Die Anspannung Roms


2. Die Anspannung Roms.

[363] Mit welchen Kräften Rom den zweiten punischen Krieg geführt hat, kann einigermaßen daraus berechnet werden, daß wir für eine Reihe von Jahren bei Livius Angaben über die Zahl der vorhandenen Legionen haben, die den Stempel einer amtlichen Aufzeichnung tragen. Welche Stärke die Legionen hatten, wie weit sich der Istbestand vom Sollbestand entfernte, wieviel Bundesgenossen oder Söldner noch hinzukamen, wieviel Schiffsvolk mitzuzählen ist, darüber haben wir wenig Anhaltspunkte. Überdies stimmt die Zahl der angegebenen Legionen öfter nicht mit den Zahlen, die man erhält, wenn man die einzeln namhaft gemachten zusammenaddiert, so daß bei der Berechnung Fehler unterlaufen sein müssen. Trotzdem läßt sich bei sorgfältiger Vergleichung und Abschätzung aller Einzel-Daten wohl ein annähernd richtiges Resultat gewinnen. Die beste Grundlage bietet wieder Beloch außer seinem Buche in dem Nachwort, das er der Abhandlung von Cantalupi zugefügt hat (Studi di Storia antica I p. 42), wodurch die ältere Untersuchung von SCHEMANN, »De legionum per alterum bellum Punicum historia« (Bonner Dissertation 1875) überholt ist.

Den sechs Legionen, mit denen Rom den Krieg nach Livius begann, sind noch hinzuzuzählen Besatzungstruppen in Sizilien, Sardinen und Illyrien, die zusammen auch auf 1-2 Legionen zu schätzen sind, so daß im ganzen etwa 34000 Mann zu Lande unter Waffen waren.[363]

Über die Komplettierung des Heeres nach Cannä enthalten die Quellen Widersprechendes. Der Fehler ist aber zu erkennen und auszuscheiden.

Livius XXII, 57 erzählt erst, daß 4 Legionen, zum Teil aus praetextatis ausgehoben seien, dann die Aushebung von 8000 Sklaven. XXII, 14 berichtet er weiter, daß 6000 Verbrecher und Schuldgefangene eingestellt worden seien. Das ergäbe im ganzen 71/2 Legionen zu den 10 noch vorhandenen. Im nächsten Jahre aber hören wir von ihm (XXVI, 11), daß, um 18 Legionen zu erreichen, 6 neue gebildet worden wären. Man fragt: woher sind die Männer dazu gekommen, da man im Jahre vorher schon zu Sklaven, Sträflingen und Unerwachsenen die Zuflucht genommen hatte?

Wären die Legionen aber wirklich gebildet worden, so hätte man ja nicht 18, sondern 23-24 gehabt. Diese Legionen sind also entweder ganz oder zum Teil Doublette: sie umfassen alle die Truppenteile, die überhaupt nach Cannä noch im Jahre 216 und 215 errichtet worden sind. Die Reihenfolge wird die gewesen sein, daß zunächst aus Sträflingen, Resten der vorhergehenden Aushebung und Prätextaten zwei Legionen formiert wurden, zwei aus Sklaven; und die beiden letzten erst im nächsten Jahr, 215, als wieder ein Jahrgang etwas reifer geworden war. Diese aus den ganz jungen Leuten gebildeten Legionen sind die urbanae, die im ersten Jahr in der Stadt bleiben, um ausgebildet zu werden und zugleich der Hauptstadt als Besatzung zu dienen.

Von den überlieferten Zahlen der Legionen will Beloch streichen 1) eine Legion auf Sardinien seit 215, wo die Insel nicht mehr bedroht war und 2 Legionen zu viel gewesen wären, 2) 2 Legionen an der gallischen Grenze als Doublette; dieselben nicht existenten Legionen erscheinen auch vor Capua; 3) die legiones urbanae. In den beiden ersten Punkten, namentlich dem zweiten, stimme ich ihm zu, bezüglich der legiones urbanae aber nicht. Beloch beruft sich darauf, daß die Erzählung des Polybius (IX, 6,6) von der Bedrohung Roms durch Hannibal im Jahre 211 die Voraussetzung, daß die Stadt eine ständige Garnison gehabt habe, ausschließe. Das ist richtig, aber diese Erzählung selbst ist legendär und kann gegenüber der wiederholten ganz bestimmten Aussage des Livius nicht als beweisend angesehen werden. Sehr gut über die legiones urbanae in ihrer dreifachen Eigenschaft als Ersatz-, Garnison- und Rekruten-Legionen, von welchen Eigenschaften bald die eine, bald die andere vorwog, handelt STEINWENDER, Philologus Bd. 39, S. 527.

