Ravaisson-Mollien, Felix

[581] Ravaisson-Mollien, Felix, geb. 1813 in Namur, 1839 Professor in Rennes, 1853 Generalinspektor der »instruction supérieure«, gest. 1900 in Paris.

R. ist von Aristoteles, Plotin, Leibniz, Kant, Schelling, M. de Biran u. a. beeinflußt und lehrt einen »spiritualistischen Realismus«. Er ist ein Gegner des Sensualismus und des Positivismus. Schon in der Assoziation der Vorstellungen wirkt die Vernunft als Einheitsprinzip, der »reine Geist, welcher ganz Tätigkeit und eben dadurch vollendete Einheit, ganz Dauer und Erinnerung ist, der immer allem und sich selbst gegenwärtig ist« (Die französ. Philos., S. 173; vgl. Bergson). Das oberste A priori unseres Geistes ist das »Bedürfnis nach Abgeschlossenheit und Vollendung«. Diesem Bedürfnis entspringen die Kategorien (Ursache, Ziel usw.). Durch innere Intuition finden wir in uns als Triebfeder des ganzen Seelenlebens das Denken oder die geistige Tätigkeit, welche sich aus einem Zustande der Zerstreutheit wieder sammelt und durch einen Prozeß der Wiedervereinigung zur Einheit eines Bewußtseins aktuell wird als ein »schöpferisches Prinzip«.

Die Methode der Metaphysik: liegt nun »in dem unmittelbaren Bewußtsein, in der Reflexion auf uns selbst und dadurch auf das Absolute, an dem wir Teil haben«. Nach dem Vorbild unserer inneren Organisation verstehen wir alle belebten Dinge, nämlich als Wesen mit einem Prinzip der Selbsttätigkeit, ja alle Dinge, denn die »Kraft« ist ein Gegenstück des Wollens und Denkens, ein Analogen unserer Aktivität und Zielstrebigkeit. Nur scheinbar beherrscht[581] ein notwendiges Verhängnis die Welt, das Wahre ist die Spontaneität und Freiheit. Alles beruht auf der »Entfaltung eines Strebens zur Vollkommenheit, zum Guten und Schönen«, alles gehorcht mit freiem Willen einer göttlichen Vorsehung. »Alles ist gesetzlich und gleichförmig und doch in seinem tiefsten Grunde ein Wollen.« In Gott ist der Wille identisch mit der Liebe. Im Körper, der (wie Leibniz sagt) ein momentaner Geist ist, ist ein unbewußtes Streben. Die Natur ist gleichsam eine »Refraktion des Geistes«. Alles Sein ist Denken und damit Wille. Die Materie ist nur die tiefste Stufe, der »Schatten« des Seins. Die wahre Existenz ist die geistige; sein heißt leben, leben heißt denken und wollen. Die Freiheit ist das letzte Prinzip der Dinge. Alles endliche Sein ist das Resultat einer freien Willensbestimmung, durch welche das Absolute seine allmächtige Wirkungsfähigkeit beschränkt hat.

SCHRIFTEN: Essai sur la métaphysique d'Aristote, 1837-46. – De l'habitude, 1838; auch in Rev. de mét. et de mor., 1894. – Rapport sur le stoicisme, 1851. – La philosophie en France au XIXe siècle, 1868; 3. éd. 1889; deutsch 1889 (Hauptschrift). – Morale et métaphysique, Rev. de mét. et de mor., 1893. – Testament philosophique, l. c., 1901. – Vgl. BOUTROUX, La philos. de F. R., Rev. de mét., 1900. – BERGSON, Notice sur la vie et les uvres de F. R., in: Sciences et trav. de l'Acad. des scienc. moral. et polit., 1904, I.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 581-582.
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