1. Allgemeines

[148] So wie zur Musik der Griechen eine Parallele mit der musikalischen Entwicklung anderer alter Völker nötig wäre, so würde auch die Entfaltung der lyrischen Poesie nach Gattungen, um ein kulturhistorisches Resultat zu gewähren, bei den Griechen und den übrigen Kulturvölkern in Parallele behandelt werden müssen. Und einigermaßen ließe sich wirklich der griechischen Lyrik, so wenig vollständig wir sie besitzen, die mehrerer abendländischer Nationen zur Seite stellen, obwohl doch immer nur die Dichtung und nicht die begleitende Musik. Bei Griechen, wie bei Abendländern seit dem XI. Jahrhundert, ist es eine freie, auf Verschiedenheit der Gegenden, Meister und Schulen beruhende, laienhafte Entwicklung – woneben die religiöse Musik und Poesie ihr besonderes Feld innehat – mit darauf folgender Ausgleichung vom Lokalen zum mehr Nationalen. Mit den asiatischen Völkern dagegen wird eine Parallele kaum möglich sein.

Es kann nun bei den Griechen eine Zeit gegeben haben, da außer dem Epos und den beiden Gattungen, die Hesiod vertritt, nur Volksmelodien mit Refrains vorhanden waren. Auf diese mythisch-epische, religiöse, festliche, jahreszeitliche Kunst hin entstand die griechische Lyrik dann als eine völlig spontane Schöpfung, nicht wie die abendländische, welche allermindestens den lateinischen Kirchenhymnus zum Präzedens hatte. Die Elegie kann als eine sehr große Neuerung, als eine Art Abfall erschienen sein.

Der stärkste Gegensatz zur griechischen ist die heutige Lyrik. Diese kennt absolut keine äußern Schranken und kein Gesetz als das, welches sie für sich selbst sucht, und sucht ferner von dem Gedruckten aus ihren Weg zu den Genießenden; die griechische dagegen war durch ihre Verbindung mit Gesang, Geselligkeit, Instrument und Tanz an eine umständliche Lehre und äußere Ausübung gebunden, so daß sie unmöglich in alle Lüfte zerstäuben konnte.

[148] Unsere Betrachtung der griechischen Poesie macht nicht den Anspruch einer übersichtlichen Literaturgeschichte; wir haben es nur mit der Poesie als einer freien Äußerung des Lebens und als einer nationalen Kraft zu tun. Die Nation, die einzelnen Stände nehmen je nach Zeit und Gegenden den verschiedenartigsten Anteil daran, und der Akzent liegt bald da, bald dort. Von den epischen Rhapsoden abwärts gerät die Dichtung in die verschiedensten Hände; aber sie bleibt hohe Kunst, die Formen werden auf das äußerste respektiert, es dauert lange, bis man von der ältern zu einer neuen übergeht, und geschieht erst, nachdem schon aller mögliche Inhalt in die vorhergehende gegossen worden ist. So wächst sich die Poesie langsam und konsequent aus; die einzelnen Gattungen lösen sich ab, wenn die Stunde ihrer Reife gekommen ist; keine auswärtige Literatur, keine Religion mit auswärtigen Urkunden tritt störend dazwischen: so ist denn auch in der Darstellung die Aufzählung nach den Formen eine unvermeidliche.

Eine große Anzahl von Dichtern genoß eine Zelebrität von Anfang an und behauptet sie auf die Dauer, indem auch ihre Verflechtung in die Schicksale und Taten der Zeit ihnen nichts von ihrer Unvergänglichkeit benahm. Ihre Dichtungen wurden frühe und gewiß sehr vollständig gesammelt, und es ist nur Sache des Mißgeschickes, daß außer den Tragikern und Pindar so wenig gerettet worden ist. Die spätern Griechen waren im vollen Besitz ihrer poetischen Urkunden und empfanden dieselben mit dem Bewußtsein einer darin vollzogenen Entwicklung.

Poesie und Volkstum, ja Poesie und Bürgertum entsprachen sich noch. Für diese Dichtung gab es noch keine Trennung zwischen Gebildeten und Ungebildeten; jedem Freien war sie selbstverständlich zugänglich; von ihrer ursprünglichen Grundlage, dem Mythus, wußten Arm und Reich gleichviel, ebenso wie der Kultus eine Sache jedermanns war. Und dabei war sie doch eine hohe Kunst.

Wieweit war das Metrische, das nun in beispielloser Freiheit und Vielseitigkeit sich entwickelte, Sache jedes Hörers? Ohne Zweifel hatte das beständige Einüben von Tänzen und von Chören für Kultus und Festlichkeiten das Ohr auch des gemeinen Mannes in hohem Grade ausgebildet. Immerhin war dann die chorische Lyrik, wenn auch dem Volke verständlich, doch eine schwierige, dreiseitige Kunst, und der Meister selbst bedurfte einer genauen Schulung; daher denn bei chorischen Lyrikern und bei Tragikern die Lehrer auch für das einzelne Fach genannt zu werden pflegen299. Während heute jeder, sobald er aufgehört hat, auf[149] dem Gymnasium zu skandieren, für alles weitere Autodidakt wird, waren hier Dichterschulen mit Lehrern und Schülern vorhanden, und da die Dinge für schwierig galten und es zum Teil ganz unstreitig waren, liegt nicht hierin für uns das Fremdartige, sondern darin, daß man Gattungen und einmal gewonnene Formen dauernd hochhielt.[150]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1957, Band 7, S. CXLVIII148-CLI151.
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