Nach der Einnahme von Syrakus und Capua (211) trat eine kleine Reduktion der Armee ein. Die ältesten Jahrgänge wurden entlassen und einige Legionen aufgelöst. Als Hasdrubal aus Spanien nahte, im Jahre 207, wurden abermals Sklaven in die Legionen eingestellt, und nach dem Siege am Metaurus traten wieder Reduktionen ein.

Für die Menge der römischen Bürger haben wir die überlieferten[364] Zensurzahlen und die von Polybius aufbewahrten Zahlen der Wehrfähigen aus dem Jahre 225. Von den verschiedenen Auslegungen, die diese Zahlen erfahren haben, habe ich mich in der ersten Auflage derjenigen von Beloch angeschlossen und bin auf Grund dessen zu dem Ergebnis gekommen, daß das militärische Aufgebot nicht weniger als 91/2% der Bevölkerung betragen habe. Zu demselben Ergebnis ist ED. MEYER gekommen in Conrads Jahrbüchern Bd. 70 1897, S. 59) und in dem Artikel »Die Bevölkerung im Altertum« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«. »Im Hannibalschen Kriege«, heißt es hier, »haben jahrelang über 20 Legionen, d.i. mindestens 70000 Mann, ohne die Bundesgenossen unter Waffen gestanden, d.i. nahezu 30% der erwachsenen männlichen und fast 10% der gesamten freien Bevölkerung.«

Seitdem hat nun NISSEN, »Italienische Landeskunde« Bd. II, Einleitung § 9, die Untersuchung von neuem aufgenommen und ist auf die Meinung Mommsens zurückgekommen, wonach die überlieferten Zensuszahlen nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur die tabulae juniorum wiedergeben. Dies sowie einige andere Korrekturen führen NISSEN dazu, die Bevölkerung Italiens zu Hannibals Zeit etwa doppelt so hoch wie Beloch, auf 7 Millionen, anzusetzen. Hierauf hat Beloch in einem Aufsatz in der KLIO (Bd. III, S. 471,1903) eingehend geantwortet und seine Auffassung mit m. E. durchschlagenden Gründen verteidigt; höchstens bis zu 5 Millionen Seelen für die Halbinsel gesteht er zu. Der schwache Punkt Nissens ist, daß er die Differenz zwischen dem letzten vorliegenden republikanischen Zensus, v. J. 70/69 – 910000 civium capita, nicht in Harmonie zu bringen vermag mit dem Zensus des Augustus v. J. 28, der 4063000 ergibt.

Nissen will (S. 118), daß in die 4 Millionen eingerechnet seien erstens alle Männer vom Eintritt der Mündigkeit ab, zweitens selbständige Frauen, drittens begüterte Waisen. Aber es ist klar, daß diese Modifikation der Zählart die Zahlen der juniores noch lange nicht hätte verdoppeln können; ebensowenig reicht natürliche Vermehrung und Bürgerrechtsverleihung aus, um die Differenz zu decken. Es gibt keine andere Erklärung als diejenige Belochs, wonach seit Augustus nicht nur die Männer, sondern die Seelen gezählt wurden,182 und wenn dem so war, so geben die alten Zensuszahlen nicht bloß die juniores, sondern alle Männer.

Die Nachprüfung der Kontroverse hat mich jedoch an einem Punkt, wo ich schon in der ersten Auflage gewisse Zweifel geäußert habe und wo auch Beloch jetzt eine Konzession macht, zu einer wesentlichen Modifikation meiner Ansätze geführt. Es betrifft die numerische Stärke des römischen Heeresaufgebotes, welches ich gemäß der Zahl der Legionen, die als annähernd komplett angesehen wurden, im Jahre 216 auf 83000 Mann zu[365] Lande berechnete, eine Stärke, die annähernd einige Jahre nach der Schlacht bei Cannä durch fortwährende Einstellung der Jungmannschaften von neuem erreicht wurde. Rom hatte im Jahre 216 achtzehn, im Jahre 212/211 einundzwanzig (oder gar dreiundzwanzig) Legionen in Waffen.

