7. Die didaktische Poesie

[117] Wie alt sind bei den verschiedenen Völkern Gesetz und Lehre in rhythmischer oder Gesangsform? Auch bei den Griechen ist die alte Voraussetzung für alles Feierliche und Gebietende zugunsten derselben, und Delphi gibt seine Bescheide meist in Hexametern. Aber einen Lehrstand, und zwar einen priesterlich-politischen, wie ihn eine eigentliche Gesetzgebung in poetischer Form voraussetzt, haben die Griechen wenigstens in historischer Zeit nicht gehabt, und von den spartanischen Rhetren, deren ohnehin nur ganz wenige waren, ist es zweifelhaft, ob sie prosaische oder rhythmische Gestalt gehabt. Für die didaktische Poesie der Griechen aber handelt es sich um etwas ganz anderes, nämlich um rhythmische Sprichwörter und Lebensregeln, und zwar vorzugsweise des Bauernlebens, doch mit Erweiterung ins Gnomische überhaupt.

Und nun mag der Name Hesiods ein Appellativum sein167, jedenfalls waren die Griechen überzeugt von dem Dasein eines ganz bestimmten alten Dichters, welcher als ein zwar von den Musen geweihter, aber weltlicher Lehrer seiner Nation aufgetreten sei und dem damals herrschenden Leben und seinem Gesichtskreis entsprochen habe. Sie hielten es für eine hochwichtige Leistung, daß dies geschehen. Für ihre Vorstellung von dem Dichter mochten sie sich darauf berufen, daß ja an vielen Stellen ganz deutlich ein bestimmter und bestimmt situierter Mensch spricht.

Hesiod ist mindestens so alt als Homer. Was seine Zeit, sein Land und den Charakter von dessen Volk, seine Heimatstadt, sein Leben und dessen Verumständungen betrifft, so verweisen wir auf die treffliche Darstellung bei O. Müller168. Für uns tritt in erste Linie die Frage: Wie muß man sich dasjenige zuhörende und memorierende böotische (und hernach das gesamthellenische) Volk vorstellen, welches der Träger dieser Dichtung wurde, als sie vielleicht noch gar nicht aufgezeichnet war? Diese Frage stellen wir uns zunächst für die Werke und Tage169 und beantworten sie mit Müller dahin, daß dieses Publikum jedenfalls noch keinen Haß gegen das Banausische hatte und die Griechen noch nicht »aus Landwirten Politiker« geworden waren170. Dieses böotische Bauernvolk ist es auch,[117] welches die Sammlung dessen, was vielleicht erst spät bei ihm noch als hesiodisch galt, weiterpflanzte. Es macht dem intellektuell so tief geschätzten Stamm alle Ehre, daß er so vieles aus alter Zeit durch mündliche Überlieferung gerettet hat; zugleich bewies er damit, daß er in alter Zeit eines solchen Sängers würdig und zur Aufnahme von dessen Gesang fähig gewesen.

