Jerusalem, Wilhelm

[296] Jerusalem, Wilhelm, geb. 1854 in Drenic, Reg.-Rat, Privatdozent und einer. Gymnasialprofessor in Wien.

J. verlangt von der Philosophie, sie solle wie die Wissenschaft aktivistisch sein, dem Leben dienen und in kritischer Weise – als kritischer Empirismus und kritischer Realismus – der Auffassung des gesunden Menschenverstandes [296] gerecht werden. Die Metaphysik ist durchaus zulässig. J. ist ein entschiedener Gegner der Richtung Brentanos, ferner des erkenntnistheoretischen Idealismus (u. Apriorismus) und der »reinen« Logik. Er bekennt sich zum Psychologismus und betont überall das Genetische, so daß seine Philosophie – trotz ihrem Dualismus und Theismus – einen evolutionistischen Charakter hat. Dies zeigt sich zunächst in seiner Psychologie. Die psychischen Vorgänge sind ein reines, substratloses Geschehen (Aktualismus), welches mit dem physischen in Wechselwirkung steht. Die biologische Auffassung des Seelenlebens berücksichtigt überall die Bedeutung der psychischen Vorgänge für die Lebenserhaltung, so in der Theorie der Aufmerksamkeit, der Gefühle, der »typischen Vorstellung« usw. Die Psychologie muß die Rolle von Gefühl und Willen beachten, also voluntaristisch (im weiteren Sinne) sein. Neben der Assoziation ist die Aktivität des Denkens und Wollens zu berücksichtigen. J. nähert sich in psychologischer Beziehung besonders Ebbinghaus, Höffding und Wundt.

Die Logik: faßt J. (gegen Husserl, Cohen u. a.) psychologisch, biologisch, genetisch, empiristisch, pragmatisch auf. Die Aufgabe der Logik ist die »Erforschung der allgemeinen Bedingungen objektiver Gewißheit und Wahrscheinlichkeit«. Sie hat zu untersuchen, »wieviel allgemeine und bewährte Erfahrung in jeder einzelnen Erfahrung enthalten ist«. Sie hat keine apriorischen Gesetze aufzustellen, denn nur das in der Erfahrung Bewährte hat logische Gültigkeit. Auch die Denkgesetze sind empirischen Ursprungs. Eine wichtige Rolle spielt (wie nach Mach) das Prinzip der Denkökonomie. Absolute Wahrheiten, »Wahrheiten an sich« gibt es nicht, Wahrheit selbst ist schon eine Beziehung zwischen zwei Seiten des Urteils. Ursprünglich ist ein Urteil wahr, wenn es »zweckentsprechende Maßnahmen zur Folge hat«. Wahrheit heißt hier also »Förderlichkeit der Maßnahmen«. Die Überzeugung befestigt sich (beim »Urteilen auf Vorrat«), daß die Verwertbarkeit der Urteile wächst, je mehr sie den Tatsachen entsprechen, d.h. wenn die in ihnen vorgenommene Formung und Objektivierung den wirklichen Vorgängen so entspricht, daß Voraussagen, die sich auf diese Urteile stützen, tatsächlich eintreffen. J. bekennt sich ausdrücklich zum Pragmatismus (vgl. James). Daneben ist auch der soziale Faktor der Wahrheit und des Erkennens zu berücksichtigen (»Soziale Verdichtung« usw.).

