Die Mysterien

[204] Die Mysterien. aus dem Griech. Man bezeichnet mit diesem Worte den Inbegriff von Geheimnissen, in deren Besitz nur eine gewisse Classe von Menschen ist, die sich ihrer vorher durch feierliche Einweihungen würdig gemacht hat. Ohne Prüfungen und Einweihungen waren von jeher bei allen Volkern keine Mysterien denkbar; und selbst bei einigen wilden Amerikanischen Volkerstämmen mußten diejenigen, welche in den Orden der Zauberer und Wahrsager aufgenommen zu werden wünschten, sich langwierigen und harten Prüfungen aussetzen, ehe sie für tüchtig befunden wurden. Ueber die wahrscheinliche Absicht bei der Errichtung der Mysterien hat man sich nie recht vereinigen können, indem sie Einige in der Politik der alten Gesetzgeber suchen zu müssen glauben, Andere aber die ganze Anstalt für ein Mittel ansehen, wodurch bei den Heiden die Erkenntniß eines einzigen wahren Gottes erhalten und die Irrthümer der heidnischen Volksreligion den Eingeweihten aufgedeckt worden wären. Bei einigen Mysterien, z. B. bei den großen Eleusinischen Geheimnissen, war dieß letztere der Fall: aber die kleinern und andere, z. B. die Orgien, welche dem Bacchus zu Ehren gefeiert wurden, hatten unläugbar eine ganz andere Absicht; sie waren nichts anders als dramatische Vorstellungen der Thaten der Götter und der Fabeln und Sagen, welche die Dichter von ihnen erzählten. Die Eingeweihten sollten durch die Anschauung dieser sinnlichen Darstellungen, bei welchen nichts gespart war, was die Zuschauer erschüttern konnte, in dem Glauben an die Götter befestigt und zur Aufrechthaltung der Volksreligion ermuntert werden. Das heilige Stillschweigen, welches den Eingeweihten zur nothwendigen Bedingung gemacht wurde, reitzte eine zahllose Menge Menschen aus allen Ständen, sich in die Mysterien aufnehmen zu lassen; und daher war bei den[204] Griechen und späterhin bei den Römern die Zahl der Eingeweihten sehr groß. Die Einführung des Christenthums konnte die Ausübung der Mysterien nicht nur nicht verhindern, sondern ward sogar zufällige Veranlassung zur Vermehrung derselben, weil sich mehrere heidnische Philosophen zu zeigen bemühten, daß die meisten Lehren des Christenthums schon ehemahls in den Mysterien mitgetheilt worden wären, und daß man sich also aus allen Kräften bemühen müßte, diese heiligen Orden aufrecht zu erhalten. Außer den großen und kleinen Eleusinischen Geheimnissen kannte man damahls im Römischen Reiche die Mysterien der Egyptischen Göttin Isis, des Persischen Gottes Mithras und anderer nicht Römischen Gottheiten. Alle unterscheiden sich durch die verschiedenen Arten von Prüfungen und Einweihungen, welche dabei erforderlich waren, kamen aber darin überein, daß den Eingeweihten gewisse Wahrheiten mitgetheilt und Regeln und Sätze aus heiligen Büchern bekannt gemacht wurden, welche dem Volke verborgen bleiben sollten. Daß bei der nächtlichen Feier dieser Mysterien zuweilen Ungebührnisse vorgefallen sein mögen, ist ein denkbarer Fall; daß aber die Versammlung der Eingeweihten ein Schauplatz der schändlichsten Ausschweifungen und emporendsten Gräuelthaten gewesen sei, wie einige Kirchenväter glauben, und deßwegen den Teufel zum Vorsteher aller Mysterien machen, ist unerweislich und deßwegen unglaublich, weil die würdigsten Männer des Alterthums mit der größten Achtung von den Mysterien sprechen. – Die großen Revolutionen, welche im zweiten und folgenden Jahrhunderten nach Chr. Geb. das Römische Reich erschütterten, zogen endlich auch den Verfall der Mysterien herbei. Sie verstummten nach und nach, gleich den Orakeln; und unter allen waren die großen Eleusinischen Geheimnisse die letzten, von welchen man noch unter der Regierung des Kaisers Justinian Spuren antraf.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 204-205.
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