Wir haben es bei Hesiod mit subjektiver Poesie zu tun, welche in diesem Sinne Gegenpol und Ergänzung der objektiven homerischen ist. Selbst in der Theogonie (1-35) gibt der Sänger umständlich an, wie ihn, den Hesiod, die Musen auf dem Helikon berufen und geweiht, und in den Werken und Tagen spricht er als Paränet fast beständig in eigenemA5 Namen und die Mythen, welche er erzählt (Prometheus, Pandora, die fünf Weltgeschlechter) sind, was die homerischen nie sind, ad probandum erzählte Tendenzmythen. Sehr ernst und altertümlich ist das Verhältnis zu seinem nichtsnutzigen Bruder Perses171, und vielleicht darf man sagen, daß sich aus dem Konflikte mit diesem Hesiods dichterisches Vermögen überhaupt entwickelt habe. Er will wirklich dessen Willen und Gesinnung bessern, ihn abwenden von der Sucht, sich durch Prozesse zu bereichern, und den Entschluß zur Arbeit als einziger Quelle dauernden Wohlstandes in ihm beleben. Mythische Erzählungen, Tierfabeln, Sentenzen usw. sollen den Hauptgedanken recht eindringlich machen. Dann folgt im zweiten Teil, wie Perses, wenn er diesen Weg einschlagen wolle, Arbeit auf Arbeit folgen lassen müsse, nach der Jahresordnung, freilich mit befremdlicher Unterbrechung durch sonstige Haus- und Sittenregeln, und endlich kommen die Ratschläge für die Wahl der zu den Geschäften geeigneten Tage. Dies alles ist paränetisch, ohne einen bukolischen Zug. Hesiod will ja nicht die Reize des Landlebens oder die Gefühle der Bauern besingen. Dies Leben ist ein hartes, und der Bauer hat nicht die Muße des Hirten; auch über das Klima von Askra klagt der Dichter172. Echt spartanisch konnte König Kleomenes sagen, Homer sei ein Dichter der Freien, Hesiod einer für Heloten.

Der höhere poetische Zug, der das Ganze über die bloße Lehrabsicht hinaushebt und zusammenhält, ist von O. Müller richtig erkannt als der religiöse: »es sind die Fügungen und Einrichtungen der Götter, die die Gerechtigkeit im Menschenleben schützen, die Arbeit als den einzigen Weg zum Wohlsein gegeben und das Jahr selbst so geordnet haben, daß[118] jegliches Werk seine rechte und den Menschen erkennbare Zeit darin findet«, und dabei ist das Ganze, schon von den Eingangsmythen an, vom Pessimismus völlig durchzogen. Während aber die Orientalen das Paränetische und Paränetisch-Gnomische, das wohl im Besitz aller alten Völker ist, in Gestalt einer priesterlichen Gesetzgebung haben173, sind die Werke und Tage bei aller religiösen Grundabsicht doch völlig laienhaft, das Privatwerk eines Dichters, oder, wenn man will, eines Bauern. Ein König wie Salomo, oder Pseudo-Salomo, will Hesiod nicht sein.

Eine andere Frage ist, wie er im Großen seine Dichtung an die Leute brachte, und ob er auch Aöde war. Als er bei der Leichenfeier des Amphidamas zu Chalkis im Wettgesang auftrat (652 ff.), muß er als solcher gegolten haben. Aber hier war wohl der Inhalt seiner Dichtung der Ruhm und die göttliche Abstammung jenes Geschlechtes, und so mag auch sonst, wo er Episches dichtet, also für die Theogonie, wenn sie von ihm ist, und für die Eingangsmythen der Werke und Tage Aödengesang vorausgesetzt werden174. Sonst aber wird das letztere Gedicht nicht Aödenpoesie sein, sondern der Dichter gibt sich darin wesentlich als Landmann; und doch wurde er im vollsten Ernste ein Lehrer der Nation.

Bezeichnend ist, daß der Hexameter bereits auch hier, für volkstümliche Wahrnehmungen, Mahnungen und Regeln der selbstverständliche Vers war. Was aber den Stil betrifft, so spricht aus dem Gedichte eine große, altertümliche Naivität. Wir sehen hier den Anfang eines Stils, das Primitive, noch nicht das Ausgeglichene. Hesiod ist viel altertümlicher in seiner Art, oder wirkt wenigstens so, als Homer in der seinigen.