J. gibt eine »Introjektionstheorie« des Urteils. Das Urteil ist keine Assoziation, sondern ein abschließender Akt, dessen Funktion ein Gliedern, Formen, Objektivieren ist, eine Deutung des Wahrgenommenen nach unseren eigenen Willenserlebnissen (vgl. G. Gerber). Im Urteil wird der Vorstellungsinhalt »als etwas Selbständiges, von mir unabhängig Existierendes« hingestellt: er wird zu einem »Kraftzentrum«, welches nach Analogie unserer eigenen Willenshandlungen wirksam ist. Die Urteilsfunktion ist die sprachlich formulierte »fundamentale Apperzeption«, vermöge der wir unseren eigenen Willen in die Dinge hineinlegen und sie als Subjekte wie wir deuten. Aus der Urteilsfunktion gehen unsere Denkmittel und Erkenntnisformen hervor, immer aber auf Grund der Erfahrung, auf der sogar die Mathematik beruht. In symbolischer [297] Weise erkennen wir vermittelst des Urteils die Eigenschaften und Relationen der Dinge selbst, die nicht bloß Erscheinungen sind, sondern unabhängig von uns existieren. Der Idealismus ist eine »Hypertrophie« des Erkenntnistriebes, der, aus biologischen Wurzeln erwachsend, zum funktionellen Bedürfnis wird: er ist unhaltbar, schon wegen der Unmöglichkeit, das fremde Ich und Bewußtsein als Inhalt meines, des Erkennenden, Bewußtseins anzusehen (gegen K. Heim u. a.).

Die Ethik muß die Entwicklung der sittlichen Anschauungen untersuchen, ferner psychologische Analyse treiben und endlich Normen aufstellen (als »Philosophie des Wollens«). Die moralische Beurteilung ist »die Wertschätzung einer sozial bedeutsamen Leistung«, wobei allmählich die Gesinnung in den Vordergrund rückt. Der Gesamtwille hat die Förderung des Gemeinwesens zum Ziel. Neben dein »sozialen« gibt es ein »individuelles« Gewissen: ersteres geht auf die »Menschenpflicht«, letzteres auf die »Menschenwürde«. Gegenstand der Soziologie ist »die zur Einheit zusammengeschlossene Menschengruppe«. Die Ästhetik muß genetisch und biologisch sein. Das ästhetische Genießen ist eine Art von »Funktionslust«, d.h. »eine Freude, die aus der Betätigung verschiedener psychischer Funktionen hervorgeht«. Schön ist alles, was unsere ästhetische Funktionslust auszulösen geeignet ist (vgl. Döring). Oft ist die Schönheit nicht bloß Ursache, sondern Wirkung der Liebe zum Gegenstand. Wie alles Erkennen und Deuten beruht auch die Religion auf der Urteilsfunktion und fundamentalen Apperzeption, und zwar in deren Anwendung auf das Weltganze. Gott wird uns dann zum Subjekt, dessen Prädikat die Welt ist, zum unendlichen Willen, dessen Kraftäußerung eine konstante ist. »Dieser mächtige Wille ist der Urgrund für Materie und Geist, die Naturgesetze sind seine Gesetze, er hat sie gegeben, wie der Psalmist sagt, und er selbst bricht sie nicht.«

SCHRIFTEN: Zur Reform des Unterrichts in der philos. Propädeutik, 1885. – Über psychol. Sprachbetrachtung, 1886. – Laura Bridgman, 1890; 2. A. 1891. – Grillparzers Welt- und Lebensanschauung, 1891. – Die Urteilsfunktion, 1895. – Die Psychologie im Dienste der Grammatik und Interpretation, 1896. – Glaube und Urteil, Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. Bd. 18. – Über psychol. u, log. Urteilstheorien, l. c. Bd. 21. – Ein Beispiel von Assoziation durch unbewußte Mittelglieder, Philos. Studien, Bd. X. – Die Aufgaben des Mittelschullehrers, 1903; 2. A. 1911. – Lehrbuch der Psychologie, 4. A. 1907. – Einleitung in die Philosophie, 4. A. 1909. – Gedanken und Denker, 1905. – Der kritische Idealismus und die reine Logik, 1905. – Kants Bedeutung für die Gegenwart, 1904. – Wege u. Ziele d. Ästhetik, 1906. – Unsere Mittelschule, 1907. – Soziologie des Erkennens, Zukunft Nr. 33, 1909, u. a. – Vgl. L. EGGER. D. Problem d. Urteilsfunktion. 1896-98.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 296-298.
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