2. Sparta

[91] »Weh' euch, ihr allen Sterblichen verhaßteste

Bewohner Lakedämons, falschen Rates voll,

Der Lügen Meister, Mißgeschick ersinnende,

Geschmeidige, unwahrhafte, doppelzüngige

Unholde! Fälschlich ehret euch das Griechenvolk.

Denn wessen seid ihr rein? Befleckt nicht Mord auf Mord,

Nicht schändlicher Gewinn euch? Sprach nicht anders stets

Die Zung', und anders dachte das Verräterherz? –

Verderbet!« –


So ruft die Andromache des Euripides (V. 446 ff.) ihren Jammer über Sparta26 in die Luft, und attische Redner verbreitenA7 sich weiter in diesem Sinne. Es ist das unvermeidliche Schicksal des nichtschreibenden, kurzredenden Sparta gewesen, daß Athen, welches vorzugsweise in hellenischen Dingen die Feder führte, die Reputation des Todfeindes im Ganzen festgestellt hat. Schon dem ältesten umständlichen Zeugen über Sparta, dem Halikarnasseer Herodot, wird ja vorgeworfen, daß er von seinem langen athenischen Aufenthalt her den Spartanern zu abgünstig geworden; dagegen hält sich Thukydides in einer hohen, fast unbegreiflichen Objektivität, und endlich hat es auch athenische Konvertiten gegeben, welche Sparta verherrlicht haben; im VII. Jahrhundert Tyrtäos, den frühesten, im V. und IV. Jahrhundert Xenophon, den eifrigsten und einflußreichsten von allen27.

Die Größe dieses merkwürdigen politisch-sozialen Gebildes ist eine doppelte: Sparta an sich war gewissermaßen die vollendetste Darstellung der griechischen Polis, zugleich aber bildete es das Gegengewicht zu dem ganzen übrigen, teils anders gearteten, teils ganz anders entwickelten Griechenland, und da ihm in der großen Krisis alles griechischen Lebens zu Ende des V. Jahrhunderts der Sieg geblieben, den es dreißig Jahre hindurch schonungslos genoß, so war die Blendung eine große und allgemeine und überdauerte auch das nachherige Unglück. Je tiefer das wirkliche Sparta sank, desto mehr wurde das frühere dann verklärt. Dieser Staat war eben noch mehr beneidet als verabscheut gewesen und manche andere Polis wäre gerne auch so geworden, hatte sich aber[91] andere Kräfte, nämlich Demokratie und Individualismus über den Kopf wachsen lassen.

Dasjenige Dorervolk, welches bei der großen Wanderung, etwa im XI. Jahrhundert in das Eurotastal eindrang, scheint zuerst die vorgefundenen und besiegten Achäer, soweit dieselben nicht auswanderten, und andere Völkerreste (Leleger, Minyer usw.) glimpflich behandelt zu haben28. In der Folge dann, unter sich in gefährlichem Zwist, von den Besiegten vielleicht bedroht, tut es im IX. Jahrhundert den mächtigen Ruck29, der ihm selbst eine gewaltig feste Organisation, den Achäern eine dauernde Knechtschaft bereitete. Diese Bewegung wird personifiziert in Lykurg; in seine Gestalt, wie für Athen in die des Theseus, wird allerdings eine Reihe von Entwicklungen aufsummiert, wovon Vieles schon handgreiflich erst in späte Zeiten fällt, weil es Änderung des Anfänglichen ist. Die antike Anschauung macht sich hierüber nicht die mindeste Sorge: ihr Lykurg ist Sparta selbst mit all seinen Einrichtungen und Lebensformen; vier Jahrhunderte hindurch tritt er handelnd und schaffend bei den verschiedensten Anlässen auf. Ja es ist schon öfters gefragt worden, ob er überhaupt ein menschliches Individuum gewesen und nicht eher eine göttliche Gestalt30. Daneben aber fehlt es nicht an einem umständlichen irdischen Lebenslauf, und die Politiker seit Xenophon und Plato haben sich namentlich gerne in die Erfahrungen und Erwägungen des Gesetzgebers hineinversetzt. Man läßt ihn herumreisen bis Ägypten, ja bis Libyen und Indien und verfolgt sein vergleichendes Studium; namentlich sollte Kreta sein Vorbild gewesen sein31. Unleugbar fand sich hier einiges Wesentliche, das dann auch in Sparta wieder zu Tage tritt, weniger, weil in beiden Ländern die Herrschenden Dorer waren (denn der dorische Stamm hat anderswo ganz andere Verfassungen hervorgebracht), als weil beiderseits Wenige über zahlreiche Unterworfene herrschten.

Was es in der Regel kostete, damit eine Polis entstehe, wurde oben angedeutet. Spartas Erhebung kam aber die Unterworfenen ganz besonders teuer zu stehen. Man hat die Wahl zwischen allen Arten von Knechtung, Zernichtung, Verjagung. Eine Anzahl von Achäerstädten blieben bewohnt, ohne Zweifel jetzt als offene Orte, oder wurden von[92] den Dorern ausschließlich besetzt; die Wanderung durch die Ruinen der übrigen, die noch Homer blühend gekannt, mag der Leser an der Hand des Pausanias vornehmen32: »Hier lag einst Pharis, an jener Stelle Bryseä, wo noch ein Tempel des Dionysos aufrecht steht; am Meere lag Helos, gegründet von Perseus' jüngstem Sohne Heleios; hier ist noch ein Kult der Kore am Leben und in der Nähe ein Eleusinion; dort liegen Trümmer einer Achäerstadt, welche wohl Kyparissia hieß.« Es ist noch niemals gelinde zugegangen, wenn sich eine neue Macht bildete, und Sparta ist wenigstens wirklich eine solche geworden, im Verhältnis zu allem, was ringsum lebte; es hat es aber auch der ganzen gebildeten Welt auferlegen können, daß sie Kenntnis nehmen muß von ihm bis an den Abend ihrer Tage, so groß ist der Zauber eines mächtigen Willens selbst über späte Jahrtausende, auch wenn keine Sympathie dazu mithilft. Die Macht kann auf Erden einen hohen Beruf haben; vielleicht nur an ihr, auf dem von ihr gesicherten Boden können Kulturen des höchsten Ranges emporwachsen, Spartas Macht aber scheint fast nur um ihrer selbst und ihrer Behauptung willen auf der Welt gewesen zu sein, und ihr dauerndes Pathos ist die Knechtung der Unterworfenen und die Ausdehnung der Herrschaft an sich.

Den entscheidenden Hergang wird man wohl nicht anders denn als einen einmaligen und plötzlichen auffassen können. Das Dorervolk war stark genug um eine neue Landteilung, einen jener überall vorkommenden ἀναδασμοί (Aufteilungen) vorzunehmen und für sich das Meiste33 und Beste zu behalten, jene neuntausend Lose, auf welchen alle Rechte und Pflichten haften und welche in vollständiger Zahl als unveräußerlich erhalten bleiben sollten34. Die Unterworfenen – lauter Mithellenen – zerfielen in solche, die noch eigenes Land zu bauen bekamen (Periöken mit[93] 30000 Losen, tatsächlich einem schlechten Rest) und solche, welche das Land der Dorer bauen mußten (Heloten, je zu sieben Familien auf einem Dorerlose angesiedelt). Es war keine geringe Aufgabe, diese Masse in gleichmäßiger Abhängigkeit zu erhalten, während jener Jahrhunderte, da überall in Griechenland Tyrannis und Demokratie einrissen. Aber die Aufgabe wurde gelöst35, und der stärkste Beweis der unbedingten Gewalt der Dorer oder Spartiaten war, daß sie Periöken und Heloten in großer Masse in den Krieg nahmen, jene bis auf dreimal so zahlreich, als ihr eigener Auszug war, diese als Waffendiener und Träger der Vorräte, und zwar kam wenigstens im Feldzug von Platää (479 v. Chr.) sieben Heloten auf jeden einzelnen Spartiaten36. Gerne brauchte man diese Bestandteile des Heeres zu besonders gefährlichen Detachierungen37 und setzte sie überhaupt ohne große Bedenken sehr aus. Allerdings wäre es schon gefährlich gewesen, sie zu Hause zu lassen, wenn das herrschende Volk auszog, und insofern ist das Mitnehmen in den Krieg noch kein Beweis irgend eines Vertrauens. Die Periöken waren der gewerbtreibende Stand, den selbst Sparta nicht entbehren konnte, und durften außer ihrem Grund und Boden auch bewegliches Vermögen sammeln38. Wenn aber ihr Verhältnis zu den Herrschenden so dargestellt wird, als hätten sie sich des Schutzes des mächtigen Kriegerstammes erfreut39, so muß doch entgegnet werden, daß wenigstens laut athenischem Urteil kaum ein Unterschied zwischen ihnen und den Heloten obwaltete, und daß ihre Seelen nicht weniger geknechtet waren, als die von Sklaven; ihre überall zerstreuten Wohnorte hießen wohl noch Poleis, waren es aber nur dem Namen nach40. Und bei Anlaß der Verschwörung des Kinadon (397 v. Chr.)[94] war es unter den Periöken so gut wie unter den Heloten und den übrigen geringern Nebenklassen eine zugestandene Sache41, daß man die Spartiaten »gerne roh fräße«. – Auch in betreff der Heloten hat man schon einige gar zu herbe Züge der Überlieferung zu mildern gesucht, und es kann ja wohl sein, daß sie auf den Ackerlosen der Spartiaten, deren Anbau ihnen oblag, unter Ablieferung bestimmter Quoten des Ertrages reichlich zu leben hatten, auch hätte man schwächliche Leute schon im Kriege nicht brauchen können. Allein sie waren in einer vollkommenen Sklaverei, nur nicht in der von gekauften, sondern von Erbsklaven, und ihr oberster Eigentümer war nicht der spartanische Gutsherr, sondern der Staat. Wohl war ihnen Familienleben gegönnt, aber der Grieche hielt das Erzeugtsein in der Sklaverei für ein elendes Los. Die Spartiaten aber genossen nun den großen ökonomischen und moralischen Vorteil, daß der Sklavenkauf vermieden blieb42 und überließen sich einer konsequenten, durch keine Gemütlichkeit unterbrochenen Härte gegen diese ehemaligen Mithellenen, wie sie die sonstigen Griechen gegen ihre gekauften Skythen und Asiaten wenigstens nicht regelmäßig übten. Dem Heloten wurde seine Ehrlosigkeit nicht nur durch eine kenntliche Tracht, sondern durch alljährliches regelmäßiges Durchprügeln ohne Ursache und durch Lächerlichmachen in der Trunkenheit immer von neuem eingeschärft. Wenn aber einer »das sklavenmäßige Aussehen überragte«, so wurde er getötet und sein Gutsherr gestraft, weil er den Aufstrebenden nicht unten gehalten43. Und wenn ihrer überhaupt zu viele wurden, ließ man die sogenannte Krypteia gegen sie los, nämlich den nächtlichen Mord gegen so viele, als zweckdienlich war44. In einem kritischen Augenblicke des peloponnesischen Krieges (424 v. Chr.) wußte man die zweitausend tüchtigsten und freiheitsbegierigsten durch eine Arglist auszumitteln und ließ sie alle verschwinden45. Freilich waren sie in allen gefährlichen Zeiten unbequem, jeder Verräter, wie z.B. Pausanias, konnte ihnen Freiheit und Teilnahme am Staatsleben versprechen46, und sobald ein Feind in der Nähe erschien, liefen sie in Masse über, während die Dableibenden in die größte Gährung gerieten.

Auf dieser Grundlage hatte nun das Dorervolk sein neues Dasein aufgebaut, und zwar unter beständiger Beratung des delphischen Apoll47. Da der spätere Verkehr Spartas mit dem Orakel in Verruf gekommen war,[95] konnte sich die Sage bilden, schon Lykurg habe regelmäßig die Pythia bestochen, um ihre Gutheißung für seine Vorschläge zu erhalten48 – gewiß so irrig und frivol als möglich. Aber umsonst fragen wir: ließ man das, was in Sparta beschlossen war, nur in Delphi bestätigen? oder empfing man von Delphi selbständige Weisungen? Oder stak hinter dieser Frömmigkeit wesentlich nur der Vorteil der jeweiligen Lenker, den übrigen Spartiaten und selbst den Geronten manche ungelegene Rechenschaft verweigern zu können? Wie dem auch sei, das Verhältnis behauptete sich; Jahrhunderte hindurch gingen die regelmäßigen Boten der Könige, die sogenannten Pythier, zwischen Sparta und Delphi hin und her, und am Ende behält man eher die Überzeugung, daß Sparta durchaus der verlangende Teil war, und daß Delphi sich nicht aufdrängte, sondern sich zu Sprüchen erbitten ließ. Was aber die Phantasie der übrigen Griechen sich von dieser Intimität für ein Bild machte, war, ganz gewiß beiden Teilen gleichgültig und blieb außer Rechnung.

Alle griechischen Poleis legten der Verfassung, dem Nomos in Worten einen hohen Grad von Weihe und Heiligkeit bei (Vgl. S. 79 f.). Aber in Sparta heißen schon die einzelnen Gesetze Lykurgs ῥῆτραι d.h. heilige Satzungen des Gottes, Orakelsprüche (nicht Verträge, wie man sonst erklärt hat) und wenn wir nur wenige davon in der Überlieferung besitzen, so hängt dies daran, daß Lykurg – wer und was er auch gewesen – überhaupt keine schriftliche Verfassung und vollends, wie Plutarch49 bemerkt, keine politischen Schriften und Idealbilder wie Plato und Zeno, sondern einen lebendigen Staat hinterlassen hatte, den man völlig auf ihn bezog. Wenn es untersagt wurde, die Gesetze zu prüfen, wenigstens den Jüngern, so wird dies erst in später Zeit notwendig geworden sein; übrigens war man der Meinung, daß »Lykurgisch Erzogene« im Notfall die Gesetze auch im richtigen spartanischen Sinn würden umzubilden wissen. Der große Neugründer des Staates aber genoß nicht bloß, wie andere Gründer und Gesetzgeber von Poleis heroischen Kult, sondern göttlichen, mit Tempel und Opfern, und selbst damit war ihm, wie Aristoteles äußerte, noch nicht die gebührende Ehre erwiesen50.

Was man bei der großen Entscheidung, die wir, wie gesagt, glauben als eine einmalige auffassen und am ehesten ins IX. Jahrhundert versetzen zu müssen, von ererbten Einrichtungen beibehielt, und was damals Neues hinzukam, mag auf sich beruhen. Vor allem durfte hier weiterleben das heraklidische Doppelkönigtum, wie man es von der dorischen Wanderung her übernommen; politisch schwach schon durch[96] seine Zweiheit, mit gesonderten Zeremonien, Begräbnissen, Annalen usw., ohne Erlaubnis gegenseitiger Verschwägerung, vielleicht weil diese sonst zur Regel geworden wäre und lauter Verwandtenehen mit Aussicht auf Entartung der Rasse würde herbeigeführt haben51. Zugleich hielt das Königtum für den ganzen Staat das Prinzip der Erblichkeit aufrecht und machte es Ehrgeizigen schwer, nach der höchsten Gewalt zu streben. Unterstützt war es dabei von der Vorstellung einer erblichen kriegerischen Begabung52, worüber man freilich mit der Zeit an verschiedenen Herakliden allerlei Erfahrungen machte. Die politischen Befugnisse der Könige, wenn sie nicht im Felde standen, waren zu Hause bekanntlich gering und später fast auf Ehrenrechte beschränkt; einiger Königspomp trat erst bei ihrem Begräbnis ein, wie sie denn im Tode als Heroen galten.