Auch Beloch bekannte sich früher (Bevölkerung S. 383) zu der Ansicht, »daß zwischen 214 und 203 gegen 20 römische Legionen in Waffen gestanden haben, ist eine Tatsache, die sich in keiner Weise bestreiten läßt«. Jetzt will er, gestützt auf Polybius VIII, 3, die 20 (oder sogar 22 bis 23) Legionen für Renommisterei der römischen Annalisten erklären und meint er, daß Rom nicht mehr als acht Legionen im Felde gehabt habe, wovon nur vier in Italien. Das ist nun eine offenbare Entgleisung. Polybius sagt keineswegs, daß Rom acht Legionen im Felde gehabt habe, sondern er sagt, daß es in Italien zwei Heere unter der Führung der Konsuln gehabt habe und daß er darunter Zwei-Legionen-Heere verstanden habe, ist nicht nur nicht gesagt, sondern es wird direkt ausgeschlossen dadurch, daß er das Wort στρατόπεδον auch auf das Flottenkommando des Publius Scipio in Spanien bezieht. Wie wäre es auch möglich gewesen, daß die Römer mit bloß vier Legionen Capua wiedergenommen hätten, da Hannibal in den Jahren nach Cannä doch sicherlich noch über ein Heer von 40-50000 Mann verfügte? Auch gehen die bei Livius genannten Legionszahlen offenbar auf eine offizielle Aufzeichnung zurück, und die Erzählung über die Aushebung aus dem Jahre 212, auf die wir gleich noch kommen werden, trägt durchaus den Stempel der Glaubwürdigkeit. Dennoch hat Beloch einen richtigen Instinkt gehabt und mit einigen leichten Korrekturen darf seine Ansicht angenommen werden und kann noch durch andere sehr wuchtige Beweismittel unterstützt werden.

Wenn die zweiundzwanzig Legionen richtig wären, fragt Beloch, weshalb hat uns Polybius dann in dem Kapitel VIII, 3, wo er doch den Umfang der römischen Rüstungen eben in diesen Jahren schildern will, die Zahl der Legionen nicht genannt? Er wird es deshalb nicht getan haben, weil ein großer Teil dieser sogenannten Legionen kleine Körper von Garnisontruppen waren, die nur die Liebe der Römer für große Worte mit dem stolzen Legionsnamen geschmückt hat. Ich habe keinen Zweifel, daß uns in diesem Satz ein Erkenntnis erschlossen ist, die eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gleichzeitig verschwinden macht. Den strikten Beweis vermögen wir zu führen an den legiones urbanae.

In den Jahren 215 bis 212 bildet Rom jährlich zwei neue Legionen, die in Rom selbst ausgebildet wurden und zugleich die Garnison der Hauptstadt bildeten, und bringt auf diese Weise die Zahl von 14 Legionen, mit denen man ins Jahr 215 eingetreten war, allmählich auf 22. Bei der Heeresergänzung nach der Schlacht bei Cannä war die disponible Mannschaft völlig erschöpft, so daß man dazu schritt, Schuldgefangene und Sklaven einzustellen. Wenn man nun weiter in den nächsten vier Jahren immer wieder zwei neue Legionen aufstellte, so stand dazu nur der neu ins[366] achtzehnte Lebensjahr eingetretene Jahrgang zur Verfügung. Nach unsern Begriffen sind die Römer damit auf ein Lebensalter zurückgegangen, welches im allgemeinen noch nicht als kräftig genug zum soldatischen Dienst, geschweige denn zum Felddienst gelten kann. Praktisch wird es nicht so gewesen sein. Die Römer hatten keine Geburtsregister; das Alter der jungen Leute war also nicht so sicher zu bestimmen, und es mag oft genug vorgekommen sein, daß Unlustige ihr Alter zu gering angaben, um sich dem Dienst noch auf ein oder zwei Jahre zu entziehen. Dem wurde ein Riegel vorgeschoben, indem man schon die Siebzehnjährigen für stellungspflichtig erklärte, denn das hieß mit anderen Worten, daß die Aushebungsbehörde jeden, der ihr körperlich genügend entwickelt schien, nehmen konnte und den Einwand, der Ausgehobene habe noch nicht das gesetzliche Alter, der bei achtzehn bis zwanzig Jahren leicht gewesen wäre, nicht zu besorgen brauchte.

