4. Zyklische Dichter, Rhapsoden und spätere Epiker

[98] Die zyklischen Dichter haben den Namen von ihrem durchgängigen Bestreben, ihre Gedichte mit denen Homers zu verknüpfen, daß das Ganze einen großen Zyklus bildete109. Diese Gedichte wurden blindlings geradezu auch dem Homer zugeschrieben110; doch haben genauere Nachrichten unterscheiden gelehrt, wie die einzelnen Partien auf einzelne Dichter zu verteilen sind.

Der Zyklus enthielt vor allem die Fortsetzung der Ilias (Penthesilea, Memnon, Tod und Bestattung Achills, Wahnsinn und Selbstmord des Aias, Philoktet, Neoptolem, Odysseus vor der Einnahme Trojas, die Einnahme selbst, die Abfahrt der Griechen), und zwar war dieser Stoff in der »Äthiopis« und der »Zerstörung Trojas« von Arktinos, sowie in der »kleinen Ilias« von Lesches behandelt, deren letzter Teil gleichfalls »Zerstörung Trojas« hieß111. Die der Ilias vorangehenden Geschichten stellte der Kyprier Stasinos in den »Kyprien« mit einer langen Vorgeschichte dar, die mit der Erzeugung der Helena ihren Anfang nahm. Die Abenteuer der Rückfahrt schilderten die »Heimkehren« (νόστοι) des Hagias von Trözen, eine Fortsetzung der Odyssee war die Telegonie des Eugammon von Kyrene. Es gab ferner im Zyklus eine »Thebais« und »Epigonen« von einem unbekannten Dichter, ferner eine Ödipodie, ja eine »Theogonie« und »Titanomachie«, denn laut Proklos112 umfaßte der Zyklus die Mythen von der Vermählung des Uranos und der Gäa bis zur Tötung des Odysseus durch Telegonos113.

Von den Dichtern lebte Arktinos von Milet um den Anfang der Olympiadenrechnung, Lesches von Mytilene um die XVIII. oder XXX. Olympiade, Stasinos und Hagias in unbekannter Zeit, Eugammon erst um die Mitte des VI. Jahrhunderts. Neben ihnen möge hier flüchtig auch die zyklische Dichtung Hesiods erwähnt werden, die sogenannten Eöen,[98] die wiederum mit dem »Frauenverzeichnis« (κατάλογος γυναικῶν) in einem vielbesprochenen Zusammenhang standen und von denen die ersten 56 Verse des, wie es scheint, sonst nachhesiodischen »Heraklesschildes« ein Fragment sind114.

Wann der epische Zyklus seinen letzten Abschluß gefunden hat, ist unbekannt; es geschah wohl erst durch einen der alexandrinischen Gelehrten; sicher aber konstatierte in ihm die Nation mit Eifer und Anstrengung diejenigen Überlieferungen, in welchen ihr Leben bildlich im tiefsten Sinne geschildert war. Diese Dichter trafen den Heroenmythus und Göttermythus offenbar noch in lebendiger Bewegung an und haben ihn wie eine Art volkstümlicher Offenbarung fixiert, und aus dieser Fundgrube konnten dann nicht nur die Dramatiker, sondern auch die Maler115 ihre Stoffe massenhaft entnehmen; der Zyklus enthielt nicht bloß das Vor- und Nachhomerische, sondern eine Masse von Seitensagen und Varianten der homerischen Ereignisse selbst. Zu beachten ist auch hier, daß es Laien sind, welche die Mythen sammeln und redigieren, daß es ihrer viele sind, daß sie voneinander abweichen dürfen und daß sie ihre Namen nennen.

Was aber für uns dunkel bleibt, das ist die Frage, wie weit diese zum Teil noch ziemlich alten116 Dichter noch Aöden waren, und wie weit man sie sich als Rhapsoden oder bereits zum Teil als gelehrte Sammler vorzustellen hat. Wo hörte bei ihnen die Naivität auf und begann die literarische Absicht? Welchen Punkt des Übergangs von der großen, freien Poesie zur Literatur bezeichnen sie? Dies läßt sich im einzelnen nicht mehr konstatieren; aber Spätere betrachten die Zykliker und die ihnen verwandten Epiker schon völlig als Schriftsteller, Apollodor z.B., der sie wohl noch vor sich hatte, ja exzerpierte, zitiert: »Der, welcher die Thebais, der, welcher die Alkmäonis geschrieben hat«117, und diesem Umstande müssen sie auch ihr Weiterleben verdankt haben; denn bei den Rhapsoden scheinen sie frühe verblichen zu sein, und nur Homer und Hesiod scheinen im Munde derselben weitergelebt zu haben.