Neben den Königen stand eine Gerusie, ein Rat der Alten von 28 Mitgliedern, vielleicht früher die eigentliche Macht im Staate, aber seit Einführung der Ephoren (von welchen im weitern die Rede sein wird) offenbar auf die sogenannten laufenden Geschäfte beschränkt. Ihre Wahlart ist nicht näher bekannt, und Aristoteles findet sie »kindisch« und tadelt, daß man sich um das Amt bewerben mußte. Andere Autoren, welche in Lykurg einen aus Reflexion schaffenden, unter verschiedenen Vorbildern auswählenden Staatsweisen sehen, sind voll Entzücken darüber, wie schön er die beschwichtigende Gerusie dem hitzigen Königtum beigemischt habe, als Hauptdamm gegen dieses, wie gegen eine etwaige Demokratie; man fand es schon sublim, daß in der Zahl 28 eine Heptas und eine Tetras liege53. Die periodische Volksversammlung endlich, an welcher sämtliche Dorer von 30 Jahren und drüber teilnahmen, billigte oder verwarf durch bloßen Zuruf, was Könige oder Gerusie vorbrachten; hatte der dorische Demos »das unrechte Teil« erwählt, so konnten jene sich dessen weigern und ihn heimschicken. Seines Gehorsams war man versichert durch die Komplizität des ganzen herrschenden Stammes gegenüber von den Unterworfenen.

Dies Volk ist nun vor allem ein stets kriegsbereites Heer, welches den Peloponnes in Untertänigkeit oder in Belagerungszustand hält und nach außen droht, so weit es kann. Zur Deutung der folgenden Ereignisse wird man aber noch eine große physiologische Tatsache zu Hilfe nehmen müssen, nämlich die außerordentliche Fruchtbarkeit der griechischen[97] Nation im VIII. und wohl noch im VII. Jahrhundert, ohne welche die massenhafte Aussendung von Kolonien gar nicht zu erklären wäre. Sparta mag der Vermutung nach zur Zeit seiner politischen Neugestaltung 9000 erwachsene Dorer gehabt haben, so daß jeder ein Los erhielt, ja man hatte eine Kunde, wonach es einmal eine Polis von 10000 (μυρίανδρος) gewesen wäre54. Wahrscheinlich wurden ihrer aber jetzt sehr viel mehrere, und die Familien mochten sich auf ihren Landlosen schon stark beengt fühlen. Warum sich nun nicht auf einen benachbarten Bruderstamm werfen, der sich nicht so kräftig konstituiert hatte und durch seine mildere Waltung gegen die vorgefundenen Bewohner ein beständiger Vorwurf, ja vielleicht eine Gefahr für Sparta war? Zwar gab es unter den verschiedenen Dorervölkern alte Friedensverpflichtungen, allein solche werden in der Regel nur erwähnt, wenn man ihrer spottet55, und ist nicht Kreta, welches lauter dorische Poleis hatte, das Land der beständigen wilden Fehde und des Raubes gewesen56? Nachdem man noch mit einigen unabhängigen Resten im Eurotastal (Amyklä usw.) aufgeräumt, wagte man den großen Schlag: während andere Hellenen Kolonien aussenden, überzieht Sparta Messenien.

Es sind die westlichen Nachbarn, ebenfalls Dorer, welche eine ältere Bevölkerung unterworfen hatten57, auf einem ungleich viel besseren, fruchtbarern Grund und Boden58. Als beim Ausbruch des sogenannten ersten messenischen Krieges (743-724 v. Chr.) jemand den König Polydoros fragte: ob er in der Tat Krieg gegen Brüder führen wolle, sagte er: wir wollen nur Land besetzen, das noch nicht verteilt, d.h. das noch nicht zu Ackerlosen für die Unsern geworden ist59. Sparta hatte den Messeniern weder einen Herold noch sonst eine Kriegserklärung gesandt, aber heimlich hatten einander alle Spartiaten den Eid geleistet: wie lange der Krieg auch dauernA8 und welche Wechselfälle er auch mit sich führen möge, sich nicht abwendig machen zu lassen, bevor sie Messenien bezwungen hätten. In Pausen der Ermüdung, die der Brudermord im Großen mit sich brachte, wurde dann scharf an diesen Eid erinnert60. Natürlich wurden in Messenien weder Pflanzungen noch Gebäude nach sonstiger griechischer[98] Art verwüstet, da die Eroberer das Land schon als das ihrige betrachteten. Es wurde in spartanische Ackerlose eingeteilt, und was von den Einwohnern nicht getötet, verkauft oder verjagt worden war, diente den neuen Herrn in Gestalt von Ackerknechten. Der neue Besitz muß für den Überschuß spartiatischer Bevölkerung nicht einmal zugereicht haben, da man bald darauf doch eine große Schar besitzloser, junger Dorer, die sogenannten Parthenier61 außer Landes senden mußte; sie nahmen Tarent. – Das Orakel von Delphi war während des ganzen Krieges völlig auf der Seite der Eroberer.

Durch eine Erhebung der Messenier begann (685 v. Chr.?) der zweite Krieg, und hier zum erstenmal bemerkt man ein Sinken der spartiatischen Fruchtbarkeit, indem die verringerten Scharen bereits mit Heloten ergänzt worden sein sollen62, welche hier nicht bloß als Waffenträger, sondern als Teile der spartiatischen Mannschaft aufgetreten wären. Auch mußte schon von dipomatischen Mitteln Gebrauch gemacht werden: Sparta bestach einen arkadischen Verbündeten der Messenier, den König Aristokrates und »machte damit zum erstenmal das Übergewicht in den Waffen zu einer um Geld käuflichen Sache63.« Doch gewann es endlich den Sieg (668 v. Chr.?) und alle Messenier, welche nicht aus dem Lande weichen konnten, wurden jetzt Heloten64, d.h. es gab in Messenien keine Eigentümer mehr als Spartiaten. Zu Hause aber mußte man bereits die abnehmenden Spartiaten ergänzen und zwar, wie vorher im Heere, bezeichnender Weise nicht aus Periöken, sondern aus Heloten, welche man später zu Vollbürgern erklärte65.

Bei solcher Lage der Dinge konnte von Spartiatisierung und Helotisierung weiterer Striche des Peloponnes nicht mehr die Rede sein, und man mußte sich mit Oberherrschaft, Hegemonie, erzwungener Heeresfolge begnügen. Es beginnt ein künstliches, mit den merkwürdigsten Mitteln obengehaltenes Sparta, und dieses ist es, mit dessen Schilderung die alten Autoren so stark beschäftigt sind. Eine Organisation, welche sich die schon weniger Gewordenen geben mußten, um sich gegen die Geknechteten zu behaupten, die Gefahren von außen abzuwehren, und[99] auf die übrigen Hellenen einen Eindruck des Erstaunens und der Furcht, hervorzubringen. Wenn es wirklich noch zur Zeit der Perserkriege 8000 Spartiaten gab, wie Herodot (VII, 234) vielleicht schon etwas hoch annimmt, so waren dieselben bereits auf das Eurotastal und auf Messenien verteilt, auch kann Demaratos, welchem der Erzähler die Zahl in den Mund legt, den Xerxes, zu welchem er spricht, haben täuschen wollen, und jedenfalls nahm die Zahl bald darauf sehr schnell ab, wie sich weiter zeigen wird. Man wird kaum irre gehen, wenn man die mit dieser Sachlage zusammenhängenden Einrichtungen in eine ursächliche Verbindung setzt mit der Erhebung der Ephoren.

Entstanden waren dieselben bekanntlich schon während des ersten messenischen Krieges, als Stellvertreter der abwesenden Könige, besonders für das Rechtsprechen. Aber zu Anfang des VI. Jahrhunderts muß eine eigentliche Staatsveränderung erfolgt sein66, an welche sich dann das Übrige anschloß. Die Ernennung der fünf Ephoren wird nämlich den Königen entzogen und zur Sache einer alljährlichen Volkswahl gemacht. Das Amt wurde mit einer religiösen Weihe umgeben, wie das Königtum sie nicht besaß, es wurden ihnen sogar Himmelsbeobachtungen gestattet zum Behufe der Königsanklage67. Sie standen vor den Königen nicht auf; das einzige Ehrenvorrecht der letztern vor den übrigen Bürgern bestand darin, daß sie, vorgeladen, erst auf die dritte Mahnung zu erscheinen brauchten, während sonst jeder Andere auf den ersten Wink eines Ephoren eiligst und eifrigst – δρύμῳ καὶ σπουδῇ – über die Agora gelaufen kam. Allmonatlich schwur man sich gegenseitige Eide, die Könige auf Beobachtung der Verfassung, die Ephoren im Namen des Staates auf Treue gegen ein Königtum, welches selber seinem Eide treu bleiben würde68. Nach dem ersten Ephoren wurde das Jahr benannt. – Auf den ersten Blick ist man versucht zu glauben, die Veränderung sei eingeführt worden etwa gegen Gelüste eines Königs nach der Tyrannis, allein, wenn auch die Art und Weise ausdrücklich festgesetzt war, wie über einen fehlbaren König durch eine große Kommission, bestehend aus den Ephoren, der Gerusie und dem andern König, Gericht zu halten sei, so erscheint sie bei näherer Betrachtung doch eher als Resultat eines allgemeinen Zustandes. Der heilsame Schrecken galt allen ehrgeizigen und besonders auch allen reichen Spartiaten, von den untergeordneten Klassen nicht zu reden, und das Ephorat ist, wenn es auch gegen Herrschergelüste einzelner Begabter und Begehrlicher, auch wohl gegen Revolutionsgelüste[100] einzelner Heruntergekommener mag ins Leben gerufen worden sein, eines jener Damoklesschwerter, welche eine ganze herrschende Kaste über ihrem eigenen Haupte aufhängt; es mag tatsächlich vorzüglich gerade dem Neide der ärmer gewordenen Mehrzahl der Dorer gegen die durch Zussammenerben von Landlosen reich Gewordenen entsprochen haben. Daher das mächtige Treiben auf Gleichheit der Genüsse und der Lebensweise, auf Unmöglichmachung und Wertlosmachung von angehäufter beweglicher Habe69. Aber nur fähige Kasten können dergleichen durchsetzen, und nur, weil und so lange ihr Haß und HerrscherwilleA9 gegen die Unterworfenen stärker ist als ihre Einzelfeindschaften unter sich. Wie armselig nimmt sich daneben das Sykophantenwesen der DemokratienA10 aus!

Die Ephoren handelten nicht nach Statuten und Gesetzen, sondern nach eigener Ansicht, wie sie ihnen der Augenblick eingab; sie ließen den schuldigen Beamten nicht etwa sein Jahr ausmachen wie andere Griechenstaaten, sondern konnten augenblicklich70 jeden stillstellen, verhaften und töten. Sie konnten die Volksversammlung berufen und leiten und hörten die fremden Gesandten. Im Krieg war alle wesentliche Gewalt auf sie übergegangen; sie ordneten die Auszüge an, verkehrten mit den Anführern in der berühmten Chiffernschrift (Skytale) und beschränkten den dem Namen nach kommandierenden König durch mitgegebene »Beiräte«, ja später zogen etwa zwei Ephoren selber mit. Das »Volk«, d.h. die Kaste verhielt sich hiebei völlig ruhig, weil sie die Wahl der Ephoren, und zwar alljährlich, in Händen hatte.

Die nächste Parallele in der Geschichte bietet wohl der Rat der Zehn in Venedig, ebenfalls alljährlich durch die ganze regierende Kaste gewählt und mit ebenso unbedingten Vollmachten ausgestattet. Nur genügte es in Venedig, Versuche zur Tyrannis, Verschwörungen verarmter[101] Nobili und Gefahren von außen abzuschneiden, Sparta dagegen hatte mit der Zeit nicht nur ebenfalls seine verarmten Dorer, sondern die große innere Gefahr von Seiten der Periöken und Heloten auf dem Nacken. Venedig hatte den Gehorchenden ihr Eigentum gelassen, Sparta ihnen das Meiste und Beste geraubt; Venedig war von seinen Untertanen in Stadt und Gebiet geliebt, Sparta entsetzlich gehaßt; Venedig begehrte im Grunde nach außen nicht mehr Macht zu haben, als es zu seiner Sicherheit bedurfte; Sparta übte eine bedrohliche auswärtige Politik und mußte die Abhängigkeit der übrigen Griechen wünschen, damit dieselben nicht auf seine Unterworfenen einwirkten. Endlich war in Venedig das Dogat nur Eines und wählbar, in den Händen bejahrter Leute, welche meist selber einst im Rat der Zehn gesessen und den Machtgeiz abgelegt hatten, in Sparta war das Königtum doppelt und erblich und dabei auf eine Weise von den Ephoren kontrolliert, welche jüngere, sich kräftig dünkende Erbfürsten zur Wut stacheln mußte. Besonders beleidigend war die bis zur Drohung gehende Fürsorge der Ephoren für die Fortpflanzung der Königshäuser71. Die wahre Kraft dieser Behörde, ihre Popularität lag ohne Zweifel darin, daß sie der Masse der Spartiaten alle erwünschte Sicherheit gab gegenüber von dem Ehrgeiz und dem besondern Willen und Talent einzelner Hochbegabten, und daß sie zugleich im Geiste derselben spartiatischen Masse das ganze Leben neu gestaltete. Von ihr wird wohl das neue, raffinierte Sparta wesentlich ausgegangen sein, ein ganz besonderer Höhepunkt der vollendeten griechischen Polis, mit völliger Gleichheit aller Bürger in Sitte und Bildung, mit möglichster Aufhebung des individuellen Lebens, des κατ᾽ ἰδίαν ζῆν72, mit »Fülle der Muße«, mit Verachtung des Erwerbes, mit ausschließlicher Betreibung »dessen, was den Staaten Freiheit bringt73«. Von allen Poleis erstrebte, heißt es, nur Sparta von Staatswegen das, was das allgemeine Ideal der Hellenen war, die Kalokagathie.

Dies hatte man zu Stande gebracht, indem schon das Familienleben, das Kind und seine Erziehung und dann der ganze weitere Lebenslauf des einzelnen weit strenger dem Allgemeinen untertänig gemacht wurde, als irgendwo sonst in Griechenland. Man bildete vor allem lauter solche Menschen, welche neben den übrigen Griechen abstachen und kaum mit ihnen verkehren konnten, schon weil man einander geistig fern stand, den spartiatischen Hochmut nicht einmal gerechnet. Die Unentrinnbarkeit,[102] anderswo mit Gewalt gehandhabt, ergab sich hier von selbst, insofern ein Spartiate sich draußen überall schlecht befinden mußte, wenn er nicht etwa als siegreicher Krieger auftrat. Der Trost lautete nach dem bekannten Sprichwort: Dir ist Sparta als Heimat zugefallen, diesem mußt du Ehre machen! Spartam nactus es, hanc orna74! Andererseits war es nicht schwer, die Fremden auch ohne Verbot fern zu halten; sie gingen gewiß so bald als möglich wieder fort, und wer nicht mußte, kam nicht.