Die Zahl der erwachsenen männlichen Bürger betrug damals etwas über 270000, wovon etwa 25000 für die abgefallenen Capuaner abzurechnen sind. Der Jahrgang der Siebzehnjährigen beträgt im Deutschen Reich 3,13, in Frankreich 2,45% aller über 17 Jahre alten Männer.183 Der Altersaufbau der römischen Bürgerschaft war vermutlich demjenigen Frankreichs ähnlicher als dem Deutschlands; nehmen wir den Jahrgang der Siebzehnjährigen 23/4% stark an, so zählte es 6740 Köpfe, oder sagen wir, um sicher zu gehen, 7000 bis 7500. Davon gehen ab die Untauglichen. In Deutschland schwankt heute der Prozentsatz der bei der Rekrutierung für tauglich erklärten zwischen 52,7% (1898) und 59,9% (1896). Hierzu kommt jedoch die große Zahl derjenigen, die nur ganz kleine Fehler haben, der Ersatzreserve zugeschrieben werden und im Kriegsfalle zur Einstellung gelangen würden. Die Zahl der völlig Untauglichen hat im letzten Jahrzehnt nur geschwankt zwischen 8,5% (1903) und 6,9% (1904). Auf Rom übertragen stellt danach ein Jahrgang rund 6500 kriegsbrauchbare Rekruten, wahrscheinlich weniger. Davon gehen ab die Unabkömmlichen. Livius erzählt uns (XXIV, 18), wie im Jahre 214 die Listen der juniores revidiert und 2000 Mann gefunden worden seien, welche in den letzten vier Jahren nicht gedient hatten, ohne sich auf rechtmäßige Befreiung oder Krankheit berufen zu können (qui quadriennio non militassent, quibus neque vacatio iusta militae neque morbus causa fuisset). Also auch in dieser Zeit gab es außer der Krankheit rechtmäßige Dispense, und der Zusatz quadriennio in Verbindung mit der späteren Vorschrift, daß der Mann zu 16, im Notfall zu 20 Feldzügen verpflichtet[367] sei, läßt darauf schließen, daß eine gewisse Abwechslung stattgefunden hat, mit anderen Worten, die wirtschaftliche Unabkömmlichkeit, darauf hat Nissen mit Recht hingewiesen, hat bei den Aushebungen eine erhebliche Rolle gespielt, eine erheblichere, als auch ich früher in Rechnung gesetzt habe.

Annähernd die gesamten Männer vom siebzehnten bis zum sechsundvierzigsten Jahr in den Krieg zu führen, ist immer nur für wenige Tage möglich. Auf den kleinen Bauernhöfen, auf denen doch die große Masse der römischen Bevölkerung saß, mußte ein arbeitsfähiger Mann notwendig gelassen werden, oder allerwenigstens mußte auf einem Nachbarhof ein aushelfender Verwandter sein, wenn nicht Hungersnot und völliger wirtschaftlicher Zusammenbruch die Folge sein sollten. Das ist natürlich auch den Siebzehnjährigen zugute gekommen und ihnen ganz besonders, da man oft den Vater, der ein ausgebildeter Krieger war, hätte nach Hause gehen lassen müssen, wenn man der Bäuerin den heranwachsenden Sohn, der ihr zur Hand ging, genommen und an dem man einen bloßen Rekruten statt des ausgebildeten Kriegers gewonnen hätte. Wirtschaftlich und familiär freilig mag auch ein solcher Austausch gerade erwünscht gewesen sein; im Interesse der Kriegführung aber lag er nicht. Diese Auffassung wird bestätigt durch die Erzählung bei Livius (XXV, 3), daß im Jahre 212 außer den beiden neuzubildenden Stadtlegionen für die älteren in Italien stehenden Legionen Ergänzungsaushebungen beschlossen worden seien. Einen solchen Beschluß konnte man nur fassen, wenn die vorhergehenden Jahre von den vorhandenen Rekruten einen guten Teil übrig gelassen hatten. Zwar berichtet uns Livius weiter, daß tatsächlich die Rekruten für die Ausführung jener Beschlüsse nicht zugereicht hätten und daß man deshalb Nicht-Siebzehnjährige (d.h. solche, die sich für noch nicht 17jährig ausgaben), die die genügenden Kräfte zeigten, eingestellt hätte. Aber da der Ersatz für die alten Legionen, die jahrelang vor dem Feinde gestanden hatten, doch wenigstens 5000 bis 8000 Mann in Anspruch nahm, wenn er etwas bedeuten sollte, so war der Bedarf so groß, daß man auf alle Fälle mit sehr erheblichen Resten aus den letzteingestellten Jahrgängen gerechnet haben muß. Wir haben also von den etwa 6500 kriegsbrauchbaren Rekruten, die vorhandenen waren, für die tatsächliche Einstellung noch einen sehr erheblichen Abstrich zu machen, und da zwei Legionen mit der Reiterei in der Normalstärke 9000 Mann verlangten, so folgt, daß diese Legionen von vornherein weit unter der Normalstärke organisiert und, da sie bei der großen Jugend der Rekruten großen Abgang hatten, wohl schwerlich auch nur die Hälfte des Normalen zählten, wenn sie ins Feld rückten.