Der jetzige Zustand der Werke und Tage ist freilich trümmerhaft. Eine lange, bloß mündlich fortlebende paränetische Poesie schrumpft ein, während eine epische sich erweitert, daher man denn wohl bei der schriftlichen Aufzeichnung nur noch einen sehr ungleich erhaltenen Hesiod vorvorgefunden haben mag, und diese Aufzeichnung selbst fand spät statt und war ungleich und zum Teil willkürlich fragmentarisch. Man wollte in dem Gedichte haben, was zum Vorrat dieser populären Poesie gehört haben mag – gleichviel ob es in seiner jetzigen Form Hesiods Worte enthielt oder nicht; was aber vielleicht jedermann vorrätig haben wollte, war ein Anruf an die Musen zum Preise des Zeus, das Lob der guten Eris, d.h. des Agons im Bauern- und Bürgerleben, eine Klage, daß die Götter den Menschen die Nahrung verderbten, samt dem Mythus von[119] Prometheus und Pandora, der gewiß sehr populär war und hier reicher als in der Theogonie gegeben ist, sodann ein Gesang über die verschiedenen (hier fünf) Menschenalter, als lautes Programm des Pessimismus. Das übrige ist Paränese im weitesten Sinn des Wortes, von sehr verschiedenem Stil, und darauf (auch zwischen hinein) kommen die Regeln des Bauernlebens. Dies alles muß dem Volkssinne völlig gemäß gewesen sein, indem es sich sonst in der mündlichen Überlieferung nicht erhalten hätte; die jetzige Anordnung freilich ist teilweise ganz irrationell. – Die Tagewahl am Schlusse besteht zum Teil aus versus memoriales, die im Munde der Landleute am Leben waren, auch wenn kein bestimmter Dichter sie geschaffen175.


Die Theogonie., von deren religionsgeschichtlicher Bedeutung in diesem Werke früher die Rede war176, ist, wenn sie auch bei den Böotern nicht als sicher hesiodisch galt, und so verschieden ihr Inhalt ist, mit den Werken und Tagen gleichwohl auf alle Weise nahe verwandt177. Auch hier haben wir es mit einem wirklichen Didaktiker, einem Lehrer seiner Nation zu tun; und zwar ist es ein böotischer Sänger, sei es Hesiod selbst oder ein Abkömmling von ihm oder ein Sänger seiner Schule – weitere Rhapsodenzutaten, z.B. in der Titanomachie, mögen vorbehalten sein –, welcher neben Epos und Hymnus eine dritte Gattung hinstellt: die Kosmogonie und die für die Griechen davon untrennbare Theogonie, und damit eine Darstellung der Kausalität, der Ableitung des Reiferen und Vollkommeneren durch Zeugung gibt.

Schwierig und meist unmöglich ist es, den Verfasser als Denker und Dichter zu beurteilen; man weiß nie sicher, was schon vor ihm vorhanden war. Bei den Griechen wurde er immer mit Homer parallel, in gleich hohen Ehren genannt und vorgetragen. Sie trauten ihm zu, daß er das Ganze geschaffen habe; er selbst betont auf das höchste die Inspiration durch die Musen, welche als die wahren Offenbarerinnen gelten sollen178. Auch hier ist die Poesie vollkommen laienhaft; hätten Priester die Hände darin gehabt, würde alles anders lauten. Allermindestens lernen wir in den ausgeführten Partien einen großen Darsteller kennen, und groß[120] altertümlich, bisweilen nur düster andeutend ist die Ausdrucksweise in der ganzen Art, wie sich die Urmächte, z.B. Gäa (159 ff.) regen und äussern, halb als Urgewalten, halb als bewußte oder wie in düsterm Traum sich bewußt werdende Individuen. Es herrscht eine ähnliche wilde Pracht wie in der Edda.

Gewiß brachte der Dichter mit der öffentlichen Rezitation eine gewaltige Wirkung hervor, wie etwa Homer mit der Nekyia. Er, und vielleicht er allein kam dem größten Bedürfnis der Nation entgegen, denn alles spätere Didaktische steht schon in Betreff des Gegenstandes viel tiefer und kann auch in der Darstellung nicht mehr jene urtümliche Macht entwickeln; während die Theogonie noch zur Nation redet, ist es bloßes Literaturprodukt und nur kleinern Kreisen bestimmt, nicht mehr von ferne in demjenigen großen und innigen Bezug zum nationalen Geiste, der aus ihr spricht. Sie ist aber auch jedenfalls von den Rhapsoden viel gesungen worden, mehr als die Werke und Tage, da sie sangbarer als diese ist; diesem Umstande haben wir auch ihre genauere Überlieferung zu verdanken179.