Nun ist im Interesse des Allgemeinen zunächst die Ehe mit den merkwürdigsten Maßregeln umgeben75, scheinbar im Sinne einer höchst vollkommenen Rassezüchtung. Dahin gehört die körperliche Vorbildung der Mädchen zur möglichsten Kraft und Gesundheit76. Bei näherer Prüfung aber scheint es, als sei bereits auf den Ehen ein Unsegen gewesen, welchem man durch Gesetze und Gebräuche aller Art hätte abhelfen wollen. Man wird sonst kaum die hohen Prämien auf das Kinderzeugen, die Strafen gegen Ehelose oder spät oder übel Vermählte und vollends das Zulassen anderer Spartiaten zur eigenen Frau erklären können. Lykurg, heißt es nämlich, habe verordnet, daß das Kinderzeugen eine für die »Würdigen« gemeinsame Sache sein solle, und habe damit alle leere (!) Eifersucht abgeschnitten; die Rechnung sei gewesen, daß auf diese Weise die Bürger nicht vom ersten besten (d.h. vom zufälligen Gatten), sondern vom Trefflichsten erzeugt werden würden77. Wahrscheinlich aber wurde viel eher gewünscht, daß überhaupt Bürger erzeugt werden möchten, und Andeutungen dieser Art liegen gar nicht selten in den Quellen zu Tage, sobald man sich über Gründe und Folgen des Gesagten Rechenschaft gibt.

Das Kind gehörte dann in der Tat der Kaste mehr als dem Einzelnen und schon frühe begann jene unzählige Male geschilderte gemeinsame Erziehung, welche dann den Spartiaten durch das ganze Leben begleitete. Jede Alterstufe meisterte und beaufsichtigte die nächstjüngere und gar nie waren die Leute ἔρημοι ἄρχοντος, ohne Jemanden, der sie regierte78.[103] Abhärtung, Felddiebstahl, Leibesübungen, Wettkämpfe füllten die Zeit der Jugend aus, wobei eine absichtliche Verrohung kaum zu verkennen ist. Die blutigen Geißelungen vor dem Altar der Artemis Orthia, einer zu Wahnsinn und Mord treibenden Gottheit, die man nicht den Mut gehabt hatte ins Feuer zu werfen, waren eine Ausnahme in der ganzen griechischen Welt und eine wahre Schule der Ferocität79 und ebenso der mörderische Wettkampf der Epheben80. Das Ziel der Erziehung war bebesonders, den künftigen Krieger und Aufseher der Geknechteten an die ihm nötigen Fertigkeiten und Entbehrungen zu gewöhnen, weshalb auch die Gymnastik, die sonst in ganz Griechenland sich so reich entwickelte, hier nur in einem bestimmt abgemessenen Umfang gepflegt wurde. Der Wetteifer, heißt es, sollte sich nicht auf die kunstmäßige Vollendung (Virtuosität), sondern auf die Tüchtigkeit (nämlich innerhalb des Vorgeschriebenen) beziehen. So kam es, daß Sparta trotz tatsächlicher Oberaufsicht über Olympia nur wenige Olympioniken und bis auf Herodot (VI, 70) nur einen einzigen Sieger im Viergespann, den König Demaratos, aufzuweisen hatte81. Pindar besingt keinen einzigen Spartiaten82; Lesen und Schreiben wurde nicht gelernt83, alle Bildung war eine mündliche[104] oder musikalische. Im höchsten Grade bezeichnend aber für die Ansicht der Spartaner selbst von ihrer Erziehung und deren politischer Tendenz ist, was von den sogenannten Mothakes gemeldet wird. Man hatte nämlich, gewiß nicht von Anfang an, sondern erst bei der einreißenden Ungleichheit unter den Spartiaten die Gewohnheit aufkommen lassen, daß den Söhnen der Reichen Genossen (wohl aus den Periöken oder Heloten) beigegeben wurden, welche deren Erziehung und namentlich die Gymnastik mitmachten. »Lykurg«, d.h. der spartanische Staat, gewährte dann solchen das volle Bürgertum, und in der Tat war dies bei Leuten, die nicht bloß mitgeturnt, sondern auch sonst manches gehört und gesehen hatten, das Klügste, was man tun konnte. Einige der berühmtesten Spartiaten, Kallikratidas, Gylippos und Lysander waren solche Mothakes84.

Der Spartiate genoß dann sein Leben lang in der Tat jene »Fülle von Muße«, d.h. der Nichtarbeit, welche ein so teures Ideal auch aller übrigen Hellenen war, nur daß diese noch mit Volksversammlungen und Gerichtssitzungen beschäftigt waren, welche in Sparta wegfielen. Es war ein Leben ohne Erwerb, mit zeitweiliger Beaufsichtigung des Landloses der Familie und mit sehr freier Verfügung über den beweglichen Besitz (Tiere, Vorräte, Heloten usw.) des Nachbars85. Gold und Silber waren außer Verkehr, Eisengeld mußte für das wirkliche Bedürfnis genügen, und wenn Periöken durch Absatz ihrer Geräte und Feldfrüchte nach außen Gold und Silber erwerben konnten, so wird dafür gesorgt gewesen sein, daß dies innerhalb ungefährlicher Schranken blieb86. Für die Beurteilung dieser Dinge, für die Scheidung des Wahrscheinlichen vom Unwahrscheinlichen wird man immer einen leidlich sichern Maßstab haben, wenn man davon ausgeht, daß im Sinne der Masse der Spartiaten regiert wurde, und diese wird jenen halben Kommunismus, jenes Verbot des Besitzes edler Metalle, jene gleiche Lebensweise Aller, auch der Reichern87 sehr angemessenA11 gefunden haben. Daß die übrigen Griechen sich die Sachen hie und da ins Abenteuerliche ausmalten, namentlich die spätern Bewunderer, versteht sich von selbst.

[105] Alle Zeit der Spartiaten, wenn sie nicht im Kriege waren, ging nun laut Plutarch88 dahin mit Tänzen, Festlichkeiten, Genuß, Jagd, Leibesübung und Gesprächen. Hiebei ist nur eins vergessen, das unentbehrliche bewaffnete Streifen im eigenen Lande, ohne welches lakedämonische und messenische Heloten und Periöken schwerlich ruhig geblieben wären. Eine vielleicht bestimmte Quote der Spartiaten war wohl immer in der Hauptstadt am Eurotas anwesend, aber die Übrigen waren ohne Zweifel in Bewegung, und dieses Stück permanenten Kriegszustandes könnte sehr viel wichtiger gewesen sein als die eigentlichen Kriege, welche Sparta geführt hat; zugleich aber war es eine beständige Kriegsvorübung, wie sie den übrigen Hellenen fehlte. Und auch diejenigen, welche in Sparta selbst verweilten, waren stets zum augenblicklichen Aufbruch gerüstet. Das berühmte Zusammenspeisen in Gesellschaften von fünfzehn, die Syssitien, hatte (wie auf Kreta die Andreia) keinen anderen Zweck. Die Geselligkeit, welche in anderen Städten ihre Gestalt vom Symposion und von der Agora empfing, war hier die einer mehr oder weniger geistreichen Wachtstube und eine Schule des Spottes, den man sich zwar verbitten konnte, aber eher klüglich wird geduldet haben. Außer der schwarzen Suppe d.h. einer sehr derben und kräftigen Speise, die sogar in Athen für Feinschmecker nachgekocht wurde, kam auch die von den einzelnen gelieferte Jagdbeute auf den Tisch, und höchst wahrscheinlich speiste der Spartiate besser als z.B. der mittlere athenische Bürger. Nur in einer Beziehung wurde ein hartes Opfer gebracht: der Genuß des Weines war auf das Sorglichste beschränkt, weil die Sicherheit des Staates von beständiger Nüchternheit abhing89. Selbst an den Dionysien, da man in Athen Trunkene auf Wagen wegführen sah und in Tarent die ganze Stadt betrunken war, wurde keine Ausnahme gestattet, indem gerade bei Festen dieser Art die gefährlichsten Verschwörungen hätten ausbrechen können. Auch eine Räuberbande muß nüchtern sein. Zum vergnüglichen Ersatz ließ man sich trunkene Heloten in die Syssitien kommen und zeigte sie zur Abschreckung auch den Jüngern.

Dieses Volk ist eben überhaupt ein Heer, und sein Staat ist der eines Lagers, στρατοπέδου πολιτεία. Der pomphafte Aufzug, der Eintritt in die Schlacht, die Kriegszeremonien, der Ruf der völligen Unüberwindlichkeit füllten die Phantasie sämtlicher Griechen dergestalt an, daß die Spartiaten kein Wort dabei zu sprechen nötig gehabt hätten: tausend andere Stimmen rühmten sie des Langen und Breiten. Zu den Staatsgeheimnissen gehörte jeweilen die Zahl der Ausziehenden; die Zahl ihrer Gefallenen erfuhr man auch nach einem Siege nicht leicht90, und vollends[106] nicht nach einer Niederlage, wenn nicht ein Epaminondas da war, der die Zahl dennoch ermittelte. Nach Leuktra befahl er nämlich, zuerst sollten die Bundesgenossen der Lakedämonier ihre Toten abholen und dann erst die Lakedämonier die ihrigen; erst, als es sich zeigte, wie wenige jener waren, mußten die übrigen 1000 Leichen Spartiaten und Periöken sein91. Ohne diesen Beweis würde man die Niederlage geleugnet oder vertuscht haben, so wie man z.B. fremde Hilfe, die Sparta genossen, wegleugnete, wenn es irgend anging92.

Zum spartanischen Stil gehörte bekanntlich das Glücklichpreisen der Familien Gefallener und die heroischen Reden der Mütter, welche bei Plutarch in einer eigenen Sammlung (apophthegmata Lacaenarum) zu lesen sind. Außerdem aber hatte man für nötig befunden, für diejenigen, welche »gezittert hatten«, d.h. in der Schlacht geflohen waren, eine Ehrlosigkeit (Atimie) in Bereitschaft zu halten, welche mit komischer Fürchterlichkeit ausgemalt wird93. Ein solcher unterlag keiner Strafe, aber die ganze Masse der Spartiaten durfte ihn nach Belieben mißhandeln, ja prügeln und zugleich seine Angehörigen zur Verzweiflung bringen. Aristodemos, der »gezittert hatte«, der einzige, der die Thermopylenschlacht überlebte, legte dann bei Platää die höchsten Proben der Tapferkeit ab und fiel, konnte es aber den strengsten Kritikern, wenn man darüber sprach, doch nicht zu Danke machen, weil er eben »aus Gründen« den Tod gesucht habe94. – Seit Sphakteria (425 v. Chr.) begann man jedoch in Sachen der Atimie etwas behutsamer zu werden. Bald darauf fand der Staat auch schon hohe Geldstrafen angenehm95.

[107] Höchst merkwürdig ist die Stellung Spartas im Reiche des hellenischen Schönen. Diese künstlich einseitig gemachten, auf völlige Gleichheit der Lebensweise und auf beständiges Niederhalten der unterworfenen Kasten gerichteten Menschen waren doch Griechen und bedurften schon für ihre Götterverehrung der Kunst in demselben weiten Umfang wie ihre Stammesgenossen überall. Der Staat war zu Zeiten reich genug, um die Heiligtümer aufs Prachtvollste zu schmücken. Die bildenden Künstler wird man den Spartiaten erlassen und einen Gitiadas, Dorykleides, Theokles, Menon den Periöken zuweisen müssen; galten ja doch auch bei den übrigen Griechen die allergrößten Meister der Plastik als Banausen, bloß weil man sich keine körperliche Bemühung als edel vorstellen konnte, und wäre sie auch mit dem mächtigsten Aufschwung des Geistes verbunden gewesen. Für alles Übrige ist eine Reihe von Kunden vorhanden, welche nicht schwer zu deuten sind.

Zunächst befremdet einiges Unschöne in der spartanischen Symbolik. Ihr Kriegsgott war gefesselt dargestellt, damit er ihnen treu bleibe96, – während Athen denselben Sinn so viel schöner auszudrücken wußte, indem es einfach die Siegesgöttin flügellos (ἄπτερος) bildete. Auch Aphrodite war in Sparta gefesselt gebildet, als Andeutung der ehelichen Treue97, von welcher man nach dem oben Mitgeteilten, besser getan hätte kein Aufhebens zu machen. Ein paar ganz besonders häßliche Mythen waren in Sparta zu Hause98, und nur hier wurde auch eine Hera Aigophagos verehrt; Ziegen opferte man überall verschiedenen Gottheiten, aber einzig die Spartaner ließen die Hera davon essen.

Indes könnte dergleichen reichlich aufgewogen erscheinen durch die vielen Nachrichten über den Betrieb von Poesie und Musik in Sparta. Freilich sind es gegenüber einer sonst völlig einheimischen Kultur lauter Fremde, welche man kommen ließ, – denn hätte man die betreffenden Kräfte daheim aufziehen wollen, so würde dies ein anderes Sparta vorausgesetzt oder sogar es geschaffen haben, allein die zahlreichen und sehr nachdrücklichen Erwähnungen erwecken doch zunächst das Bild einer schönheitsliebenden Bevölkerung. Wie einladend lautet es, wenn nicht nur in der Stadt ein Kultus und ein Heiligtum der Musen vorhanden waren, sondern sogar zu Anfang der Schlachten die Könige den Musen opferten99. Man zog hier zum Kampfe aus nicht unter Trompetenschall, sondern unter dem Klang von Flöten100, Lyren und Kitharen. Und nun[108] sind einige der wichtigsten ältern griechischen Dichter und Musiker wesentlich durch ihre Beziehungen zu Sparta und ihren dortigen Aufenthalt bekannt, und was wir von ihnen wissen, bezieht sich fast ausschließlich darauf. Von Anfang an ist es, wie bei allen Entschlüssen des spartanischen Staates, der Gott von Delphi, welcher diese Berufungen befiehlt und zwar zur Stillung innerer Unruhen. Der Kreter Thaletas wird schon mit Lykurg zusammengebracht; seine Gesänge trieben durch Melodie und Rhythmus zu Gehorsam und Eintracht an, sie hatten etwas Würdiges und Beruhigendes101. Um die Zeit des zweiten messenischen Krieges treten dann Terpandros von Lesbos und Tyrtäos der Athener auf. Terpandros, der die Kithara von vier Saiten auf sieben gebracht, wurde bei schwerer Unruhe berufen, weil das Orakel gesagt hatte, es würde Versöhnung eintreten, wenn der Methymnäer auf den Saiten spielte, und in der Tat umarmte man sich bald mit Tränen102. In den wenigen erhaltenen Worten preist er Sparta, »allwo blühe die Lanze der Jünglinge und die hellsingende Muse und das Recht auf weitem Markte«. Mit Tyrtäos aber holte man sich nicht nur einen Dichter von Gesängen, sondern einen heftigen Paränetiker, wie ihn Sparta selber gar nicht hätte hervorbringen können. Sein Tun in Sparta ist zwar stark sagenhaft überliefert, aber bedeutende Reste seiner Elegien sind noch vorhanden und wir wissen nun, wie athenisches Pathos sich im Dienst von Sparta und zum Hohn gegen dessen Opfer äußerte. Ob eine dorische Übersetzung im Mund der Leute war, oder die Spartaner das Attische genügend vortragen konnten, mag dahingestellt bleiben. Gegen Ende des VII. Jahrhunderts dichtete wenigstens der (in Sparta erzogene und freigelassene) Lyder Alkman im Dialekt des Ortes, und es wird versichert, »daß die nicht sehr wohltönende Sprache seinen Gesängen doch nicht an der Anmut geschadet habe103«. Schon mit Hinsicht auf diese hier Genannten behaupteten die spätern Spartaner, sie hätten die gesunkene griechische Musik dreimal gerettet104. Es waren noch die Zeiten, bevor sich ihr Land gegen die übrigen Hellenen so trotzig abgeschlossen hatte, denn die spätern berühmten Dichter mieden Sparta, und spätern Musikern, wie Timotheos, bekam der dortige Aufenthalt nicht immer gut, aber die Musik war und blieb hier auffallend im Vordergrunde des Lebens und hatte ihre sehr ausgezeichnete Stelle auch im Felde und bei Festen105. Sorgsam hielt man die alten Gesänge im Gebrauch und lernte sie genau106. Alle Gattungen des ältern Chorliedes waren darin vertreten[109] und im Zusammenhang mit den gymnastischen und kriegerischen Tänzen muß Gesang und Musik das Dasein täglich berührt haben107. Man wagte, Sparta allegorisch darzustellen als Weib mit einer Lyra.

