt. Dahin gehören das alte Urruns, der Morgen, Oriens, Urhab, der Anfang, Urheber, Ursprung, Urahn, u.a.m.[956]

4. Aus, eine gleichfalls alte Bedeutung, in welcher ur, im Schwedischen noch als ein Vorwort für sich allein üblich ist. Vrriuto ist bey dem Kero ein Ausrotter, Ursago, Entschuldigung, nach dem Latein. Excusatio. Im eigentlichen Verstande sind dafür jetzt die Zusammensetzungen mit er üblicher. Figuren dieser Bedeutung sind, (1) die Bedeutung der Endigung, wie in Urtheil, urtheilen, Urfehde und vielleicht noch andere mehr. (2). Die Bedeutung der Beraubung, wo es ehedem häufig für un gebraucht wurde; wohin die veralteten Urlust für Unlust, Urmuoti, unsinnig, Urrecht, Unrecht, urwaffni, unbewaffnet, urkläg, klaglos, ursprach, sprachlos, das Schwed. ursinnig, unsinnig, das Angels. orsaker, unschuldig, und andere mehr gehören.

5. Daher wurde es ehedem auch sehr häufig statt der Partikeln er und ver gebraucht, besonders für die erstere, welche mit unserm ur eigentlich ein und eben dasselbe Wort ist, und gleichfalls die Bedeutungen des auf und aus in sich vereiniget. Dahin gehöret Notkers Vrlösi, Erlösung, ursuochen, ersuchen, ingleichen versuchen, das alte urmar, verrufen, Megisers urbittig, erböthig, unser Urlaub, für Erlaubniß, Urkunde, und andere mehr. S. 4. 5. Er.

6. Zuweilen bedeutet es eine bloße Intension, wo es sich als eine Figur sowohl der ersten, als dritten und vierten Bedeutung ansehen lässet, und mit erz verwandt ist. Uralt, urplötzlich, die veralteten urmare, sehr berühmt, Vrtat, eine völlig vollbrachte, unabänderliche That, und andere veraltete mehr.

Anm. Mehrere Schattierungen! dieser Bedeutungen, welche sich doch insgesammt auf eine der angeführten zurück leiten lassen, werden bey den folgenden Zusammensetzungen vorkommen. Diese Partikel ist eine von denjenigen, welche von unsern Wortforschern am fleißigsten untersucht worden, ob sie gleich in ihren Bemühungen nicht alle gleich glücklich gewesen. Am sorgfältigsten hat die verschiedenen Bedeutungen derselben Dietrich von Stade, in seiner Erklärung einiger Deutschen Wörter aus Luthers Bibel-Übersetzung aus einander zu setzen gesucht, und besonders eine Menge mit dieser Partikel zusammen gesetzter veralteter Wörter angeführet, mit welchem auch Frisch in seinem Wörterbuche verbunden werden kann. Der letztere liefert zugleich eine Geschichte der Meinungen der Deutschen Sprachforscher von dieser Partikel, welche ich hier nicht wiederhohlen will.

In den alten Mundarten und Sprachen gehet diese Partikel mit ihren Verwandten durch alle Vocale durch, ar, er, ir, or, ur, yr; ob gleich die Selbstlaute im schärfsten Verstande eben so wenig gleich bedeutend sind, als sie gleich lautend sind. Bleiben wir bey der Form ur stehen, so ist diese Sylbe ursprünglich ein nachahmender Ausdruck eines heftigen zitternden und dabey dumpfigen Lautes gewesen, welche Bedeutung die schon angeführten ira, irren, das Angels. yrre, zornig, das alte Schwedische Vr, Schneegestöber, das Madagascarische Ur, der Regen u.s.f. noch haben, wovon sowohl der Begriff der Bewegung, als auch der Begriff der Größe und Höhe, Figuren sind. Zu der Bedeutung der Bewegung gehöret das alte Gothische ora, sich bewegen, nebst einer Menge anderer, z.B. unser hurtig. Eine nahe Figur davon ist die Bedeutung der Menge, der Vielheit, die wirkende Ursache der Bewegung und ihres Geräusches, daher Vrbs, die Stadt, und das Malabarische Vr, ein Flecken, eine Stadt. Das Licht hat seinen Nahmen einer andern Figur der schnellen Bewegung zu danken; daher das Hebräische אור ur, leuchten, das Latein. aurum und andere mehr.

Neue Wörter lassen sich mit dieser Partikel nicht zusammen setzen, außer allenfalls in der Bedeutung des ersten; vielmehr hat man die mehresten damit ehedem zusammen gesetzten veralten lassen. In vielen ist dafür er und in manchen ver üblich, S. diese[957] beyden Wörter. Manche im Hochdeutschen veraltete Wörter sind noch in den Mundarten gangbar. Übrigens ist diese Sylbe da, wo sie noch gebraucht wird, nicht nur allemahl gedehnt, sondern sie bemächtiget sich auch des Tones, und ziehet selbigen auf sich zurück.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 956-958.
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