Für die Personifikationen des Allgemeinen mochte dem Dichter der Geist der Nation sehr entgegenkommen, und dennoch muß die Stelle von den Kindern und Enkeln der Nacht (211 ff.) höchst ergreifend und neu gewesen sein. Und gleich darauf kommt dann das Geschlecht des Pontos: Nereus und die Nereiden, an sie reiht sich eine von den Geschwistern des Nereus stammende Welt von Ungeheuern: Graien, Gorgonen, Echidna, Chimära usw., und dann folgt erst noch Tethys und Okeanos und ihr Geschlecht: die süßen Wasser, Flüsse und Quellen. Von einzelnem erinnern wir ferner an die rätselhafte Verherrlichung der Hekate (411-52) und an die heimliche Geburt und Rettung des Zeus (457-91). Ganz beiläufig und als etwas den Hörern Bekanntes erfahren wir (535) den Opfervergleich der Götter und Menschen zu Mekone, woran sich der Feuerraub des Prometheus und die Rache des Zeus mittelst der Pandora schließt; sehr grandios, ob sie spätere Zutat sei oder nicht, ist die Titanomachie (von 617 an), zumal (678 ff.) der Aufruhr aller Elemente, bis die Glut auch das Chaos erfaßt und endlich die Fesselung der Titanen in dem großartig angedeuteten Tartaros. Auf diese Exekution hin wirkt die Sage von Typhoeus (820 ff.) nicht mehr; der Rest (von 880 an) ist Zutat und lautet eher wie versus memoriales180.


Die Philosophie entsagte gleich von Anfang an dem Verse, und die älteste aufgezeichnete griechische Prosa, die vorhanden ist, sind ein paar[121] philosophische Sätze des Pherekydes von Syros181. »Überhaupt hängen Prosa und schriftliche Aufzeichnung so eng zusammen, daß man wohl behaupten darf, wenn bei den Griechen die Schrift früher in allgemeine Übung gekommen wäre, würde die Poesie nicht so lange die einzige Bewahrerin des edlern Lebens der Nation geblieben sein«182. Doch ist es wohl nicht richtig, ihre Annahme zugleich damit zu motivieren183, daß es sich hier eben um Äußerungen für wenige, nicht um Vortrag bei Festen und Spielen gehandelt habe. Die Prosa der öffentlichen Rede vor Volksversammlung und Gericht ging doch an viele und zwar von jeher; bei den Philosophen aber wird die Prosa den Vorzug eher wegen ihrer Präzision bekommen haben, und einige von ihnen wandten den Hexameter dennoch auf die Philosophie an, weil sie sich dem Gedächtnis besser fixieren wollten; auch ließ wenigstens Empedokles seine Weihesprüche in Olympia durch einen Rhapsoden vortragen184.

Übrigens ist die Prosa, in welche Pherekydes eine wildgewachsene, offenbar mit der orphischen verwandte Theo-Kosmogonie kleidet, noch gewaltsam poetisch genug: »Zeus und Chronos und Chthonia (die Urerde) waren von Ewigkeit. Chthonia heißt Ge, seit Zeus ihr die Ehre gegeben ... Weiterhin wandelt sich Zeus in Eros, da er die Welt aus dem Urstoff in schöne Ordnung umbilden will; er bildet ein großes und schönes Gewand, darauf malt er Erde und Ogenos (Okeanos) und die Häuser des Ogenos und breitet das Gewand über eine geflügelte Eiche.« In ähnlicher Weise ist auch die Prosa des Heraklit voll gewaltsamer Bildlichkeit, nachdem eine schlichte Prosa bereits mit Anaximander und Anaximenes begonnen hatte185.