Das wirkt zurück auch auf die anderen Legionen. Wenn man sich in Rom einmal gewöhnt hatte, Körper, die schon bei ihrem Ausrücken vielleicht nur 2000 Mann zählten, als Legion zu bezeichnen, so sind wir nicht mehr genötigt, bei den Feldlegionen stets die annähernde Normalstärke vorauszusetzen; im Gegenteil, wir werden von vornherein uns veranlaßt fühlen, namentlich bei den Truppen, die schon länger im Felde standen, einen sehr erheblichen Abschlag zu machen, und Polybius wußte was er tat, wenn er[368] die Zahl der Legionen als Maßstab für das römische Heeresaufgebot überhaupt nicht verwertete.

Das Heer, das Hadsrubal im Jahre 207 seinem Bruder zu Hilfe über die Alpen führte, war gewiß nur sehr mäßig groß; ebenso war Hannibals Streitmacht sicherlich bereits sehr zusammengeschmolzen. Weshalb wären die Römer vor diesen beiden Heeren in so großer Besorgnis gewesen, wenn sie um die zwanzig wirkliche Legionen im Felde gehabt hätten? Weshalb mußte Nero seinen berühmten heimlichen Marsch zur Verstärkung des Nordheeres machen, wenn die Römer zwei wirkliche Legionen in Etrurien, zwei in Rom, eine bei Capua und außer der Feldarmee noch vier in Unter-Italien gehabt hätten?

Während ich früher annahm, daß die zweiundzwanzig Legionen etwa 80000 Mann stark gewesen wären, glaube ich jetzt auf 50-60000 heruntergehen zu können und zu müssen. Die Frage ist, ob auch für die achtzehn Legionen des Jahres 216, bei denen ausdrücklich berichtet wird, daß der Etat derjenigen beim Hauptheere auf 5000 Mann erhöht wäre, einen größeren Abstrich erleiden müssen, als wir ihn bisher angenommen. Natürlich waren sie dem Normalen erheblich näher als die Legionen der späteren Heere, und besonders die acht Legionen, die bei Cannä fochten und die beiden in Spanien werden annähernd komplett gewesen sein; bei den acht andern aber werden wir das nicht mehr anzunehmen brauchen, da die Aufgaben, die ihnen zugewiesen waren, tatsächlich nur mäßig starke Garnisontruppen verlangten. Setzen wir also für die zehn Hauptlegionen 45-47000 Mann an, so wird doch das Gesamtaufgebot nicht mehr als etwa 66000 Mann betragen haben.

Unsere Rechnung fuhrt also jetzt auf etwa 61/2% der Bevölkerung und mit Einschluß der Verluste 71/2% als Maß der militärischen Anspannung, während wir früher auf 91/2% kamen. Ich gestehe aber, daß ich gegen diese Zahl im Herzen schon immer Bedenken gehabt habe und sie nur niederschrieb, weil sich eben gegen die Berechnungen nichts machen zu lassen schien. Selbst 5% jahraus, jahrein, nach den enormen Schlachtverlusten ist schon eine so ungeheure Anspannung, daß wir vollauf damit zufrieden sein könnten und die Klagen der römischen Bürgerschaft, die uns reichlich genug überliefert werden, wohl verstehen können.

