Weisse, Christian Hermann

[809] Weisse, Christian Hermann, geb. 1801 in Leipzig, studierte daselbst, 1832, wurde a. o. Professor in Leipzig, lebte 1837-47 als Privatmann bei Leipzig, wurde 1847 o. Prof. in Leipzig, gest. daselbst 1866.

W. ist von Hegel ausgegangen, hat sich aber bald von ihm entfernt und ist, von Schelling, J. Böhme u. a. beeinflußt, gleich J. H. Fichte, Wirth, Ulrici u. a., zu einem spekulativ-christlichen Theismus übergegangen. Die Metaphysik ist nach W. die »Wissenschaft des reinen Denkens«. Gegenüber Hegels Panlogismus betont nun W., daß durch das reine Denken nur das Logische und dessen Formen, d.h. bloße Möglichkeiten erkannt werden, während zur Erfassung der Wirklichkeit sinnliche und geistige Erfahrung notwendig ist. Die Metaphysik zerfällt in die Lehre vom Sein, die Lehre vom Wesen und die Lehre von der Wirklichkeit. W. gibt eine ausführliche Kategorienlehre. Unter den Kategorien versteht er Begriffe, die die Vernunft »durch sich selbst« hat, und die sie in den Weltinhalt schon unbewußt und unwillkürlich hineinträgt. [809] Sie sind die Formen alles Daseienden, haben eine von aller subjektiven menschlichen Auffassung unabhängige Geltung, als Inbegriff logischer Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Die Kategorientafel lautet: I. Sein: Kategorien der Qualität (Sein, Dasein, Unendlichkeit); Kategorien der Quantität (Zahl, Größe, Verhältnis): Kategorien des Maßes (Individuum, Art, Gattung; spezifische Größe, Regel, Gesetz, Form, Inhalt). II. Wesen: Identität, Einheit, Zweiheit, Gegensatz, spezifische Dreiheit; Ausdehnung, Ort, Kaum; Schwere, Polarität, Kohäsion, Chemismus. III. Wirklichkeit: Kategorien der Reflexion (Substantialität, Möglichkeit, Kausalität, Wirklichkeit, Wechselwirkung, Notwendigkeit). Kategorien des Zeitbegriffs (Bewegung, Dauer, Zeit); Kategorien der Lebendigkeit (Teleologie, Organismus, Leben, Freiheit). Raum, Zahl, Zeit sind von zentraler Bedeutung und von objektiver (transzendenter) Geltung. Der Raum ist die Urqualität des Seienden, durch deren Gesetztsein das Sein zur Wesenheit, das Seiende zu Wesen oder Dingen wird. Im Zeitbegriffe ist das Sein zur Absolutheit des absoluten Prozesses gesteigert. Das Umsetzen der Zukunft in Vergangenheit ist das unablässige Tun der Zeit, welche die »absolute Formbestimmung alles wahrhaft Seienden« ausmacht. Nichts ist ferner wirklich, was nicht in einem teleologischen Prozesse sein Dasein hat. Die Zweckbeziehung ist die Wahrheit aller Kausalbeziehung, diese selbst ist teleologisch. Die Wirklichkeit ist »Ursachlichkeit«, besteht im »Prozeß der Kausalreihe«, ist das Wirken einer Substanz auf die andere. »Wirklich ist nur, was wirkt.« Die wahre Wirklichkeit ist die kategorial richtig bestimmte, vernünftige Wirklichkeit.

Notwendigkeit liegt nur im Kategorialen, Logischen. Auch Gottes Wille, der an sich frei ist, setzt die logischen Möglichkeiten voraus. Die Wirklichkeit selbst aber ist ein Produkt freien göttlichen Schaffens (auf Grund eines ewigen Schauens und Gestaltens), wobei Gott als Dreieinigkeit von Vernunft, Gemüt und Wille, als »Ursubjekt«, lebendiger, persönlicher Gott gedacht ist, von dem die Welt abhängig bleibt, wenn sie auch in den Individuen und Persönlichkeiten ihre Selbständigkeit hat. Die Persönlichkeit ist in ihrem Willen frei. Das Ziel des Kampfes Gottes mit dem Weltlichen ist die Herstellung des Reiches Gottes, wie Jesus, die Menschwerdung des in der Welt wirksamen Gottes, es verkündigt.

Die Ästhetik definiert W. als die »Wissenschaft von der Idee der Schönheit«. Schönheit ist Erscheinung und Form der Dinge. Eine Bedingung des Komischen ist das Häßliche, das »unmittelbare Dasein der Schönheit«, das Schönheitsfeindliche. Die Komik ist das »Lügenstrafen einer angepaßten Hoheit und Absolutheit«.

Schüler W.s sind J. G. F. Billroth, R. Seydel, G. Portig u. a.

Schriften: Über den gegenwärtigen Standpunkt der philos. Wissenschaften, 1829. – System der Ästhetik, 1830. – Über d. Verhältnis des Publikums zur Philos. in d. Zeitpunkt von Hegels Abscheiden, 1832. – Die Idee der Gottheit, 1833. – Grundlage der Metaphysik, 1835. – Evangelische Geschichte, 1838. – Die Evangelienfrage, 1856. – Das philos. Problem der Gegenwart, 1842, – In welchem Sinne die deutsche Philos. jetzt wieder an Kant sich zu orientieren hat, 1847. – Philos. Dogmatik, 3 Bde.[810] 1855-62 (Hauptwerk). – Kleine Schriften zur Ästhetik u. ästhet. Kritik, hrsg. von B. Seydel, 1867. – Psychol. u. Unsterblichkeitslehre, hrsg. von R. Seydel, 1869. – System der Ästhetik, hrsg. von R. Seydel, 1871 u. a. – Verzeichnis der Schriften W.s in: Zeitschr. f. Philos. Bd. 55, 1869. – Vgl. R. SEYDEL, C. H. W., 1866.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 809-811.
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