Dies alles aber beweist noch keineswegs, daß die Spartiaten eine stärkere musikalische Anlage oder Begeisterung gehabt hätten als andere Griechen. Die Musik hatte eben eine solche Macht im hellenischen Leben, einen solchen magischen Zwang und Zauber über den Einzelnen, daß die Polis überall mit derselben sich irgendwie einlassen mußte; Sparta aber, die Polis im absolutesten Sinne des Wortes, sah vielleicht mit Sorgen auf dieses aufregende und zugleich besänftigende Element hin und durfte sich nicht etwa von seinen Periöken und Heloten im Gesang überflügeln lassen. Außerdem ging in jenen früheren Jahrhunderten bisweilen noch ein ganz besonderer Sturm durch die Luft, nämlich der Dionysische, der besonders die Frauen ergriff, und so kam auch etwa einmal – die Zeit wird nicht näher angegeben – ein bacchischer Wahnsinn (οἶστρος) über die Lakedämonierinnen108. Die Musik aber war damals noch eine Heilkunst und nun faßt ein Späterer109, der aber manche gute alte Kunde besaß, das ganze Phänomen in folgende Worte zusammen: »Die Spartaner verstanden nichts von der Musik, denn ihnen war mehr an Leibesübung und Waffen gelegen. Wenn sie aber der Hilfe der Musen bedurften gegen Krankheit oder Geistesstörung oder ein anderes allgemeines Ungemach, dann ließen sie auf delphischen Rat hin fremde Männer kommen, als Ärzte oder Sühnpriester« – worauf die Musiker von Terpandros an aufgezählt werden110. Wohl war die Stellung dieser Kunst eine mächtige und Alkman erkühnte sich zu sagen: »Treffliches Kitharspiel geht dem Schwert voran (ἕρπει γὰρ ἄντα τᾧ σιδάρῳ τὸ καλῶς κιϑαρίσδειν), aber an und für sich schätzten die Spartaner am allerwenigsten von allen Menschen die Poesie und den Ruhm, der von ihr zu gewinnen ist111«. Die Musik aber machten sie vor allem unschädlich und dann nützlich.

[110] Statt aller Literatur hatte man die kurze Rede, die Brachylogie, für welche das Wort Lakonismus zum Gattungsnamen geworden ist. Die Sache wurde bereits frühe sehr absichtlich gepflegt112 und als Dressur von Jugend auf betrieben, wenigstens hat der spartanische Hochmut schon im Jahre 527 v. Chr. samischen Flüchtlingen eine scharfe Lektion in diesem Sinne gegeben113. Als man fühlte, daß gegenüber dem Redefluß anderer Griechen doch nicht mehr aufzukommen wäre, legte sich Sparta absichtlich auf die Kürze, vielleicht nicht ohne Ahnung, wohin es andere Poleis mit lauter Rhetorik und Wohlredenheit bringen würden. Im politischen Verkehr lernt man den lakonischen Redner nur durch nichtlakonische Berichterstatter kennen, unter welchen jedoch gerade der wichtigste, Thukydides, keine Belehrung gibt, weil er selbst durchgängig nach einer erstaunlichen Kürze strebt und diese auch den Rednern anderer Staaten angedeihen läßt. Doch sagt er von Brasidas, derselbe sei für einen Lakedämonier im Reden nicht unbegabt gewesen, und hiemit bestätigt er wenigstens, daß das Reden sonst nicht Sache dieses Volkes war. Andere Autoren färben etwa besonders brachylogisch, was sie einen Spartaner sprechen lassen114.

Das einzige erhaltene Literaturdenkmal Spartas sind nun jene kurzen Reden, von welchen sich in den Moralien des Plutarch ganze Sammlungen vorfinden115. Diese Apophthegmen haben im Grunde nur einen Ton und Inhalt: die einheitliche spartiatische Denkweise in ihrer Anwendung auf Staat und Leben, bald mehr im Ton eines schroffen Pathos, bald mehr in dem der allgemeinen Überlegenheit und des Hohnes, wie denn »Spotten und sich verspotten lassen« bei diesen nüchternen Menschen eine unentbehrliche Ergänzung des ganzen Umganges war. Manches ist nur der möglichst einfache und richtige Ausdruck für irgend eine Tatsache oder Wahrnehmung, manches unleugbar schön und voll spezifisch spartanischen Geistes. Die Sammlungen sind auch an sich bemerkenswert; sie können nur entstanden sein, wenn das glücklich gesprochene Wort sofort Hörer fand, welche dessen Wert inne wurden, und manches Wort stammt aus so früher Zeit, daß eine lange bloß mündliche Überlieferung dafür muß angenommen werden. Später, zumal zur Zeit eines Lysander und Agesilaos, wird es an sofortiger schriftlicher Aufzeichnung nicht gefehlt haben. Freilich war damals schon jene Verhandlung zu Korinth im Anzuge, da auf eine etwas umständliche[111] Klage der Spartaner gegen die von Theben Epaminondas erwidern konnte: so haben also wir es bewirkt, daß eure Brachylogie ein Ende genommen hat116!

Von der besondern Farbe, welche die griechische Religion in diesem Staate annahm, ist kaum nötig etwas zu sagen. Man hatte Delphi als beständige Autorität für die Kultussachen; die Götterfeste aber waren in diesem Staat ohne gewerbliches Tun und politisches Treiben, ohne Symposion und Agora, ohne Volksversammlung und Volksgericht ganz eigentlich ein Ausdruck des Lebens, wie vielleicht kaum irgendwo in Griechenland. Wegen Hyakinthien und Karneien und Mondphasen konnten die wichtigsten Kriegszüge verschoben werden; im Kriege selber wurde dann der dazu gehörende Kultus mit größter Genauigkeit innegehalten117. Aus der Beschreibung von Sparta bei Pausanias sieht man, daß die Stadt eine große Menge von einzelnen, wohl meist kleinen Heiligtümern und Heroengräbern besaß, und die letztern müssen für den spartanischen Aberglauben sogar etwas Unheimliches gehabt haben. Es konnte geschehen, daß das Gespenst eines solchen Heros noch als Dämon Incubus erschien118. Daß überhaupt zu Sparta in der Stadt und nicht an den ins Land führenden Straßen begraben wurde, soll den Zweck119 gehabt haben, daß schon die Knaben lernen möchten, sich nicht vor Leichenberührung und Gehen zwischen Gräbern zu fürchten, während man wahrscheinlich die Begräbnisse – heroische und nichtheroische – nur hatte vor dem Haß der draußen wohnenden Unterworfenen schützen müssen. Daß aber in Sparta überhaupt eine beschränkte Superstition herrschte, daß die einseitige Ausbildung der spartanischen Köpfe und Gemüter sich hier strafte, geht aus dem Tun eines Kleomenes und Pausanias unwiderleglich hervor und vollends aus der Rechnung, welche sich Lysander gegenüber dem in Sparta herrschenden Aberglauben gestatten durfte, Dinge, welche in Athen wenigstens bei den leitenden Klassen damals schon völlig undenkbar gewesen wären; Aberglaube und ruchlose Benützung des Aberglaubens Anderer wechseln hier ab. Merkwürdig ist noch der eifrige Kult des Zeus Ammon, wie denn auch das in Libyen gelegene Orakel desselben, das Ammonium, von den Lakedämoniern seit alter Zeit viel mehr befragt wurde als von den übrigen Hellenen120. Der Gott von Delphi scheint gegen diese libysche Konkurrenz nichts[112] eingewandt zu haben. Das Ammonium war die uralte Fragestätte der südgriechischen Bevölkerungen, vieler Peloponnesier und Inselleute, ein südliches Dodona gewesen, zumal als es noch an der Küste lag, bevor sich das Meer davon zurückgezogen; mit den Dorern kam die Befragung von Delphi auf, aber ohne Ausschließlichkeit121.


Es bleibt noch übrig, in möglichster Kürze die Resultate dieses Staats- und Volkswesens zu betrachten, wie sie sich im Verlauf der Zeit geoffenbart haben. Schon oben ist gezeigt worden, daß auf weitere Helotisierung des Peloponneses verzichtet werden mußte; man nahm den Arkadern Tegea und den Argivern die Thyreatis, im übrigen aber mußte man sich mit der Hegemonie über möglichst viele Peloponnesier und mit deren Heeresfolge begnügen. Staaten des verschiedensten Umfanges und Herkommens und politischen Tuns stellten sich für Krieg und auswärtige Politik unter Sparta, welches ihnen nicht sowohl allen an Kriegsmacht als den einzelnen an innerer politischer Kraft und Geschlossenheit überlegen war. Eine Staatsform, welche den Spartiaten völlig unleidlich schien, ist im Laufe des VI. Jahrhunderts durch sie an vielen Stellen mit Gewalt verdrängt worden, die Tyrannis, und zwar nicht nur die peloponnesischen (Kypseliden in Korinth, Aeschines in Sikyon), sondern auch diejenige auf mehrern Inseln in Hellas und an der Küste von Ionien122. Die Tyrannen bildeten unter sich eine Art von Kette, welche der spartanische Machtgeist durchbrechen mußte; das gelindere Schicksal des armen Volkes in den meisten Tyrannen staaten im Vergleich mit den Periöken und Heloten war vielleicht ein unerwünschter Anblick; die Oligarchien, welche an die Stelle der gestürzten Tyrannen traten, hatten zunächst an Sparta ihre einzige Stütze, und wenn nicht Sparta den Tyrannen verdrängte, so stürzte ihn vielleicht schon eine Demokratie. Aber mit ihren Interventionen gegen die Peisistratiden in Athen mischten sich die Spartaner in eine Sache, von der sie nichts verstanden; alles, was sie bezweckten, schlug ins Gegenteil um, Athen wurde demokratisch und nahm an Macht und Größe zu. Da beklagten sie, sagt Herodot, ein doppeltes Mißgeschick: sie hätten Leute, die ihre Gastfreunde gewesen (Hippias) aus Hab und Gut getrieben und dafür von den Athenern keinen Dank genossen; man sah jetzt ein, daß nur Tyrannen Athen in der gehörigen Schwäche und Ergebenheit gegen Sparta erhalten könnten. Um den Athenern wenigstens in der Nähe zu schaffen zu machen, wies man die Platäer absichtlich in deren Bundesgenossenschaft und lud damit Athen den Haß des ganzen übrigen Böotiens auf.[113]

Das Verhalten Spartas in den Perserkriegen war dann blinder Egoismus und kaltes Preisgeben der übrigen Griechen, in der Meinung, den Peloponnes, etwa gar mit Willen der Perser, für sich behaupten zu können. Zum Kriege von Marathon kamen die Spartaner absichtlich zu spät; im Xerxeskriege wird die kleine Schar des Leonidas absichtlich aufgeopfert, damit Sparta ruhmvoll dastehe und doch seine Hauptmacht nicht der Niederlage auszusetzen brauche123. Was es brauchte, damit gegen den spartanischen Willen nur die Schlacht von Salamis möglich wurde, ist aus Herodot bekannt. Beim Beginn des Mardonioskrieges glaubte man hinter der vollendeten Isthmosmauer in allem Ernst des Kampfes müßig gehen und Hellas im Stiche lassen zu können, bis der weise Chileos von Tegea den Spartanern begreiflich machte, es möchte doch noch andere Eingangspforten in den Peloponnes geben, wenn etwa einmal Athen und Persien zusammenhielten. Und nun erfolgte in der letzten Stunde der wichtigste Entschluß der spartanischen Geschichte: die große Sendung der ganzen Heeresmacht. Mit dem Siege von Platää wurde die schon verlorene Handhabe der gesamtgriechischen Angelegenheiten wieder fest ergriffen. Einige besonders bornierte und unverschämte Forderungen, über deren Naivität man sich bis an das Ende der Tage wundern wird, gingen allerdings nicht in Erfüllung, z.B. daß die Mauern von Athen nicht wieder aufgebaut, die kleinasiatischen Griechen nach Europa versetzt, ja die Athener gezwungen werden sollten, die Mauern anderer außerpeloponnesischer Städte zerstören zu helfen124.

Bis ins VI. Jahrhundert scheinen sich die Spartiaten, wie die alten Römer, alle geglichen zu haben; sie hatten alle nur einen Gedanken, ein Recht gekannt: Spartas Macht zu erhöhen (τὴν Σπάρτην αὔξειν). Seither aber lernt man einzelne mächtige Individuen kennen, alle in heimlicher Empörung gegen die gesetzlichen Einschränkungen und Entbehrungen der Heimat, ja in einer kaum verhaltenen Wut gegen Alles und Jedes.

Zunächst hatte trotz aller vorgeschriebenen Gleichheit die Gier nach Einzelbesitz alles unterfressen. In der ganzen übrigen Griechenwelt war das Geld schon sehr der Maßstab und die Bedingung der Genüsse und der Macht geworden, und dabei eine reiche, vielartige Regsamkeit des Geistes erlaubt; der Spartiate aber sollte arm und einseitig bleiben, während wenigstens den politisch Mächtigen von allen Seiten die Bestechung winkte. Die Ephoren passen zwar auf jedes Stück Geld, das ein König[114] besitzt, aber sie selbst sind auch nicht immer unzugänglich und beim Neubau der Mauern von Athen trotz dem Proteste Spartas fragt es sich nur, ob Themistokles sie bestach oder betrog125.