Die Rhapsoden aber waren für alles, was lebendig erhalten bleiben sollte, unentbehrlich und blieben es für Homer auch, als er längst aufgezeichnet[99] und kritisch gesichtet war; denn öffentliche Bibliotheken gab es noch lange nicht, und Homer, zumal der ganze, war ein teures Buch118. Sie sind die spätern Nachfolger der Aöden, die teils wettweise bei Festen, z.B. gesetzmäßigerweise bei den Panathenäen, teils einzeln auf Begehren bei Gelagen und andern Anlässen einzelne Partien119 im Zusammenhange, wie dies das Wort »Rhapsode« zu sagen scheint, vortrugen. An und für sich vertraten sie wohl alles und jegliches, und so lebten auch andere Dichter neben ihrer gesicherten schriftlichen Existenz durch sie noch weiter; wir wissen z.B. von den Gedichten des Archilochos, daß sie zu Athen von einem gewissen Simonides von Zakynthos, der dabei auf einem Stuhle saß, in den Theatern rhapsodiert wurden, und auch lebende Dichter, welche im Falle waren, sich vor versammeltem Volke, zumal in Olympia, vernehmlich zu machen, waren genötigt, sie als Rezitatoren zu verwenden120, da dieses Rezitieren nicht mehr Sache einer mittlern und wenig geübten Stimme war121.

Man mochte nun den Rhapsoden nachsagen, daß sie den tiefern Sinn Homers nicht verstünden, und sie überhaupt – vermutlich als Banausen, weil mit ihrem Berufe Anstrengung verbunden war, – einer gewissen Inferiorität zeihen122; wer die alten Epiker genießen wollte, hielt sich doch an sie, die gewissermaßen das wandelnde Buch waren. Nikeratos, den sein Vater Nikias angehalten hatte, den ganzen Homer auswendig zu lernen und der sich bei Sophisten eine spezielle homerische Gelehrsamkeit erworben hatte, hörte sie gleichwohl fast jeden Tag123, und[100] Plato124 sagt, wenn jemand ins Blaue hinein einen Agon ausschriebe, so würden sich alle möglichen Leute: Rhapsoden, Kitharöden, tragische und komische Dichter und selbst Gaukler melden; von den Zuschauern aber würden die Kinder den Wundermännern den Sieg erteilen, die größern Knaben dem Komiker, die gebildeten Frauen, die jungen Leute, vielleicht die Mehrzahl überhaupt der Tragödie; »wir Alte aber würden, wenn wir einen Rhapsoden die Ilias oder die Odyssee oder etwas aus den hesiodischen Dichtungen schön vortragen hörten, sagen, daß dieser weitaus Sieger sei«. Es ist zu beachten, daß hier nur Homer und Hesiod genannt werden.

Während nun von den Zyklikern fast nur gelehrte Notiz genommen wurde, lebte Homer durch die Rhapsoden, die – offenbar a potiori – auch Homeristen genannt wurden, auch in der Diadochenzeit weiter. Noch der schlimme Kassander war »homerfreundlich« und wußte von dem Dichter das meiste auswendig; Demetrios von Phaleron (317-307 v. Chr.) ließ die Homeristen im Theater zu Athen auftreten, wo sie ohne Zweifel pflichtgemäß genau rezitieren mußten, und es mag die Einführung einer regelmäßigen Rezitation damals in Athen ganz zweckmäßig und erwünscht gewesen sein. Noch im großen Theater zu Alexandrien rezitierte der Komiker Hegesias den Hesiod und Hermophantos den Homer125.


Als Haupterbin des Epos hätte man die Kunst müssen gelten lassen, weil sie allein eine stets gegenwärtige neue Schönheit vorzubringen hatte und der Mythus in Relief und Malerei ewig jung weiterleben konnte; aber nach dem frei Poetischen kommt eben, wie schon gesagt, das Literarische, und auf vermeintlich ergründete Gesetze des Ursprünglichen hin entsteht unvermeidlich das Sekundäre, immerhin reich in seiner Art und mit Zügen des Ursprünglichen versetzt, die wir sonst nicht kennen würden. Ins einzelne läßt sich die Entwicklung vom Gesang zur bloßen Literaturgattung nicht verfolgen, sicher aber ist, daß bei den Griechen »der Hexameter mehrere Jahrhunderte hindurch immer noch die hauptsächliche kunstmäßig ausgebildete Form der Poesie, Erzählung von Begebenheiten die allgemeine Lust des Volkes war, und daß der heroische Mythus, wenn man in die Sage der einzelnen Stämme und Städte einging, einen unerschöpflichen Reichtum hatte126

Daher entstand fortwährend eine Menge epischer Dichtungen, deren Interesse aber offenbar vorwiegend im Inhalt lag und sich verlor, als die[101] Logographen die darin behandelten Sagen in kürzern Schriftwerken zusammenfaßten. Sie sind alle verloren: die Phoronis, die Danais, die Minyas, die Atthis, die Theseis, die Europia, die Einnahme von Öchalia, die Heraklee und Ödipodee des Spartaners Kinäthon (Ol. 5), auch alles von Eumelos und dem Samier Asios, ferner die Heraklee des Peisandros von Kameiros (Ol. 33), welchen die Alexandriner allein neben Homer und Hesiod in den Kanon der Epiker aufnahmen, und ebenso die von Herodots Verwandten Panyasis von Halikarnaß, endlich aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges die Thebais des Antimachos, eines schon sehr weitschichtigen und für die Lektüre schaffenden Dichters.