Von den Philosophen nun, die sich des Verses bedienten, verfaßte Xenophanes (um 500 v. Chr.), abgesehen von seinen historischen Gedichten und Elegien186, ein episches Gedicht über die Natur, das er selber an Festen und wohl auch sonst vortrug. Bei ihm erklärt sich die poetische Form gegenüber von der Prosa der Ionier durch die begeisternde Grundidee der eleatischen Schule, den Theismus-Pantheismus des »Ein und Alles« (ἓν καὶ πᾶν). – Auch Parmenides, der vielleicht noch sein Schüler war, faßte seine Lehre vom Sein, so abstrakt sie ist, in die hexametrische[122] Form. Der Titel lautete auch hier: »Von der Natur«; er führte zum Teil die Dike, als ihn belehrend, als redende Offenbarerin ein, und die Einleitung, bis er zur Dike gelangt, ist sehr großartig. – Ebenso hieß das Werk des Empedokles von Agrigent, der erweislich erst um 444 blühte, »Von der Natur«187. Er geht wieder in eine gewaltsam mythische Ausdrucksweise zurück als der letzte, der dies so vermocht hat; denn die vorhandenen orphischen und poetisch pythagorisierenden Reste sind meist spät und auf alle Weise verdächtig188. In Prosa wäre er kaum denkbar. Er beginnt mit Jammer als ein wegen Verbrechen zu einer Seelenwanderung von 30000 Jahren verurteilter Gott, der schon Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel und Fisch gewesen und nun auf dieser Erde voll Bosheit und Unglück wandern müsse. Auch seine eigentliche philosophische Lehre, die Leugnung des Neuentstehens zugunsten der ewigen Wandelung, ist noch stark bildlich. Außerdem hat er wie Lukrez) einzelne umständlich ausgeführte Bilder, wie das von den Malern (134), das von der Laterne (220), das von der Wasseruhr (350)189.


Die Gewöhnung an den Hexameter und die Wünschbarkeit des Vorlesens in Gegenwart vieler und wohl auch der leichtern sachlichen Einprägung in der Art der versus memoriales, vollends aber der Wunsch der spätern Gelehrten, zugleich elegant und Dichter zu sein, verbunden mit der großen Leichtigkeit des Hinwerfens, rief nun neben den Prosaabhandlungen auch fortwährend poetische Bearbeitung aller möglichen Stoffe hervor. Natürlich ist dabei der Ernst des Lehrens lange nicht so groß und tief als bei Hesiod, geschweige daß diese Lehrdichter in einem gleichen Verhältnisse zur Nation gestanden hätten. Von derjenigen innern Notwendigkeit, welche ihn und die Poeten-Philosophen antrieb, von dem halb-ethischen Lehramt in der Dichtung ist hier keine Rede mehr; an dessen Stelle hat sich ein für Spezialisten Wissenswürdiges gedrängt in mühsam gelehrter Behandlung, und die Poesie wird sich unvermeidlich mit schönen Episoden schadlos gehalten haben. Ob hier schon von einer gewollten Popularisierung der Wissenschaft zu sprechen ist, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls wußte jedermann, daß neben diesen Gedichten, welche den Anspruch machten, eine Wissenschaft zu überliefern, auch eine präzise und schulmäßige Überlieferung von ganz[123] anderm Ernst existiere190. Merkwürdigerweise werden neben diesen Dichtern Schriftsteller erwähnt, welche umgekehrt den Mythus nicht episch, sondern in Prosa behandelten; so der Sage nach schon Aristeas von Prokonnesos in seiner Theogonie, ein Dionysios von Mitylene in seinen Argonautika usw.

