Vertragen

[1161] Vertragen, verb. irreg. act. S. Tragen, welches nach Maßgebung beyder Theile der Zusammensetzung in verschiedener Bedeutung vorkommt. 1. Durch Tragen verbrauchen, doch nur von Kleidungsstücken. Ich will das Kleid noch vollends vertragen. Vertragene Lumpen, Jer. 38, 11. 12, wofür man jetzt lieber sagt, abgetragene. 2. An einen ungehörigen, oder auch unbekannten Ort tragen. Ich habe es vertragen, habe es wohin getragen, und weiß nicht mehr wohin. Die Dohlen pflegen gerne das Geld zu vertragen. Die Katzen vertragen ihre Jungen. Jemanden das Geld vertragen, zu seinem Nachtheile bey einem andern kaufen. 3. Einem Eindrucke von außen, besonders einem unangenehmen Eindrucke, ohne Beschwerde widerstehen; im gemeinen Leben für das anständigere ertragen. Hitze und Kälte vertragen können. Die Schmerzen sind nicht mehr zu vertragen. Die Eulen können das Licht nicht vertragen. Vertraget gerne die Narren, dieweil ihr klug seyd, 2 Cor. 11, 19. Aber, vertraget mich, daß ich auch rede, Hiob. 21, 3, ist ungewöhnlich. Schon bey dem Kero fartragan, bey dem Ottfried firdragen, im Schwed. fördraga, im Angels. nur dreogan, Ver stehet für das edlere er. 4. So daß ver eine Verbindung, Vereinigung bezeichnet. (1) Streitige oder feindselige Personen einig, eigentlich einträchtig machen; in der edlern Schreibart versöhnen. Zwey Personen vertragen. Cajus hat die beyden feindseligen Brüder mit einander vertragen. Das hat mich wieder mit ihm vertragen. Ingleichen als ein Reciprocum, sich mit jemanden vertragen, sich mit ihm aussöhnen oder versöhnen, den gegenseitigen Unwillen fahren lassen. Vertragen ist hier der Gegensatz von dem veralteten zertragen. Da zertrügen sie sich, sie wurden uneins, in dem Deutschen Livius von 1514. In weiterm Verstande, auch eine streitige Sache gütlich beylegen, einen Streit vertragen; ehedem auch austragen. S. Austrag. Und in noch weiterer Bedeutung, eine gegenseitige Zusage, ein Versprechen und Gegenversprechen geben, auch ohne vorher gegangenen Streit: wir haben es so mit einander vertragen, verglichen, verabredet. In beyden Bedeutungen ist es im Hochdeutschen wenig mehr üblich, in der letztern sagt man lieber, einen Vertrag machen, welches Hauptwort noch davon übrig ist. (2) Sich mit jemanden vertragen zeigt die Art und Weise an, wie man im gesellschaftlichen Leben sich gegen den andern beträget, da denn die Art und Weise gemeiniglich mit bemerket wird. Sich gut mit einander vertragen, friedlich mit einander leben. Sich schlecht mit ihm vertragen, unfriedlich mit ihm leben. Sie konnten sich niemahls vertragen, nämlich gut. Thorheit und Weisheit vertragen sich nicht mit einander. Wir haben uns wie die Kinder vertragen, Gell. Es ist nach dem Latein. comportar gebildet, eigentlich zugleich tragen, einträchtig seyn.

In den beyden ersten Bedeutungen ist das Hauptwort das Vertragen üblich; in Einem Falle der vierten der Vertrag. Die Vertragung ist nicht eingeführet.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1161.
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