Diogenes

[349] Diogenes, mit dem Beinamen des Cynikers, einer der größten und zugleich am meisten verkannten Weisen Griechenlands, wurde aus seiner Vaterstadt Sinope in Paphlagonien, einer Provinz Kleinasiens, wo er ungefähr 400 Jahre vor christlicher Zeitrechnung geboren war, wegen des ihm zur Last gelegten Verbrechens falscher Münze vertrieben, wandte sich dann zu den Zeiten des Sokrates und Plato nach Athen, u. wurde einer der eifrigsten Schüler des Antisthenes, des Stifters der cynischen philosophischen Secte. Er lebte ganz der Natur gemäß, verachtete alle Thorheiten, die die bürgerliche Gesellschaft eingeführt hatte, entbehrte als wahrer Weiser alle Bedürfnisse des Luxus, griff Laster und Fehler überall mit der größten Unbefangenheit an, und entfernte sich, da er die strengste Mäßigkeit und Enthaltsamkeit unaufhörlich empfahl, nicht nur ganz von der Lebensart der üppigen und ausschweifenden Athenienser, sondern machte sich selbst die philosophischen Secten zu Feinden. Man kann nicht läugnen, daß er seine Strenge zu weit und bis ins Sonderbare trieb: jedoch darf man darum den lächerlichen Erzählungen von seiner schmutzigen Kleidertracht, von seiner höchst unsittlichen Lebensweise, und von seiner beständigen Wohnung unter freiem Himmel, oder in einem Fasse keinen Glauben beimessen; denn sie widerlegen sich schon selbst da durch, daß es sich gar nicht denken läßt, wie ein so unerträglicher und verworfener Mensch die Achtung ganz Griechenlands viele Jahrhunderte hindurch behaupten konnte; und selbst viele Anekdoten, die sie von ihm erzählen, charakterisiren ihn, wenn man sie aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet, als einen verehrungswürdigen Mann. Als Alexander ihn besuchte, und ihm eine Gnade anbot, soll er (der nach der gemeinen Erzählung damals gerade im Fasse saß) von ihm nichts weiter verlangt haben, als daß er ihm aus der Sonne treten möchte. Er soll, als er einen Knaben mit der Hand Wasser schöpfen sah, sogleich sein Trinkgeschirr, als etwas überflüssiges zerbrochen haben; seine Kleidung soll bloß in [349] einem Mantel bestanden haben, u. s. w. In spätern Jahren hatte er das Unglück, nach einem erlittenen Schiffbruche von Seeräubern ergriffen und zu Creta als Sclav an einen Korinther verkauft zu werden, in welcher Sclaverei er lange lebte, auch in einem hohen Alter gestorben sein soll.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 1. Amsterdam 1809, S. 349-350.
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