Es gab nun eine astronomisch-astrologische Poesie, die nach einer dunkeln Stelle Herodots191 ihren Ursprung in Ägypten gehabt haben soll. Die Phainomena des Aratos aber, der im III. Jahrhundert unter Antigonos Gonatas dichtete, enthielten von Astrologie nichts und hatten dafür in den Diosemeiai einen meteorologischen Anhang. Sie waren nichts als eine poetische Umarbeitung eines Werkes von Eudoxos, die dem Dichter von seinem Könige aufgetragen war192, haben aber viele Bewunderung erregt und wurden von Cicero, Varro Atacinus, Germanicus und Avienus ins Lateinische übersetzt; auch sind noch vier Kommentare erhalten. Die Astrologie stellte sich dann bei dem späten Pseudo-Manetho und dem Römer Manilius im Lehrgedicht wieder ein.

Ein bedeutender Lehrdichter war Nikandros von Kolophon, derselbe, der durch seine Heteroiumena (Metamorphosen) Ovid die erste Idee zu seinem Gedichte gab. In seinen Theriaka und Alexipharmaka, welche reichlich kommentiert worden sind, eröffnete er die medizinische Poesie, worin er u.a. in der Kaiserzeit in Marcellus von Side einen Nachfolger bekam, der die ärztlichen Dinge in nicht weniger als 42 Büchern in Hexametern behandelte. – Der nämliche Nikandros steht aber auch als Verfasser seiner (verlorenen) Georgika, die Virgil mehrfach benützt haben soll, an der Spitze der den Landbau behandelnden Dichter (Geoponici und Georgici). – Jagd und Fischfang wurden von den Kynegetikern und Halieutikern besungen, von welchen letztern Athenäus (I, 22) ein (auch die Prosaschriftsteller enthaltendes) bis auf Oppian gehendes Verzeichnis gibt. – Auch Geographie in dichterischer Form gab es: Dionysios, der Perieget, dichtete in der Kaiserzeit seine Weltbeschreibung. Das Beste in dieser Gattung hat der Römer Ausonius in der Mosella geleistet.

Und nun endlich das poetische Kochbuch. Seinen Ursprung hat es in Sizilien, wo zuerst ein von Plato193 erwähnter Mithaikos ein Werk über die[124] heimatliche Küche verfaßt und Epicharmos seine Komödien gedichtet hatte, deren Fragmente zu drei Vierteln vom Essen handeln. Hier verfaßte schon ein Zeitgenosse des jüngern Dionys, Archestratos von Gela oder von Syrakus, der für diese Kunde sogar weit in der Welt herumgereist war, im ernsthaftesten, gebietenden Lehrtone des Hesiod und Theognis seine Hedypatheia, d.h. gastrologische Regeln und Beschreibungen aller möglichen Eßgegenstände194. Andere folgten ihm nach. So gab es ein Gedicht über eingepökelte Fische, das Euthydemos von Athen dem Hesiod zuschrieb195; ferner wird ein gewisser Numenios als Verfasser einer poetischen Kochkunst (ὀψαρτυτικά) und ein Rhodier Timachidas genannt196, der einen ähnlichen Stoff in elf Hexameter-Büchern behandelte. Ein berühmtes »Gastmahl« hatte, wie früher (S. 94) erwähnt, den Homerparodisten Matron zum Verfasser. Schon in die Zeit des ältern Dionys gehört der Dithyrambiker Philoxenos, ein berühmter Fresser und Abenteurer, dessen »Gastmahl« aber nicht die epische Form, sondern die des Dithyrambos hatte, zu geschweigen von andern Autoren, von denen nicht sicher ist, ob sie sich der Prosa oder der Poesie bedient haben.

Man wird bei diesen Didaktikern, soweit wir sie kennen, immer wieder einzelne Elemente großer Schönheit finden, die uns sagen, daß wir es mit einer feinfühligen Nation zu tun haben, die hier ihr Übermaß von Schönheitssinn ausgibt.[125]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CXVII117-CXXVI126.
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