Soweit die römische Bürgerschaft in Betracht kommt, ist uns, wie wir sahen, das Kriegsaufgebot ziemlich genau bekannt. Die römischen Bürger machten aber nur ein Drittel der freien Einwohner der ganzen Eidgenossenschaft aus. Die Kriegslast war so verteilt, daß die Bundesgenossen zum Landheer ein etwas stärkeres Kontingent als Rom und außerdem den Hauptteil der Flotte stellten (socii navales). Hier hat nun unser Wissen ein Ende, wie viel von dieser Verpflichtung tatsächlich ausgeführt und nicht ausgeführt worden ist. Ein Teil der Bundesgenossen ging nach Cannä direkt zu den Puniern über; aber auch diejenigen, die den Römern treu blieben, werden schwerlich alle ihre Kräfte in derselben Weise angespannt haben, wie die Römer selbst, und jedenfalls konnte bei dem Abfall so vieler[369] der Satz, daß die Hälfte jedes Heeres von den Bundesgenossen gestellt werden solle, nicht aufrecht erhalten werden. Wie groß also tatsächlich die römischen Heere nach Cannä waren, wissen wir nicht, da die Quellen Angaben über die Stärke der jedesmaligen Bundesgenossen nicht bringen, und das ist für die Beurteilung der späteren Feldzüge, namentlich desjenigen von 207, ein wesentlicher Mangel.


Zur dritten Auflage. Das Problem ist, seit das Vorstehende geschrieben wurde, mehrfach nachgeprüft worden, besonders von BEVERSDORFF, Die Streitkräfte der Karthager und Römer im 2. pun. Kriege. Berl. Dissert. 1910; KROMAYER, Antike Schlachtfelder III, 476; ED. MEYER, Sitz.-Ber. der Akad. 1915, 948. KROMAYER will die Zahl der römischen Bürger wesentlich erhöhen durch die Annahme, daß in den Zensus-Zahlen die Männer über 60 Jahre ausgeschlossen seien und durch einige andere Korrekturen der Überlieferung. Nichtsdestoweniger stimmt er mit mir dahin überein, daß sehr viele von den bei Livius überlieferten Legionen zwar vorhanden, aber weit unter dem normalen Bestande gewesen seien. Wenn er dabei meint, daß ich zwischen konsularischen und Garnison-Legionen zu stark unterschiede, so beruht das auf Mißverständnis; ich pflichte in diesem Punkt seiner Darstellung völlig bei. Dahingegen seiner Annahme, daß die mehr als 60jährigen Männer nicht in den Censuszahlen enthalten seien, möchte ich nicht zustimmen, und die Vorstellung, daß 216 der Bestand an einziehbaren Bürgern so gut wie vollständig erschöpft gewesen sei, möchte ich festhalten. Denn wenn auch noch eine gewisse Anzahl kriegsverwendungsfähiger Männer zwischen 17 und 46 tatsächlich vorhanden waren, so werden doch die meisten von ihnen so unabkömmlich gewesen sein, daß man sie auch in dieser äußersten Not nicht einziehen konnte und lieber die Sklavenlegionen bildete. Ich möchte also bei meinen Ansätzen bleiben und sie nur insofern etwas mildern, als ich Kromayers Hinweis akzeptiere, daß im Winter viele Beurlaubungen, auch von ganzen Legionen stattgefunden haben.

Ed. Meyer hat seine früheren Ansätze insofern modifiziert (1915) als er das Landheer etwas heruntersetzt, dafür aber auch unter der Besatzung der Flotte etwa ein Drittel, das ist etwa 18000 römische Bürger, voraussetzt. Da ich annehme, daß dieser Ansatz sehr viel zu hoch ist und auf der Flotte in dieser Zeit nicht viel mehr als das Kommando national-römisch war, so darf ich bei meinen Ansätzen, daß das Gesamtaufgebot an römischen Bürgern im Jahre 216 66000, in den folgenden Jahren 50-60000 Mann betragen habe, verbleiben.

Die englische United service Gazette veröffentlichte 1905 (Nr. 3787) eine Berechnung über die Stärke der englischen Wehrmacht in der Napoleonischen Zeit. Danach zählte sie 1805 bei einer Einwohnerzahl von weniger als 17 Millionen rund 800000 Mann. Über die Leistungen der Völker im Weltkrieg 1914-1918 liegen amtliche Berechnungen noch nicht vor. Die Leistung des deutschen Volkes wird wenigstens das Doppelte der Leistung Preußens im Jahre 1813 betragen haben.[370]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 363-371.
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