Aber schon die Menge von Titeln gestattet einen Schluß auf den Reichtum dieser Produktion, und nun möge man dazu die Tatsache halten, daß durch die lange Anwendung des Hexameters, die sich bei einem Empedokles und Parmenides selbst auf Philosophie erstreckte, und durch das lange Ausbleiben der Prosa vieles Erzählende von selbst zu einem Mittelding zwischen Epos und Chronik wurde. An die Rückkehrgedichte (νόστοι) hängten sich vielleicht ziemlich direkt die Erzählungen der Stadtgründungen (κτίσεις), d.h. eine umständliche Kolonialdichtung; wenigstens wird von Xenophanes, dem Kolophonier (um Ol. 60), berichtet127, daß er, als Flüchtling in sizilischen Städten lebend, in 2000 Hexametern die Gründung Kolophons und die Kolonisierung von Elea in Italien dargestellt habe. Und vielleicht ist es nur Zufall, daß wir nicht auch von poetischen Bearbeitungen zeitgeschichtlicher Ereignisse etwas wissen, wie sie im Drama versucht wurden und bei den Serben auch in der Epik ihren Platz fanden.

Aber freilich einem stärkern Eindringen des Historischen in die Poesie stand die Macht des Mythus im Wege128, und so wissen wir auch nicht viel von der epischen Behandlung einer historischen Vergangenheit, die sagenhaft schön oder pathetisch brauchbar war. Chörilos von Samos, der bekannte Leibdichter Lysanders, der um 400 den Perserkrieg darstellte, begann sein Gedicht mit der Klage129, daß die Wiese der Dichtung nicht mehr wie ehedem unabgemäht, sondern alles verteilt sei und die Künste ihre Vollendung erreicht hätten, so daß er mit frischgeschirrtem Wagen nirgends mehr ankommen könne, womit nicht sowohl die Erschöpfung des Mythus, der ja der ganzen Schar der Alexandriner noch Stoff bot, als die der Naivität in der Behandlung gemeint sein mag130. Außer den Perserkriegen bot die griechische Geschichte freilich auch weniger lohnenden[102] Stoff als die römische; denn die Dichter hätten nicht wie Lucan und Silius ein Weltreich, sondern nur ihre Polis zu verherrlichen gehabt. Über einen historischen Epiker aber hätten wir doch gerne näheren Bericht, nämlich über Rhianos aus Kreta, einen Dichter in der Richtung der alexandrinischen Schule, der im III. Jahrhundert den zweiten messenischen Krieg darstellte, und den Pausanias umschreibt, während er für den ersten Krieg aus dem Historiker Myron schöpft. Wenn man nur wüßte, wie groß sein schaffendes Verdienst um die wundervolle Gestalt des Aristomenes war! Er war polygraphischer Epiker und dichtete außer den Messeniaka eine Heraklee, Eliaka und Thessalika. Vielleicht hatte schon er eine rein populäre, vorzügliche Dichtung vor sich, die er eher verderbte.

Es war die Bestimmung des Epos, außer durch die bildende Kunst durch andere Dichtungsarten abgelöst und ersetzt zu werden, wenn der Geist der Nation eine andere, unmittelbarere Ausdrucksweise erreicht hatte, wobei eine spätere Erneuerung als gelehrtes Kunstepos immerhin vorbehalten war. Innerhalb seines Hauptsubstrates, des Mythus selbst, erwuchsen ihm zwei Konkurrenten, nämlich derjenige Zweig der höhern Lyrik, der durch Stesichoros und Pindar vertreten ist, und die ganze Tragödie, und in dieser letztern wiederum sind speziell epische Teile, einzelne Chorgesänge wie der des Agamemnon, welcher das Opfer Iphigenias darstellt, und sodann die Berichte der Boten – denken wir z.B. an den im koloneischen Ödipus und den im rasenden Herakles, – welche das Erzählende in einer neuen, überaus ergreifenden Form vertreten. Wenn das Drama über die Welt gekommen ist, verliert das Epos seine Jungferschaft.[103]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. XCVIII98-CIV104.
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