Kabbala

[309] Kabbala (Kabbalah, Überlieferung), jüdische Geheimlehre und Mystik, enthält Elemente, die bis in die vorchristliche Zeit reichen (Spekulationen über die Engel, den Thron Gottes, den »Schnee« um denselben, den »Metathron« usw.), ist aber erst infolge des Einflusses des Neuplatonismus und der pythagoreisierenden Zahlensymbolik und nicht vor dem 9. Jahrhundert entstanden (das Buch Jezirah = Buch der Schöpfung), im Buche Sohar (Zohar, Glanz) um 1300 wohl durch den spanischen Juden Moseh ben Sehm Tob de Leon (auf Grundlage von Lehren Isaaks des Blinden, seiner Schüler und verschiedener Gegner des Maimonides) zusammengefaßt und von anderen kommentiert und fortgesetzt (Isaak Luria, gest. 1572; Horwitz, gest. 1622). Das Buch Jezirah erschien hebräisch 1562, lateinisch 1642, deutsch 1894. Das Buch Sohar erschien 1558, 1560, 1623, 1858 u. ö., lateinisch 1684. Artis Cabbalisticae scriptores, 1587.

Die Kabbala weist die Einflüsse der griechisch-alexandrinischen Philosophie, des Neuplatonismus, Neupythagoreismus und Gnostizismus auf. Ihre Lehre ist eine emanatistische: Die geistige und die sinnliche Welt geht durch Ausstrahlung aus dem göttlichen Einen hervor, durch eine Art Selbstschöpfung, Selbstoffenbarung desselben. Gott ist das Unendliche, das[309] »En-Soph«, das unbegrenzte, eigenschaftslose »Nichts«, das anfangs alles war, das Urlicht, das alles erfüllte, das Verborgene, der »Alte der Tage«. Um sich zu offenbaren, setzt er die Welt aus sich heraus; sie geht aus ihm hervor, indem sich das Urlicht gestaltet und nicht gestaltet, indem es in alles hineinstrahlt und doch eins bleibt. Es beschränkt sich selbst; dadurch entsteht ein leerer Raum, in welchen das Urlicht die Welt (bzw. die Welten) hineinstrahlt. Die Vermittlung zwischen Gott und der sinnlichen Welt bilden die geistigen Kräfte, welche von Gott ausstrahlen, bzw. aus dem »Adam Kadmon«, dem himmlischen Urmenschen und Urbild des irdischen Menschen, dem Sohne Gottes. Es gibt zehn solcher Kräfte oder Urzahlen, »Sephiroth«, Lichtkreise, welche durch die Selbstbeschränkung des göttlichen Lichtes entstehen; die drei ersten Sephiroth sind »Krone«, »Weisheit« und »Verstand« (logos). Die Sephiroth bilden zusammen die Welt »Aziluth« (Azilah), die auch als der Körper des Adam Kadmon bezeichnet wird. Die anderen aus dem Ensoph emanierenden Welten sind »Beriah« (die Welt der, als Geister gedachten, Ideen), »Jezirah« (die Welt der Seelen), »Asijjah« (die Welt der Sinneswesen). Der Mensch gehört den drei letzten Welten zugleich an, der zweiten durch die Vernunftseele (neschama), welche unsterblich ist, der dritten durch den Geist (ruach), der vierten durch, den Lebenshauch (nephesch). Es gibt eine Präexistenz und eine Seelenwanderung.

Die Kabbala hat auch auf eine Reihe christlicher Philosophen einen Einfluß ausgeübt, so auf Raymundus Lullus, die Grafen Pico von Mirandola, Marsilius Ficinus, Reuchlin, Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, H. More, St. Martin u. a.

Vgl. A. FRANCK, Systeme de la Kabbale, 1842; deutsch, 1844. – Au. JELLINEK, Beiträge zur Geschichte der Kabbala, 1852. – Auswahl kabbalistischer Mystik, 1858. – NEUMARK, Gesch. d. jüdischen Philos. I, 1.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 309-310.
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