Schon im VI. Jahrhundert tritt uns die furchtbare Persönlichkeit des Königs Kleomenes entgegen, welchem die Ephoren, wie es scheint, keinen rechten Widerstand mehr leisten konnten. Eigentliche Bestechung wies er wohl einmal ab, daß aber in seinem Hause doch täglich von solchen Dingen die Rede war, verrät uns bei einem andern Anlaß sein achtjähriges Töchterchen Gorgo mit ihrer Warnung: Vater, der Fremde (es war Aristagoras) wird dich gewiß bestechen, wenn du ihn nicht stehen lässest und weggehst126. Sein sonstiges Tun ist ein ganzer Haufen von Frevel gegen Götter und Menschen, vermischt mit abscheulichem Aberglauben; derselbe Mann, welcher die Pythia gegen seinen Mitkönig Demaratos bestach, konsultierte bei jedem Vorhaben den einbalsamierten Kopf eines ermordeten frühern Spießgesellen127. Seine Flucht, die Aufhetzung der Arkader, seine Rückkehr und sein Wahnsinn und Selbstmord lauten in der Erzählung bei Herodot wie ein böser Traum. Höchst bedenklich war, daß man den Mann, gerade auf seine arkadischen Machenschaften hin, aus Furcht (VI, 75) wieder nach Sparta zurückführte, »damit er wieder herrsche wie früher«. – Dann folgt, ähnlich aus Aberglauben und Ruchlosigkeit gemischt, Pausanias128. Ein spartanischer Anführer, welcher einmal eine Schlacht von Platää gewonnen, war vielleicht überhaupt nicht mehr zu bändigen; allein dieser in seinem Groll gegen das ganze bestehende Sparta versprach sogar den Heloten Freiheit und Teilnahme am Staat, wenn sie mit ihm aufstehen und ihm helfen würden alles über den Haufen zu werfen. Was er vorher mit den Persern angesponnen, die Unterwerfung aller Griechen, auch der Spartaner, unter den Großkönig, hatte ihm nur eine kurze Haft zugezogen und er war (ohne Zweifel um Geld) wieder frei geworden, diesmal aber, bei dringender, naher Gefahr mußten die Ephoren zugreifen – und doch gab ihm einer und der andere von ihnen noch einen verschwiegenen Wink, so daß er in den Tempel der Athene Chalkioikos flüchten konnte. Hier fand er dann allerdings das weltbekannte Ende, wahrscheinlich, weil es jetzt, unter allgemeinem Aufsehen, zu gefährlich gewesen wäre, ihn zu retten. – Der Sieger von Mykale, Leotychides, der sich auf einem Feldzug nach Thessalien hatte erkaufen und – auf einem Ärmel voll Geld sitzend – erwischen[115] lassen129, starb als Flüchtling in Tegea. Gleichwohl wurde in Sparta weiter bestochen, sobald etwas erreicht werden sollte; nur durfte man sich nicht auf die Könige beschränken, welche ohnehin zu sehr beobachtet waren und in der Regel zu wenig vermochten, wie denn später Perikles mit den zehn Talenten, die er jährlich nach Sparta fließen ließ, um den Ausbruch des großen Krieges hinauszuschieben, »alle Angesehenen zu berücksichtigen pflegte«. Eines aber war den Spartiaten klar geworden: die große Versuchung, welcher ihre Leute bei langen und wichtigen Kommandos außer Landes zu unterliegen Gefahr liefen. Aus diesem Grunde wahrscheinlich gaben sie ihre begonnene Hegemonie über die Griechen preis130 und ließen die Athener die ihrige vollenden. Der Ausdruck hiefür war jener Beschluß vom Jahre 473 v. Chr., es sei Sparta nicht zuträglich, sich zur See geltend zu machen131, während jetzt in Athen alles Volk beständig zum Einsteigen bereit und für Sendungen bis nach Ägypten gestimmt und gerüstet war. Nun gab es auch wieder ruhige und gesittete Könige, wie Archidamos II., welcher bei dem großen Erdbeben des Jahres 464 und den zunächst folgenden Ereignissen die besten Dienste leistete. Die wirkliche Lage der Dinge verriet sich, als dabei viele Spartiaten umgekommen waren, durch einen allgemeinen Aufstand der Heloten von Lakedämon und Messenien, welcher nicht umsonst der dritte messenische Krieg heißt. Mit Hilfe ihrer peloponnesischen Bundesgenossen wurden die Spartiaten nach neunjährigem Kampf wieder Meister. Daß sie auf Befehl des Orakels von Delphi die Gegner mußten »in Folge eines Vertrages« abziehen lassen, statt sie zernichten oder mindestens noch einmal knechten zu können, war für Spartas Macht schon ein deutlicher Schritt abwärts, allein man machte wenigstens noch selber fertig! Die größere Gefahr hatte am Anfang des Krieges auf Sparta gelastet, als es hatte die tiefbeleidigten Athener zu Hilfe bitten müssen. Diese waren gekommen, 4000 Mann stark, und hatten die Aufständischen belagern helfen, aber diese kecke, glänzende Schar, strahlend vom Geiste der Neuerung, hatte die spartanische Regierung bald mit tiefer Sorge erfüllt, so daß man sie verabschiedete, Sparta sollte weder angesteckt noch durchschaut werden.

Was Sparta in den nächstfolgenden Zeiten von Feldzügen außerhalb des Peloponneses unternahm, war etwa unvermeidliche Pietätssache, wie die Hilfeleistung an das stammverwandte Doris und später an Delphi[116] gegen Phokis; in den böotischen Händeln (gegen 455) hätte es gerne Theben zur Gegenpolis von Athen erhoben132; es half siegen bei Tanagra und führte sogar einmal seine Peloponnesier nach Attika, allein dies Alles nur wie gelegentlich und ohne Eifer. Mit dem Abschluß des sogenannten dreißigjährigen Stillstandes (445) ließ Sparta die Meinung aufkommen, es wünsche nur noch Behauptung des status quo (τὰ ὑπάρχοντα σώζειν) und fürchte denselben durch Kriege zu gefährden; Klagen seiner Verbündeten gegen Auswärtige überhöre es leicht und schenke ihnen keinen Glauben; wer noch auf seine Hilfe hoffe, der finde sich betrogen, denn Sparta sitze gerne zu Hause und zögere, bis die Gegner ihre Macht verdoppelt hätten; im Vergleich mit dem politischen Treiben Athens erschien die Art der Spartaner altväterisch133. Daß zu dieser zögernden Weise die heimlichen athenischen Bestechungsgelder das ihrige taten, unterliegt keinem Zweifel; doch wirkte auch eine richtige Beurteilung der Sachlage mit, Sparta hatte wirklich seine Prinzipien (τὸ δοκοῦν ἡμῖν), wie Thukydides den König Archidamos sagen läßt; es unterschätzte den Gegner nicht und baute nicht zum voraus auf dessen Fehler, d.h. es war der Phantasie und dem Augenblicke nicht untertan wie Athen mit seiner Volksversammlung; es wurde geführt von einer Regierung. Sodann arbeitete die Zeit selber für Sparta, insofern fast überall in den demokratisierten Poleis von Hellas auch eine bedrückte aristokratische Partei vorhanden war, und zugleich Athen seine Bundesgenossen so hart unten hielt, daß von deren Mißstimmung sich vieles hoffen ließ. So konnte denn Sparta, als der peloponnesische Krieg endlich ausbrach, förmlich erklären, es wolle Hellas befreien; es hatte entschieden die zahlreichern Sympathien auf seiner Seite134. »Die Meisten zürnten den Athenern; es waren solche, die teils von ihnen loskommen wollten, teils in der Furcht lebten, erst unter ihre Herrschaft zu geraten«. Was man sonst damals unter den feinen Leuten in Griechenland »Lakonizonten« nannte, waren nicht notwendig politische Parteigänger Spartas, sondern nur Bewunderer von dessen Lebensrichtung, aber wenn auch Sparta für sie nur eine Mode gewesen wäre, so lag auch darin ein Zeichen der Zeit.

In der ersten Hälfte des Krieges behielt man bereits gerne die Spartiaten im Peloponnes und sandte, wo möglich, Heere von Bundesgenossen mit spartanischen Anführern aus; daß sich im Jahre 425 auf Sphakteria 292 Mann, darunter nur 120 Mann von der herrschenden Kaste an die Athener ergaben, konnte jetzt ein Ereignis von der größten Bedeutung sein, und die Athener wußten recht gut, weshalb sie den spartanischen[117] Antrag auf Austausch der Gefangenen gegen ebenso viele Gefangene aus Athen zurückwiesen135. Der Kredit Spartas erhob sich dann wieder durch die Führung des Brasidas, einer der wenigen sympathischen Gestalten seiner Kaste, deren Hauptpersonen ihn freilich nicht mochten und nicht genügend unterstützten, sonst würde er mit seiner »Hegemonie des Gewinnens« noch weiter gelangt sein. Während dieser ganzen Zeit kam Sparta aus der Sorge vor seinen stets zum Entlaufen bereiten Heloten, ja vor Messeniern, die sich in Pylos festgesetzt, nicht heraus, und wenn auch solchen Gefahren begegnet wurde, indem man jene 2000 Heloten (s.S. 95) durch heimlichen Mord verschwinden ließ, so war doch der sogenannte Friede des Nikias (421 v. Chr.) erwünscht, indem er wenigstens für den Augenblick diese innere Krisis still zu stellen gestattete136. Immerhin erscheint Sparta in den Jahren dieses sogenannten Friedens eher im Nachteil und der athenische und demokratische Einfluß auf der Halbinsel im Wachsen, erst die sizilische Expedition der Athener und was sich daran hing, machte den Spartanern gründlich Luft. In der zweiten Hälfte des Krieges war ihnen zunächst der Peloponnes sicher, und sie konnten137, beraten von Alkibiades, wieder Attika schwer heimsuchen und durch ein Bündnis mit König Dareios Nothos sowohl Geld für ihre jetzt unentbehrlichen Flottenzüge als auch die Hilfe seiner Satrapen gewinnen, freilich, indem sie dem König die Griechenstädte von Kleinasien zusprachen. Mit dem Siege von Aegospotamoi und mit der Übergabe von Athen unter den kläglichsten Bedingungen schloß der Krieg, und Sparta genoß hinfort mehr als drei Jahrzehnte hindurch im Ganzen genommen das Supremat in Griechenland.

Die Leitung des Staates und seiner Politik in den spätern Zeiten des Krieges gehörte gewiß weniger dem zeitweise gemißhandelten und durch Alkibiades in seiner Hausehre schwer gekränkten König Agis138 als einem Verein fähiger Spartiaten an, welche das Ephorat in ihren Händen gehabt haben werden. Diese müssen jene Anführer ausgesucht haben, deren[118] einer ein ganzes Heer wert war, indem sie Scharen von Bundesgenossen und Söldnern so zu brauchen wußten, als wären es lakedämonische Heere, einen Kallikratidas, Gylippos, Klearch, Lysander u.a., freilich mit Ausnahme des erstgenannten fast lauter schreckliche Menschen, wie sie zur damaligen Situation paßten. Als Gylippos den Sikelioten nur mit vier Schiffen zu Hilfe gesandt wurde, erkannten sie doch in seinem Stab und seinem Mantel vollständig das Sinnbild und die Größe Spartas139. Agesilaos bekam zu seinem Zug nach Kleinasien nicht mehr als dreißig eigentliche Spartiaten mit, im Grunde nur einen Kriegsrat. Dem gewöhnlichen Vorgeben140 nach hätte diese neue spartanische Hegemonie vor der frühern athenischen den Vorzug gehabt, daß Sparta weder Schiffe noch Geld, sondern nur Unterordnung verlangte, allein in Wirklichkeit häufte Sparta jährlich, zumal aus den Zahlungen seiner Untergebenen, tausend Talente an141, und ob das »Werben« (στρατολογεῖν) in den Ländern derselben ohne allen Zwang geschah, kann man nicht wissen. Auch nahm Sparta es mit der Auswahl jener Anführer doch später zu leicht, und wer eine ernste spartanische Intervention nötig hatte, verbat sich die Sendung eines bloßen Neodamodenheeres mit einem unwissenden Anführer142. Gesichert war die Herrschaft Spartas einstweilen wesentlich durch die Parteien, welchen es überall, auch mit den äußersten Mitteln, zum Siege verholfen hatte. Im Munde dieser Anhänger und derer, die ihnen nachschwatzten, ist Sparta jetzt der »Erzieher« von Hellas, nachdem einst Perikles im Namen Athens denselben Anspruch erhoben143. »Jedermann schaute auf den spartanischen Staat als auf einen Pädagogen oder Lehrer wohlgeordneten Lebens und fester Verfassung144

Allein bei näherem Zusehen war dieser Staat von großen und unheilbaren innern Übeln bedroht. Zunächst der Mann, in welchem er sein Hauptwerkzeug, seinen Ausdruck anerkannte, Lysander, welche Gestalt! In ihr verbindet sich die Ruchlosigkeit des innerlich gegen die Ordnung seiner Polis empörten Spartiaten mit jener Routine alles Bösen, wie sie dem übrigen Griechenland in der Verwilderung des peloponnesischen Krieges eigen geworden war. Er versteht sich auf das furchtbarste Clubwesen[119] wie ein Athener, hält dienstbare Schwätzer und Lobdichter um seine Person herum und läßt sich opfern wie einem Gott. Wie von Alkibiades in Beziehung auf Athen, so hieß es von ihm: Sparta hielte nicht zwei Lysander aus145, nur daß Alkibiades noch immer die sympathischere Gestalt bleibt. Lysanders schreckliches Tun in den Griechenstädten wurde von den Spartiaten fast ausnahmslos gebilligt, und wenn man ihn auch eine Weile beseitigte, so ließ man ihm nachher wieder freie Hand. Aber er spann zugleich Frevel gegen den eigenen Staat, um König zu werden, nicht mehr durch Aufrufen von Periöken und Heloten, sondern, wie er meinte, durch die Spartiaten selbst. Die groben Täuschungen (mit Hilfe von Orakeln), welcher er sich zu diesem Zweck erlaubte, geben einen merkwürdig geringen Begriff von dem Verstand seiner Landsleute in diesen Dingen. Große auswärtige Stellungen über Meer, außerhalb des Bereiches der Ephoren, genügten auch bei andern Zeitgenossen, um rasch die verruchte Seite desA12 Spartiaten zur Entwicklung zu bringen; es mag hinreichen, auf das schauerliche Bild des Klearchos zu verweisen, wie man es von Xenophon, Diodor und Polyän entworfen findet.

Was aber die Kräfte des spezifisch spartanischen Lebens schon seit dem peloponnesischen Kriege aufzuzehren begann, war der jetzt nicht mehr zu hemmende Privatbesitz146 und – in naher innerer Verbindung damit – die rasche und gefährliche Abnahme der herrschenden Kaste. Die künstliche Züchtung derselben zur »Trefflichkeit« sollte furchtbare Gefahren zur Folge haben.

