Jerusalem

[401] Jerusalem, die Hauptstadt von Palästina, die heilige Stadt, wo unser Heiland gelehrt und geblutet, wo David zur Harfe sang und Salomo herrschte, wo sich dem einzigen Gotte der prachtvollste Tempel erhob, wo Zions Feste im heiligen Glanz leuchtete, Jerusalem, einst von einer Million Menschen bevölkert, deren Anzahl sich an hohen Festen noch verdreifachte, gleicht jetzt einem großen Kirchhofe voll zerstreuter Trümmer und liegt wüst und leer, mitten in einer steinernen Landschaft. Seine Straßen sind[401] todt und öde; nur selten unterbricht die Stille der Hufschlag eines türkischen Rosses. Auf dem ungeheuern Raume, mitten zwischen den weitläufigen Ruinen wohnen nur 39,000 Menschen, worunter 20,000 Christen aller Confessionen, 7000 Türken und 3000 andere Religionsverwandte. Die Stadt zählt 56 christl. Klöster, viele Moscheen, Synagogen und Bethäuser. Jährlich wallfahrten hierher zu der Grabes- und Kreuzigungsstätte des Heilands gegen 2000 Pilgrime, die meistens in dem großen Franziskanerkloster des Erlösers Pflege und Unterkunft finden Nur gegen eine bedeutende Abgabe an Geld ist es ihnen gestattet, die heiligen Oerter zu besuchen und dort ihre Andacht zu verrichten; denn der Pascha von Damaskus, in dessen Gebiete J. liegt, bezieht dieselbe als eine Revenüe. So liegt das gestürzte, mehrmals zerstörte, von seinem in alle Welt zerstreuten Volke verlassene Zion in trauriger Umgebung am Abhange eines Basaltfelsens, selbst von Felsen umschlossen. Alte Mauern umzingeln die einst so prächtige Stadt; hier und da ragen aus den niedrigen, flach gedeckten Häuserreihen Minarets und Moscheen, Tempelkuppeln, Klosterthürme, Cypressen- und Aloegebüsche. Aber über Alles scheint der Schleier einer tiefen Trauer gebreitet, einer Trauer aus jener Zeit, wo der Vorhang des Tempels zerriß, die Erde bebte, die Sonne sich verfinsterte und der Gekreuzigte seine Seele dem Vater empfahl. Wie einförmig, zur Melancholie stimmend ist eine Wanderung durch diese engen, winkeligen Gassen, über welche während des Tages zum Schutze gegen die Sonnenhitze Tücher gespannt werden, über diese schmutzigen Bazars, an den armseligen, vom Staube der ungepflasterten Straßen umwirbelten Kramladen vorüber. Diese so traurig belebte Einöde macht noch einen tiefern, schmerzhaftern Eindruck, als Palmyra's ganz menschenleere, weite Ruinen. Christen und Juden, von den Türken gehaßt und bedrückt, wandeln freudelos umher, kenntlich an dem blauen Turban, welchen ihnen das Gesetz vorschreibt. Ihre Frauen zeigen sich nur tief verschleiert[402] und nur die fremden Pilgerscharen bringen auf kurze Zeit Leben in die Stadt. Hier aber findet der Christ noch die ihm ewig heiligen Stellen seiner Religionsgeschichte. In der Stadt wie in der Umgebung erblickt man noch eine Menge Gräber und Denkmäler der christlichen Vorzeit, die selbst von den Muhamedanern heilig gehalten werden. Außerhalb der Stadtmauern sieht man ringsum nichts als dürre, blaue Berge, nackte Felsen. Weiter im Osten liegt die sonstige Palmenstadt Jericho, zwei Stunden südl. Bethlehem mit seinen Merkwürdigkeiten; 1½ St. westl. das griech. Kloster des heil. Johannes d. Täufers mitten in der Wüste, wo er gepredigt, und das Haus der heil. Elisabeth; eine halbe St. vom Oelberge Bethanien, das Grab des Lazarus, nördlich nach Emmaus hin die Grotte des Propheten Jeremias, und so auch in der nächsten Umgebung die Trümmer der Grabmäler der Könige und Richter in Israel. An all' diesen heiligen Stätten wohnen Christen, welche Rosenkränze und Reliquien an die fremden Pilger verkaufen; was jedoch nur gegen eine schwere Abgabe an die Türken gestattet ist. Jerusalem wurde vielmal zerstört; zuerst 586 vor Chr., als die Juden in die babylon. Gefangenschaft geführt wurden; später, im J. 70 unserer Zeitrechnung, von wo das israelitische Volk in alle Länder der Erde zerstreut ist; zum dritten Male 118 unter Kaiser Hadrian, der die Stadt zwar wieder aufbaute, sie aber den Juden gänzlich verschloß. Später wurde sie von Persern, Arabern, Seldschuken, Christen und Türken vielmal erobert; hier behauptete sich 100 Jahre lang in Folge der Kreuzzüge ein christl. Königreich – und hier herrscht jetzt der Stellvertreter des Pascha's von Damask, und die Wiege des Christenthums befindet sich in den Händen von Barbaren.

J.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 5. [o.O.] 1835, S. 401-403.
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