Jener Krieg hatte die Spartiaten ganz anders unter den übrigen Griechen und in deren Sitten und Anschauungen herumgetrieben als je ein früherer, und vollends hatte die Verbindung mit Persien große Summen in spartanische Hände gebracht. Das alte geschlossene Wesen brach jetzt völlig auseinander, und der Staat ließ fortan die Bereicherung der einzelnen offenbar auf sich beruhen. Der Jammer darüber, daß die Ausartung mit dem hochverdienten Gylippos angefangen habe, welcher die Marke (Skytale) an den Säcken mit Staatsgeldern nicht bemerkt und 300 Talente entwendete147, ist ganz unrichtig angebracht, denn Kassendiebe hatte es längst gegeben; das nunmehrige Dulden von angehäuften Privatbesitz war das Entscheidende. Zugleich aber gingen auch mit dem alten Besitz, mit den Landlosen der Spartiaten, große Veränderungen vor. Das Landlos war hier eine sehr ernste Sache und hätte müssen in seiner Eigenschaft[120] als Basis der herrschenden Bevölkerung auf alle Weise geschützt werden. Nun war schon das legale Zusammenerben der Lose ausgestorbener Familien bedenklich; dazu kam aber eine neulich eingedrungene Testierfreiheit148, welche auch den eigenen Sohn vom Erbe auszuschließen gestattete. Die damalige Zerrüttung, Untreue und Feindschaft innerhalb vieler griechischen Familien lehrt uns Athen durch seine gerichtlichen Redner in weitem Umfange kennen; in Sparta insbesondere aber mochte sich jetzt die alte Tatsache149 rächen, daß die Vaterschaft – und zwar seit Generationen – in vielen Fällen zweifelhaft war. Mächtige ließen sich nunmehr von andern Reichen ins Testament setzen und stießen die Verwandten der Letztern aus dem Erbe. »Dieselben verarmten und sanken in Unfreiheit und Unvermögen zu edelm Streben, in Neid und Haß gegen die Besitzenden150«. Es gab seither eine vornehme und eine geringe Schicht unter den Spartiaten selbst, neben einem abusiven höhern Stand einen geringern. Und nun durften jene so übel reich Gewordenen ihren Besitz nicht einmal genießen, und vollends ihn edel zu genießen waren sie unfähig.

Wäre nun nur die Kaste selbst wenigstens noch zahlreich gewesen! Allein unmittelbar nach dem peloponnesischen Kriege, bei Anlaß der Verschwörung des Kinadon151, (397 v. Chr.) wird dieselbe im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung schon nur als ein Hundertstel taxiert. »Und jene wenigen«, hieß es da, »sind unsere Feinde, die andern alle sind Verbündete, und ebenso auf den Landgütern ist einer der Feind, nämlich der Herr«. Nicht nur unter den Periöken und Heloten, sondern auch unter den Halbkasten, die sich mit der Zeit ausgebildet hatten152, war es nämlich eine zugestandene Sache, daß man die Spartiaten am liebsten roh fräße (ὠμῶν ἐσϑίειν αὐτῶν). Noch vor Leuktra war dieses Sparta in seiner Sünden Maienblüte der mächtigste und namhafteste Staat von Hellas und doch zugleich einer der bürgerärmsten153. Innerhalb der herrschenden Kaste scheinen die Ehen vorherrschend unfruchtbar geworden zu sein, ob aus physiologischen oder moralischen Gründen, mag im Ungewissen bleiben. Neben dieser Art von Mißgedeihen konnte es wenig helfen, wenn man dann im einzelnen und äußerlichen die alte Spartanerart mit[121] feierlicher Strenge geltend machte, dem Milesier Timotheos von seiner elfsaitigen Kithar vier Saiten wegschnitt oder einen auffallend dicken Spartiaten in der Volksversammlung mit Verbannung bedrohte, wobei sich Lysander ganz besonders höhnisch zu äußern für gut fand154.

Ein Staat und eine Gesellschaft in solcher Lage können von heute auf morgen innerlich zusammenbrechen. Für Sparta lag bereits die Möglichkeit nahe, daß sich eine Tyrannis erhob, welche dann vielleicht sehr aksonderliche Kräfte würde entwickelt haben. Daß dies nicht geschah, hing am Auftreten des Agesilaos.

Erwachsen ohne Aussicht auf den Thron inmitten jener schrecklichen Männer, ohne Zweifel Zeuge und Mitkämpfer in der ganzen spätern Zeit des peloponnesischen Krieges, war er im Jahr 398, schon als reifer Mann, durch Lysander zum Königtum befördert worden, mit kaum berechtigter ÜbergehungA13 seines Neffen Leotychides. Wenn letzterer, wie es hieß, nicht von Agis, sondern von Alkibiades erzeugt war, so würde er als König vielleicht an den Charakter dieses athenischen Vaters erinnert haben; Agesilaos dagegen, obwohl mangelhaft von Wuchs und hinkend155, will Heraklide sein. Mit durchdringendem Scharfblick muß er seine und Spartas Lage beurteilt haben, ein eisenfester Wille ließ ihn auf Gier und Genüsse der losgebundenen Spartiaten verzichten; ihre Tyrannenmanieren war er entschlossen zu entbehren, um dafür wieder einmal ein König von Sparta zu sein, so echt und groß, als es der nunmehrige Zustand zuließe. Mit diesem, wie er war, beschloß er zu regieren – und nun fiel schon in sein erstes Königsjahr die Verschwörung jenes Kinadon, welche die innerste Schwäche des Spartanertums bloßlegte. Agesilaos mag das Gefühl gehabt haben, daß es sich nicht mehr um Heilung, nur noch um Verlängerung des allgemeinen Daseins handle, und diese konnte gelingen, wenn man die noch vorhandenen Kräfte möglichst in Bewegung hielt. Mit Wagemut ließ sich das Übel am besten verdecken, und Agesilaos ist einer der größten Vertuscher unter den Herrschern aller Zeiten gewesen. Da er aber selber kein Verschwörer war und sein Heil nicht in desparatem Wühlen unter den Heloten, auch nicht in Staatsstreichen auf Lysanders Art suchte, sondern eine heroische Gestalt zu sein begehrte, konnten auch die Schlimmern unter den Mächtigen und Fähigen ihn einstweilen um der allgemeinen Blendung willen wünschbar finden, wie er war; dafür ließ er auch sie sein, wie sie waren, und übte oft bedenkliche Nachsicht; die Verfassung wollte, die Menschen konnte er nicht ändern. Für alle äußern Formen, für das ganze Zeremoniell des Staates zeigte er[122] die höchste Achtung und gegen die Ephoren legte er eine fast kindliche Demut an den Tag. Dazu seine Religiosität und die Sicherheit seines gegebenen Wortes – im Ganzen ein so völlig anderer Anblick als damalige attische Staatsmänner, Feldherrn und Feldherrnprozesse.

Bald verschaffte ihm Lysander, der Anfangs noch neben ihm stand und ihn zu beherrschen gedachte, den Heerbefehl gegen die Satrapen in Kleinasien. Mit demselben Persien, welchem man die Möglichkeit des endlichen Triumphes im peloponnesischen Krieg verdankt hatte, wurde gebrochen, und zwei Jahre hindurch (396-394 v. Chr.) mit einem Heere von nur 2000 Neodamoden (halbfrei erklärten Heloten) und 8000 Mann von den Bundesgenossen, freilich auch mit beliebig hinzugeworbenen Ergänzungen zog Agesilaos hin und her bis tief nach Phrygien. Xenophon, welcher ein paar Jahre vorher unter ganz andern Gefahren ein griechisches Heer im Osten angeführt hatte, war jetzt längere Zeit im Hauptquartier des Agesilaos und schilderte später in einer eigenen Schrift dieses Namens den Feldzug und den Feldherrn mit Bewunderung, weil er hier einen rechten spartanischen Typus preisen konnte. Andere, welche ein Überblick über diesen Zug gewonnen hatten, urteilten dann: Agesilaos und die Seinen hätten im Grunde nichts Ruhmvolles noch Großes verrichtet, und als sie zurückberufen wurden, seien ihnen beim Abzug aus den sich schonA14 befreit glaubenden kleinasiatischen Griechenstädten die persischen Steuereinnehmer wieder auf dem Fuße gefolgt156. Noch einmal war die Verrottung der persischen Dinge, die man längst kannte, klar zu Tage getreten; allein die griechischen Dinge waren ebenfalls verrottet, und König Artaxerxes Mnemon hatte jenen Krieg gegen Sparta kaufen können, welchen man den korinthischen nennt.

Daß nun Agesilaos, sowie die Skytale angelangt war, durch welche ihn die Ephoren heimberiefen, sofort gehorchte und seine asiatischen Pläne – angeblich selbst zum Vorrücken auf Ekbatana und Susa – ohne Widerrede preisgab, wird als ein wahres Wunderstück gepriesen, und in der Tat war Sparta eines solchen Gehorsams gar nicht mehr gewohnt. Allein es läßt sich fragen, ob Agesilaos nicht froh war, sich von einem Abenteuer loszumachen. Auch wenn die Söldnerscharen, die er in Kleinasien sich zugesellte, und der Zulauf abtrünniger Bevölkerungen ihm eine große Masse von Leuten schaffte, so wäre dies doch kein Heer von einer solchen innern Beschaffenheit gewesen, um damit jetzt schon die persische Monarchie zu stürzen. Auch hätte es ihm begegnen können, daß während weiterer Fahrten nach Osten Sparta seine ganze künstliche Hegemonie eingebüßt hätte, ja daß es durch Niederlagen und Verschwörungen[123] gänzlich zu Grunde gegangen wäre. Nun erschien er wieder in Griechenland, siegte mit mächtigem Einsetzen seiner Person bei Koroneia und trat dann in Sparta auf so einfach und anspruchslos wie immer, ohne einen Schatten von jenem gefährlichen Hochmut, welchen andere von ihren Kommandos in der Ferne mitzubringen pflegten. Und wenn die hundert Talente, welche er unterwegs vor dem delphischen Gott niedergelegt, wirklich der Zehnte seiner asiatischen Beute waren, so brachte er neunhundert in den spartanischen Staatsschatz und blieb arm dabei.

Sein Verhalten während des weitern Verlaufes des korinthischen Krieges, im Felde und zu Hause, war zum Teil offenbar durch Rücksichten und Gegenwirkungen bedingt. Eine böse Clique, welche noch der inzwischen umgekommene Lysander gegen ihn zusammengebracht hatte, wußte er mit Klugheit heimlich aufzulösen und die Scripturen, womit man das Andenken des Verschwörers hätte brandmarken können, ließ er »mit Lysander begraben sein«. Sein noch junger Mitkönig, der gutmütige Agesipolis, wurde völlig fügsam gestimmt. Im Kriege aber mußte Agesilaos am besten wissen, daß auch Siege bei der Wenigkeit der Spartiaten ihre Schattenseite haben konnten; auf die glänzende Überwältigung von Korinth hin geschah es, daß einige hundert lakedämonische Schwerbewaffnete durch Iphikrates und dessen Söldner zernichtet wurden, und Agesiloas, der die Reste dieser Schar heimzuführen hatte, brauchte alle mögliche Schlauheit, um den Zustand derselben den höhnischen Arkadern beim Durchzug zu verbergen. Und als Konon und Pharnabazos – als persische Admiräle – die Küste von Lakonien heimsuchten, und mit persischem Gold Athen seine Befestigungen herstellte, bildete sich in Sparta eine solche Stimmung aus, daß man um jeden Preis wieder der Verbündete Persiens werden wollte. Antalkidas, der um den Frieden unterhandelte und denselben (387 v. Chr.) abschloß, soll wohl zu den Gegnern des Agesilaos gehört haben, allein letzterer mußte den Frieden doch billigen, weil derselbe durch Autonomerklärung aller, auch der böotischen Städte die Thebaner zu schwächen versprach.

In diesen nämlich hatte der König des bürgerarmen Sparta von jeher den eigentlichen Todfeind erkannt, wahrscheinlich, weil sie eine besonders menschenreiche Bevölkerung waren157. Diesen Todeshaß hätte er aber bemeistern oder besser verbergen sollen, statt dessen wollte er schon während des Krieges thebanische Gesandte niemals sehen noch hören,[124] indem an diesem einen Punkte ihm alle Fassung ausging. Den Handstreich des Phöbidas, welcher (382) mit spartanischer Mannschaft die Burg von Theben einnahm, hat Agesilaos in einer Weise gebilligt, welche auf ihn als heimlichen Auftraggeber schließen ließ. Was Sparta mit der Gewaltherrschaft über Theben erreichte, war ein Auflodern des Grimmes, ein Drang nach Befreiung bei allen denen, welche von ihm zu leiden hatten, und als nach drei Jahren durch die Erhebung unter Pelopidas und Epaminondas Theben (379) frei wurde und mit Athen in Bund trat, war die Lage Spartas unvergleichlich viel ungünstiger, als wenn es die Kadmeia nie besetzt gehalten hätte. Es ist begreiflich, daß dem Herold des spartanischen Hauptquartiers, Xenophon, die Namen der beiden großen Thebaner gar nicht aus der Feder wollen; er hat mit ihrer Nennung gewartet bis volle drei Jahre nach Leuktra158. Agesilaos aber schlägt um diese Zeit Feldzüge aus, auch wegen längerer Krankheit, und die welche er führt, sind nicht mehr glänzend und bestehen mehr nur in Verwüstungen.

Ein untergeordnetes Ereignis zeichnet die moralische Lage der Dinge vortrefflich. Den Befehl über eine der noch in Böotien stehenden Spartanerscharen hatte einer von Agesilaos Gegnern, Sphodrias. Diesen ließ der so zweifelhafte Ruhm jenes Phöbidas nicht schlafen, welcher einst die Kadmeia eingenommen; damals aber hatte Agesilaos erklärt, was Sparta nütze, das dürfe der einzelne auf sich nehmen zu vollbringen, auch wenn er keinen Befehl habe; d.h. einerseits wünschte man noch die verblüffende Wirkung spartanischer Handstreiche auf die Phantasie der Griechen, zugleich aber hatte man die auswärts postierten Führer wirklich nicht immer in der Gewalt und mußte sie ihrem Geschmack für den Frevel überlassen. Da jetzt Sphodrias einen Überfall des Piräus plante (obgleich Athen sich vom thebanischen Bündnis furchtsam abgewandt), tönte es in seiner Umgebung, die Sache wäre wohl gegen das Recht, es handle sich aber nur um Mut und um Gelingen. Diejenigen jedoch, welche ihm dies zuflüsterten, waren heimliche Agenten der Thebaner; man hatte den Spartanern ihr Prahlen mit dem zweckmäßigen Bösen abgehorcht und machte nun einen der Ihrigen damit irre. Da nun aber der Anschlag auf die ärgerlichste Weise mißlang, war man in Sparta auf den Täter sehr erzürnt und versetzte ihn in Anklage – und nun erklärte Agesilaos auch diesmal wieder, er tadle zwar sehr, was Sphodrias unternommen, halte aber denselben für einen vortrefflichen Mann und erkenne, daß die Stadt solcher Kämpfer bedürfe, worauf derselbe losgesprochen wurde. Natürlich hatte man jetzt die Athener wieder zu offenen Gegnern; sie konnten das Haupt einer größern Symmachie werden und ihr Iphikrates in persischem Dienst vollbrachte glänzende Taten.

[125] Nachdem in mehrjährigen Fehden Theben und seine Verbündeten immer kriegerischer, die Leute der spartanischen Hegemonie immer mißmutiger geworden, kam es (372) zu einem allgemeinen Friedenskongreß in Sparta, wo auch Epaminondas auftrat und den größten Eindruck hervorrief. Xenophon beschweigt die Hauptszene, wenn aber der Bericht des Plutarch auch nur in den wichtigsten Zügen wahr ist, so hat Agesilaos den Thebanern unter rohen Formen von Neuem den Krieg erklärt, indem er zugleich mit den übrigen Griechen meinte den Frieden geschlossen und Theben isoliert zu haben. Auf ihn fällt offenbar die ganze Verantwortlichkeit des Krieges von Leuktra (371), obgleich dann nicht er, sondern König Kleombrotos das spartanische Heer anführte.

Alles wurde auf eine Karte gesetzt, wie einst beim Krieg von Platää, aber jene Zeiten und Kräfte waren nicht mehr. Die Schlacht von Leuktra, derjenige Schlag, von welchem sich Sparta nie mehr erholt hat, war vor allem, wie man auch die Zahlenangaben rechne, ein furchtbarer Blutverlust für die herrschende Dorerkaste, auch wenn von den 1000 Lakedämoniern, welche umkamen159, nur ein kleiner Teil Dorer waren – denn die 4000 Spartiaten, von welchen Diodor spricht, hätte man vollends längst nicht mehr zu verlieren gehabt. (Es mag gleich hier erwogen werden, daß wenige Jahrzehnte später, als Aristoteles seine berühmte Kritik der spartanischen Verfassung160 schrieb, nicht über tausend kriegsfähige Spartiaten vorhanden waren und einige Menschenalter nachher161 kaum noch siebenhundert, unter welchen nur noch etwa hundert Besitzende). Ein Zweites war, daß das vereinzelte Theben, welches mit seinen 6000 Kämpfern den vollständigsten Sieg errungen, jetzt sofort an die Spitze eines großen Bundes gegen Sparta treten konnte, während die spartanische Hegemonie in ihren Grundfesten wankte.

Bei Ankunft der Schreckensbotschaft in Sparta war übungsgemäß jene »Seelenstärke« in Szene gesetzt worden, wie es bei jedem in der Ferne geschehenen Unheil vorkam, das man noch nicht vor Augen hatte. Es war gerade das Fest der Gymnopädien; die Ephoren erlaubten kein Weggehen der Chöre, Schau und WettkampfA15 mußten zu Ende geführt werden, während sie den Verwandten der Gefallenen die Sache ins Haus sagen ließen; diese Verwandten mußten einander fröhlich Glück wünschen, die der Geretteten aber voll Trauer zu Hause bei den Weibern bleiben, oder bei unvermeidlichen Ausgängen sich in Blick und Stimme ganz demütig halten usw.

[126] Neben dieser vorgeschriebenen pathetischen Verlogenheit aber war die wirkliche Lage die, daß die Geretteten, richtiger: Feldflüchtigen (τρέσαντες), zahlreich wie sie waren und zum Teil Leute von Einfluß, wohl hätten zu »Neuerungen« schreiten können, wenn man sie nach der Strenge behandelte, und Agesilaos, auf welchem jetzt Alles lastete, mußte in öffentlicher Versammlung für diesmal alle Ehrloserklärung (Atimie) still stellen, die sonst auf der Feldflucht lag. Die Gesetze wurden für einen Tag »schlafen gelassen«, an welchem jene durch irgend eine Formalität rein gesprochen wurden.

Darauf vollzogen sich die weitern Folgen der Niederlage. Sparta war gerichtet und der Hauptergebnisse seiner ganzen Geschichte beraubt, wenn Arkadien abfiel und vollends das zernichtet geglaubte Messenien wieder ein unabhängiger Staat wurde. Dies geschah (369), während Epaminondas und Pelopidas samt ihren nunmehrigen Verbündeten im Peloponnes standen und in der Nähe von Sparta erschienen. Diesem »Strom« wagt sich Agesilaos mit den Seinigen im offenen Felde nicht zu stellen; er verteidigte vor allem die Stadt und überhörte die höhnischen Herausforderungen der Feinde; dabei mußte er erleben, daß die lakonischen Greise, von deren Heldengesinnung so manche schöne kurze Sprüche erzählt wurden, jetzt im Jammer schrien und durcheinander liefen, und daß jene berühmten lakonischen Mütter und Frauen beim Wahrnehmen des Lärms und der Wachtfeuer der Feinde alle heroische Ruhe verloren und sich wie wahnsinnig gebärdeten; er mußte einen Verschwörerhaufen von 200 Männern, wahrscheinlich desperate Dorer, die einen festen Punkt beim Artemistempel besetzt, durch Geistesgegenwart zerstreuen und nachts mit Hinrichtungen nachhelfen, und dies geschah auch gegen weitere, nächtlich in einem Hause Versammelte; dies alles aber, während die zu den Waffen eingestellten Periöken und Heloten massenweise zum Feinde überliefen. Daß man im Augenblick der größten Not tausend Heloten frei erklärte162, geschah wohl nur, damit sie nicht mit den Übrigen davongehen möchten163. Man atmete wieder auf, als das siegreiche Heer abzog, weil sich die Arkader zu verlaufen anfingen; Sparta aber verdankte dem König ganz unleugbar die Rettung, und im folgenden Jahre seinem Sohn Archidamos auch einen ersten neuen Erfolg gegen die Arkader (ἄδακρυς μάχη). Der heimkehrende Sieger wurde vom Vater und von den Spartanern mit der größten Rührung empfangen, nachdem man früher mit Siegern und Siegesbotschaften kaum irgendwelche Umstände gemacht hatte. Es will schon etwas heißen, daß damals[127] und in den nächstfolgenden Zeiten die noch vorhandenen vornehmern Spartiaten nicht von ihren eigenen unzufriedenen Standesgenossen und von den untern Kasten ausgerottet worden sind. Hätte Sparta gar Volksversammlungen demokratischer Art, Volksgerichte, Redner und Sykophanten gehabt wie Athen, so wäre wohl der blutigste Staatsprozeß nicht ausgeblieben.

Agesilaos aber bekam es dann doch zu hören, daß unter seinem Königtum das herrliche Messenien verloren gegangen. Ein letzter Glanz ging über sein Leben, als er beim spätem Überfall des Epaminondas (362) nochmals Sparta rettete, und diesmal wehrten sich König und Stadt mit dem Mut der Verzweiflung, und es geschahen noch einzelne glänzende Taten. Mit dem Ende des Epaminondas bei Mantinea hörte dann die größte Bedrohung Spartas auf, und in der allgemeinen Verwirrung Griechenlands hätte dasselbe sich nunA16 einige Sammlung und Erholung gönnen können. Aber jetzt war es gerade der völlig verbitterte, greise Agesilaos, welcher sich und Sparta von dem wenigstens nominellen allgemeinen Frieden (361) ausschloß; die übrigen hatten die Messenier zum Eide zugelassen, er behauptet, dies sei ungültig, »weil dieselben keine Polis hätten«, und nun wandte sich Sparta ab, um allein weiter Krieg zu führen und Messenien wieder zu erobern. Da dies zunächst aber doch unmöglich war, erschien jetzt Agesilaos als unersättlich an Kriegen und wurde auch seinem Anhang lästig.

Seine Ausfahrt nach Ägypten (welches gegen die persische Herrschaft sich empört hatte) war noch ein Akt des spartanischen Staates und eine Vergeltung dafür, daß der Perserkönig sich für Unabhängigkeit Messeniens ausgesprochen hatte. »Ich bin«, sagte Agesilaos, »von meiner Heimat den Ägyptern zum Feldherrn gegeben worden«. Seine Verrichtungen am Nil gehören nicht hieher; als der mehr als achtzigjährige Held im Menelaoshafen starb, war er auf dem Heimweg und hatte den Vorsatz, wieder in die heimische Fehde, diesmal gegen Arkadien, einzutreten.

Mit ihm und seiner Herrschaft war aber auch das große spartanische Pathos dahingegangen und ebenso die Blendung, womit bisher den sämtlichen Griechen so stark war zugesetzt worden und der spartanische Mitredner in Platos Buch von den Gesetzen gibt zu, man sei jetzt der Gesänge des Tyrtäos »übersatt164«. – Wenn damals in ganz Griechenland bei den FähigenA17 eine völlige Abwendung vom Staat einriß, so nahm dieselbe bei den Spartanern und ganz besonders bei ihren Königen die Form des Absentismus (φιλαποδημία) an; da sie es in dem elenden Staat nicht[128] mehr aushalten mochten, gingen sie, so oft sie konnten, mit Geworbenen in auswärtige Dienste, wo sie sich bisweilen schmählich aufführten. Der Verdienstvollste dieser Reihe, Archidamos III. (Sohn des Agesilaos) hatte, bevor er in tarentinische Dienste ging, Bestechungen aus dem delphischen Tempelschatz angenommen und ebenso seine Gemahlin Deinicha165. Von einem argivischen Anführer, welchen er seinerseits zum Verrat bestechen wollte durch Summen und eine frei zu wählende Lakonierin, bekam er den Bescheid zu hören: er sei wohl kein Heraklide166? – Philipps des Makedoniers Herrschaft über Griechenland mußten die Spartaner murrend über sich ergehen lassen und nach Chäronea die äußerste Demütigung im eigenen Gebiete erdulden. Ihr ganzer Trost bestand in der Folgezeit darin, in keinem Feldlager eines makedonischen Königs zu erscheinen, keinen Kongreß zu besuchen und nirgends etwas beizusteuern167. Sonst aber war das alte Großtun auf keine Weise mehr zu behaupten, und als Antipatros (330 v. Chr.) die gegen Makedonien empörten Peloponnesier bei Megalopolis geschlagen, sprach Sparta die Seinigen, die dabei gewesen und geflohen waren, wie einst Agesilaos nach Leuktra getan, ausdrücklich von der Atimie los. Einzelnen mochte man die Ruhmredigkeit etwa gönnen; noch im III. Jahrhundert meinten »die welche noch auf hellenische Wohlgeborenheit Gewicht legten«, der geringste Spartaner sollte eher Kriegsanführer werden als der erste jener Makedonier168 – welche doch damals den ganzen vordern Orient unterworfen hatten. Gutes, wie z.B. einen Zuzug der Arkader zum Griechenheer gegen die Kelten (280, 279 v. Chr.) durch drohende Haltung zu verhindern, waren die Lakedämonier etwa noch im Stande169.

Wie ein fremder Tropfe Blutes erscheint es in den Adern Spartas, daß man damals durch Vorlesungen auf den Patriotismus zu wirken meinte. Alljährlich einmal wurde nämlich jetzt170 laut Staatsbeschluß im Amtslokal der Ephoren eine Schrift des gelehrten Sikelioten Dikäaarchos, die »Politie der Spartiaten«, vorgelesen, wobei alle Erwachsenen zuhören mußten171. Was würden die Männer der messenischen Kriege zu so etwas gesagt haben? Zugleich aber mochte der fortdauernde Werbeplatz am[129] Tänaron die Kräftigsten und Verwegensten, welchen mit Vorlesungen nicht beizukommen war, Dorer und Periöken so gut wie viele andere Griechen, auf Kriegsabenteuer in die weite Welt hinaus entführen, und zwischenhinein fällt das Tun eines ruchlosen beleidigten Königssprosses, des Kleonymos. Seinen eigenen Sohn ließ er einen Eid auf Spartas Verderben ablegen. Er war es auch, welcher den Pyrrhos ins Land rief, und die damalige Rettung der Hauptstadt durch König Areus und dessen Sohn Akrotatos ist einer der letzten Augenblicke des Ruhmes für den verkommenen Staat gewesen172. Die beiden Genannten erlagen hernach in erfolglosen Fehden gegen Makedonier und Megalopolitaner, und Jahrzehnte hindurch wird dann die Geschichte von Sparta undurchsichtig, bis sie noch einmal vor dem Ende des dorischen Heraklidenstaates in das Tragische umschlägt mit den Taten und Schicksalen der Könige Agis 240 v. Chr.) und Kleomenes (236-222).

Beide haben das Glück gehabt, von höchst sympathischer Seite, in Schriften, welche dem Plutarch vorlagen, umständlich geschildert zu werden samt ihrer Familie und Umgebung, und namentlich dem Kleomenes bleibt die Teilnahme der Nachwelt gesichert, auch wenn die dunklern, bei Polybios173 und andern hervorgehobenen Züge ihre Wahrheit behalten.

Es handelte sich um nichts Geringeres als um eine Revolution von oben, durch welche der spartanische Staat auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden sollte. Wenn man (s.S. 126) erfährt, daß es bereits nur noch 700 waffenfähige Spartiaten, d.h. Dorer gab und unter diesen nur noch 100 Besitzende, welche alles zusammengeerbt hatten, so staunt man, daß nach allen Niederlagen und Demütigungen die Herrschaft dieser Kaste über die Minderberechtigten so lange hatte behauptet werden können. Nun sollte durch starke Neumischung mit Periöken und neue Landverteilung ein mächtiges, tatfähiges Obervolk gebildet werden, welches durch unbedenkliche Eroberungen und Allianzen nach außen seine Weihe empfangen, ja vielleicht die Hegemonie über Griechenland wieder erreichen würde. An und für sich lag eine solche Revolution ziemlich nahe in einer Zeit, da anderswo in den demagogisch zerrütteten Griechenstädten Neuverteilung der Landmark, Annulierung der Schuld und Zernichtung der widerstrebenden Kräfte an der Tagesordnung waren, und was die Gefahren des Überganges betraf, so fehlte kräftigen Spätgriechen der erforderliche Frevelmut niemals.

[130] Nach dem Projekt des Agis wären die Dorer, gemischt mit einer großen Überzahl solcher Periöken und auch Fremden, welche bereits an spartiatischer Lebensweise Teil gehabt, Leuten von auserlesener Persönlichkeit, in einem bestimmt abgegrenzten Teile Lakedämoniens auf 4500 neue Lose verteilt worden; der Rest des Landes sollte in Gestalt von 15000 Losen an die übrigen waffenfähigen Periöken gegeben174 werden. Jene 4500 wären offenbar die Inhaber der Staatsmacht geworden; die 15000 aber würden ihnen wenig nachgestanden haben, nachdem aus ihren Reihen jene Ergänzung des herrschenden Standes geschehen. Der Staatsstreich gedieh nur bis zur Verjagung der widerstrebenden Ephoren und des Mitkönigs und wurde dann gekreuzt durch einen tückischen Oheim des Agis, welcher seine großen Güter zu behalten gedachte; alles wurde rückgängig, und Agis ging im Kerker unter. Seine Witwe aber wurde jetzt Gemahlin des Kleomenes, des Sohnes jenes feindlichen Mitkönigs und gewann ihn heimlich für die Gedanken ihres ersten Gatten; das Übrige tat Sphairos, einer jener Stoiker, welche seit dieser Zeit nicht selten als Lehrer und Beichtväter politischer Idealisten auftreten. Als Schattenkönig unter der Herrschaft der argwöhnischen Ephoren mußte nun Kleomenes Krieg erheben, um nur zu einiger Geltung zu gelangen, und zwar gegen den achäischen Bund, jenen Verein sehr geschwächter Poleis, welcher damals gegenüber von Makedoniern, Stadttyrannen und raubsüchtigen Aetoliern das offizielle Griechenland vorstellte; dabei aber war er kläglicher Weise auf tarentinische und kretische Söldner angewiesen, während er die Spartiaten in kleine Scharen trennen und möglichst auswärts verteilen mußte um sie ohnmächtig zu halten. Sein Staatsstreich (226 v. Chr.) konnte nur damit beginnen, daß er an der Spitze jener Söldner in Sparta einzog; es folgte Ermordung der Ephoren, Zerstörung ihrer Sitze, Verbannung von 80 Leuten und eine Rede des Kleomenes, worin er dem versammelten Volke Schuldentilgung, neue Landverteilung und Dotierung seiner Söldner ankündigte. Eine Auswahl vonA18 letztern mußte zu Spartiaten erklärt werden, »damit Stadt und Gebiet nicht mehr wegen Wenigkeit der Verteidiger Gefahr liefen, eine Beute von Ätolern und Illyriern zu werden«. Eine falschere politische Stellung als die, welche in diesem Augenblick der heraklidische König einnahm, ist schwer zu erdenken.

Hierauf gaben er und sein näherer Anhang und endlich alle Bürger ihren Besitz her und das Land wurde wirklich neu verteilt. Die einzige Zahl, welche diesmal überliefert wird, ist die, daß es wieder »viertausend[131] Schwerbewaffnete« gegeben habe, indem Kleomenes die Bürgerschaft (πολίτευμα) aus den fähigsten Periöken ergänzte, welche wie im Projekt des Agis die Dorer an Zahl sehr weit überholten. Der letzte König des andern Hauses war ermordet worden175; um nun nicht Alleinherrscher zu heißen, nahm Kleomenes seinen eigenen Bruder Eukleidas zum Mitkönig an. Was von der Herstellung der lykurgischen Sitte und Lebensweise gerühmt wird, kann bei der kurzen und unruhigen Regierung, die ihm hinfort noch gegönnt war, kaum sehr erheblich gewesen sein; er mußte eilen, sich durch einen neuen Krieg zu befestigen und brach gegen die Achäer los. Aber seine rauschenden anfänglichen Erfolge trieben jetzt bisherige Gegner, den achäeischen Bund und die Makedonier unter Antigonos Doson, in ein sonst für unmöglich gehaltense Bündnis zusammen. Kleomenes seinerseits war der tatsächliche Verbündete der Ätolier und hoffte (zuletzt umsonst) auch auf Hilfe des Ptolemäos Euergetes von Ägypten; außerdem wird er die bedenkliche Sympathie des Demos mancher Achäerstädte genossen haben, welcher auf das spartanische Beispiel hin neue Landverteilung und Repudiation der Schulden hoffte, was damals das übliche Losungswort zu allen Umwälzungen war. Nach längeren Kriegsbewegungen (223-222), welche bei Polybios sehr umständlich behandelt sind, unterlag Kleomenes vollständig bei Sellasia und fuhr, nach kurzem Abschied inA19 Sparta, gen Ägypten. Sein und der Seinigen Ende in Alexandrien, in der Schilderung bei Polyb (V, 35 ff.) und Plutarch, sichern dieser letzten Schar echter spartiatischer Dorer ein ewiges Andenken.

Für alles, was fortan in Lakonien geschieht, gilt nun die Vorfrage, von welches Stammes Leuten die Rede sei? Noch Kleomenes hatte Tausende von Heloten um Geld, fünf Minen auf den Kopf, frei erklärt, woraus beiläufig zu ersehen ist, daß diesem StandeA20 bei aller Knechtung das Zusammensparen eines ansehnlichen Peculiums möglich gewesen war176. Außerdem wird gemeldet, daß bei Sellasia sämtliche (nunmehrige) Lakedämonier, also die aus Dorern und sehr viel mehr Periöken gemischten, 6000 an Zahl gefallen seien bis auf 200. Unter dem ganzen freien Volk des Eurotastales können also die Dorer seither nur noch eine verschwindend kleine Quote ausgemacht haben.

[132] Endlich war nun einmal ein fremdes Heer unleugbar in Sparta eingezogen, und Antigonos Doson, welcher Eile hatte nach Hause zu kommen, überließ das Volk unter den gnädigsten Ausdrücken seinem Zustande, wie er war. Geschichtsschreiber, aus welchen später Justin (XXVIII, 4) schöpfte, scheinen das Verhalten der Spartaner bei der Nachricht von Sellasia noch ganz im Sinne der alten Schönmalerei geschildert zu haben, so daß man meinen sollte, eine solche Bevölkerung hätte auch ihr weiteres Schicksal mit der höchsten Würde tragen und selber lenken müssen. Jedenfalls konnten damals die vorhandenen freien Einwohner, wenn sie die innere Fähigkeit dazu hatten, ungestört von außen ihr Dasein neu und auf vernünftige Weise einrichten. Allein diese Zeit war in ganz Griechenland die der allgemeinen Zersetzung; auch das ganze Tun des Kleomenes war eine jener Revolutionen gewesen, welche nur in Verbindung mit Erfolgen nach außen können in eine feste Bahn gelenkt werden, nach Niederlagen aber erst recht aufflammen; endlich war man nicht ungestraft Erbe von Altsparta, seinem Hochgefühl und der Überlieferung des Frevels bei den einzelnen Individuen. Vom übrigen Griechenland her konnte die volle Demokratie mit ihren Gelüsten und Gewalttaten, aber auch die Tyrannis in ihrer wüsten Spätgestalt sturmgleich über Sparta daherbrausen und es innerlich widerstandslos vorfinden. Irgendwann einmal ist allgemeine Gleichheit erklärt worden177 und es fragt sich nur, ob auch die Heloten daran Teil erhielten, von deren Dienstbarkeit später nicht mehr deutlich die Rede ist. Ein riesiges Standbild des Demos178, ragend in der Nähe der Agora, mag in diesen traurigen Zeiten errichtet worden sein. Die Überlieferung wird überhaupt lückenhaft, und welches, zwischen wütende Gewalttaten hinein, jedesmal die Gestalt des nunmehrigen Staates gewesen, läßt sich nicht mehr genauer ausmitteln. Von Sparta ist nämlich fast nur noch gelegentlich, bei Anlaß seiner zeitweiligen Feinde oder Verbündeten, des achäischen Bundes, der Aetolier und der makedonischen Politik die Rede. Die Handelnden und Leidenden aber sind jetzt fast lauter Nichtdorer, welche das in Blut und Staub liegende Gewand des ehemaligen Dorerwesens angezogen haben und dessen Fortsetzer zu sein begehren.

Ephoren – jetzt wohl ohne Zweifel Achäer – machen Parteiung und werden ermordet, mehr als einmal von ihren Amtsgenossen oder vom sogenannten »Volk«, welches dann neue wählt. Auch Geronten fallen durch Mord, und selbst der Tempel der Chalkioikos und der Altar der Göttin schützen die Opfer nicht. Ein letzter Heraklide, ein Kind, wird zum einen König, ein gewisser Lykurgos, den man erst gegen Bestechung[133] zum Herakliden befördert, zum Mitkönig erhoben, und dieser wird zweimal verjagt und kehrt wieder. Dazwischen regt sich das alte Rachegelüst gegen Messenien179 und Arkadien in neuen Fehden; ein makedonischer König rückt wieder in Lakonien ein und plündert und verwüstet diesmal das Land, doch ohne Sparta selbst nehmen zu können. Auf jenen Lykurgos (oder auch erst auf dessen Sohn Pelops) folgt dann der erste Herrscher, den man hier als Tyrannen bezeichnet, weil er mit den Ephoren aufräumte und ohne weitere Vollmacht herrschte, Machanidas; sein einzig mögliches Programm war Eroberung, zunächst im Peloponnes und zwar mit Hilfe von Söldnern, welche er natürlich nur hätte bezahlen können, wenn er von den bereits im Elend befindlichen Städten der Halbinsel eine nach der andern bis auf den Boden ausraubte; allein der achäische Bund hatte damals das letzte Glück einen fähigen Leiter und Kriegsanführer zu besitzen, den Philopömen, und dieser erlegte in offenem Treffen mit eigener Hand den Tyrannen in seinem Purpurmantel (207 v. Chr.). Die Tyrannis aber lebte weiter; es erhob sich, aus unbekannten Anfängen, der schreckliche Nabis, der selbst unter den Verrufensten, welche bei den Griechen Tyrannen geheißen haben, als einer der Ärgsten gilt. Die griechischen Verhältnisse gerieten um diese Zeit durch die Einmischung der Römer und deren Krieg gegen den jüngern Philipp von Makedonien aufs hohe Meer hinaus; was aber hier vorzüglich betrachtet werden muß, ist weniger das abwechselnde Bündnis des Nabis mit Rom und Makedonien als sein Walten im Innern, und dieses konnte sich folgerichtig entwickeln, weil ihm volle vierzehn Jahre dafür gegönnt waren (206-192). Bei seinen Kriegszügen – er nahm und behauptete u.a. Argos – könnte ihm außer Soldtruppen auch das Aufgebot des Volkes einigermaßen zur Verfügung gestanden haben; für seine sonstige Machtübung aber warb er ausgesuchte Verbrecher, den Abschaum von weit und breit her180; seinen Hauptanhang bildeten, wie es scheint, die Heloten181, welchen er die Weiber und Töchter ihrer ermordeten oder verjagten Herrn gab; da mögen auch die letzten Dorerinnen dem Sklaven oder auch dem Söldner anheimgefallen sein. Nabis war in einem Kompagniegeschäft mit den Piraten von Kreta, und auch was von Straßenräubern, Mördern und Tempeldieben im ganzen Peloponnes herumstrich, assekurierte sich bei ihm auf Unterkommen im Notfall. In Sparta selbst übte er Erpressung mit Hilfe ausgesuchter Foltern, das Hauptziel aber war die beharrlich verfolgte Ausrottung aller Dorer, welche irgendwie hervorragten, man[134] darf wohl hierunter den ganzen höheren Stand des Kleomenes verstehen, die Reste der Dorer sowohl, als die ausgezeichneten Achäer. Über den Aufenthalt derjenigen, welche sich hatten flüchten können, muß eine genaue Kontrolle stattgefunden haben; auch in fremdem Lande konnte der Unglückliche auf offener Gasse oder in seinem Quartier ermordet werden durch Sendlinge des Nabis, zumal durch Kreter, oder durch gewonnene Banditen der betreffenden Stadt selbst; ja man soll die Kosten nicht gescheut haben, Häuser zu mieten, welche an die Wohnung des Flüchtlings anstießen; durch eine Öffnung in der Wand traf ihn dann im Wachen oder im Schlaf der kretische Pfeil. Die Fehden des Nabis gehören in die Geschichte des achäischen Bundes und der römischen Politik, und es ist nicht rühmlich, daß der große T. Quinctius Flamininus ihn zwar mehrmals überwand, aber aus höherem Auftrag schlüpfen ließ. Dem spartanischen Staat wurde damals sein Südrand, d.h. seine Seestädte abgesprochen und als Gebiet der später sogenannten »freien Lakonen« dem Schutz des achäischen Bundes unterstellt, dies aber wollte dann Nabis rückgängig machen, sobald die Römer abgezogen waren. In dem daraus entstandenen Krieg mit dem achäischen Bunde fand er Hilfe und Zuzug von den ebenfalls mit Rom unzufriedenen Aetoliern; der Anführer dieser Zuzüger jedoch begann damit, den Tyrannen zu ermorden, und in den darauf folgenden Wirren rückten die Achäer unter Philopömen ein und erzwangen den einstweiligen Anschluß an ihren Bund, ja sogar an ihre achäische Sitte und Erziehung182 mit Verzicht auf die lykurgische. Diese letztereA21 unnütze Härte rief den heftigsten Widerstand hervor bei einer Bevölkerung, welche zwar selber achäisch war, aber das alte dorische Wesen viel höher schätzte. Der Rest der Geschichte Spartas ist sehr kümmerlich; auf neue schreckliche Wirren durch einen Demagogen Chäron (um 180 v. Chr.) mit Landverteilung und Mordtaten183 folgt noch eine achäische Intervention; Sparta wendet sich dann mit beständigen Klagen an den römischen Senat, und dieser läßt die Dinge absichtlich in der Schwebe; diese Verhältnisse aber sind dann noch eine Mitursache des letzten achäischen Krieges geworden, der dem achäischen Bunde und noch vielem andern griechischen Treiben auf immer ein Ende machte.

Sparta genoß später wie Athen eine ganz besondere Gunst des römischen Philhellenismus, welchem ja durch griechische Lehrer und Schriftwerke unablässig das Lob des lykurgischen Staates und Lebens ins Ohr geträufelt wurde184. Und wenn Römer unter den Kaisern nach Sparta[135] kamen, fanden sie Ephoren und Gerusie in ihren Lokalen beratend vor, und die Jugend lag dem ganzen alten gymnastischen Kursus ob, versetzte sich im Platanistas die furchtbarsten Stöße und Schläge und ließ sich am Altar der Artemis Orthia blutig geißeln wie vor Zeiten. Auch das Kampieren im Freien, die einfach dürftige Bekleidung konnte man noch beobachten »und sonst Manches, was andern hart und sauer erscheinen würde185« – und was vielleicht auch Folge der Armut war. Einen ganz besonders altertümlichen Eindruck mochte auch die Fülle von Gottesdiensten in den sehr zahlreichen größern und kleinern Heiligtümern hervorbringen. In Eifer und Gedankenlosigkeit erzählt etwa ein Autor damalsA22 im Präsens, was in eine weit entlegene Zeit gehört. »Das erste Signal zur Schlacht gibt dem Lakedämonier die Flöte« – so lautet es noch in einer lucianischen Schrift186. Jedermann scheint in der tröstlichen Gewißheit zu urteilen, daß man es mit den Abkömmlingen des alten herrschenden Volkes, der Dorer, zu tun habe, und nicht nur in Rom, sondern auch in Griechenland mochte man wirklich keine nähere Kunde von dem haben, was über Sparta ergangen war, und viel eher gerneA23 glauben, daß dortA24 noch ein tüchtiger Rest der alten Volkssubstanz am Leben sei.

In Tat und Wahrheit aber muß das dorische Geblüt, zumal seit dem Aderlaß durch Nabis, so viel als völlig verschwunden gewesen sein. Schon unter all den Leuten, welche z.B. bei Livius (XXXVIII, 30-34) in den Händeln zur Zeit des Philopömen auftreten, war wohl kaum mehr ein einziger echter Dorer und auch die »exules« sind keine solchen. Dafür hatten alle achäischen Nichtdorer und Halbkasten, welche seither im Eurotastal wohl oder übel weiter lebten, sich der dorischen Lebensweise nach Kräften bemächtigt und ahmten wenigstens das Äußerliche vom Tun ihrer untergegangenen Herrscher so viel als möglich nach. Das Dorische war das Vornehme gewesen, zu welchem man einst mit Neid und Haß emporgestaunt hatte; jetzt hinderte niemand mehr die Bevölkerung, sich dasselbe anzueignen, und die Fremden nahmen es ja so gerne für echt und ursprünglich. Die Ruhmlust ist eines derjenigen Mysterien der griechischen Nation, welche diese am meisten von andern Völkern[136] unterscheiden. Als Staat und Besitz den Dorern aus den Händen schwand, war das Glanzbild des alten Lakonentums längst eine Macht im griechischen Leben überhaupt und hatte sich der ganzen Nation, Freund und Feind, in unzähligen einzelnen Zügen lebendig eingeprägt; dieses Erbe, vom Mythus abwärts bis auf das Andenken des letzten Kleomenes, betrachten nun die spätern Inhaber von Grund und Boden, als wäre es von jeher nicht nur ihr Eigentum, sondern ihr Werk gewesen.[137]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1956, Band 5, S. 91-138.
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