Schlacht bei Belle-Alliance


Schlacht bei Belle-Alliance.

[58] Aber es wäre, wenn keine andere Quelle erhalten wäre, überaus schwer, ja fast unmöglich, aus ihr den sachlichen Zusammenhang des Ereignisses herauszufinden oder zu rekonstruieren. Treitschkes ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Persönlichkeiten, die Völker, die Krieger, die hier gefochten haben, zu charakterisieren und in den Seelen der Leser einen des ungeheuren Ereignisses würdigen Widerklang hervorzurufen, den denkbar stärksten Eindruck zu machen. Darüber werden ihm die einzelnen Vorgänge und ihre Verknüpfung etwas Nebensächliches, auf das er weniger achtet; um einer psychologischen Verbindung willen werden die chronologischen, auf die für den Zusammenhang alles ankommt, verschoben.

Wellingtons Defensivstellung wird mit dem Eigenschaftswort »fest« bezeichnet; man muß sich hüten, das Wort technisch zu nehmen, es ist bloß als Steigerung gebraucht.

»Ein tief eingeschnittener, von Hecken eingefaßter Querweg lief der Front entlang.« Die Schilderung trifft nur ein kleines Stück der Front.

Schon als die Preußen ihren Angriff gegannen (1/25 Uhr), soll Wellington seine Reserve »bis auf den letzten Mann« im Gefecht gehabt haben. Das ist, wörtlich genommen, durchaus unrichtig; Wellington hatte selbst am Abend um 8 noch eine ganz unberührte Division (Chassé) und eine sehr wenig gebrauchte (Clinton). Als Ausdruck für die ungeheure Spannung der Lage, die Anstrengung, die es Wellington kostete, seinen Posten zu behaupten, also sozusagen symbolisch genommen, mag man den Satz ruhig stehen lassen. Er enthält eine bloße Übertreibung, wie die »feste« Stellung und der »tiefeingeschnittene, von Hecken eingefaßte Querweg der Front entlang«. Nimmt man es aber positiv, so wird es unbegreiflich, wie die englische Schlachtlinie den Stoß der alten Garde Napoleons am Abend hat aushaken können.

Um 1 Uhr soll die Hauptmasse der preußischen Armee auf den Höhen von St. Lambert gewesen sein. St. Lambert ist nur 3/4 Meilen vom Rande des Schlachtfeldes entfernt. Wäre die Hauptmasse der preußischen Armee schon um 1 Uhr an dieser Stelle gewesen, dann wäre es so unverzeihlich wie unbegreiflich, daß Blücher erst so spät in die Schlacht eingriff.

Nachdem der mißglückte Angriff der kaiserlichen Garde gegen die englische Linie geschildert ist, fährt der Autor fort: »Indem hatte Blücher schon den Schlag geführt, der die Vernichtung des napoleonischen Heeres entschied«, nämlich die Erstürmung von Plancenoit.

Wer das »indem hatte Blücher schon« philologisch interpretiert, muß schließen, daß Plancenoit genommen wurde, während die Franzosen und Engländer noch mit einander rangen, und man muß um so mehr zu dieser Auslegung kommen, da vorher gesagt ist, daß schon vor dem Angriff der Garde die Batterien des preußischen Korps Zieten »weithin den rechten Flügel des Feindes bestrichen und bis in das französische Zentrum hinein sich die Schreckenskunde verbreitete, dort auf der Rechten sei alles verspielt.«[59]

Wüßten wir nun zufällig aus einer anderen Quelle, daß Plancenoit bereits 61/2 Uhr von den Preußen genommen wurde, während der Angriff der Kaiser-Garde erst gegen 8 Uhr stattfand, so würde jeder Zweifel ausgeschlossen erscheinen. Tatsächlich aber ist Plancenoit den Preußen nach der ersten Eroberung noch einmal wieder durch die französische Garde entrissen worden – welches ganze Zwischenspiel Treitschke übergangen hat – und die zweite Eroberung ist erst nach dem Scheitern des Angriffs der französischen Garde gegen die Engländer erfolgt. Da Plancenoit vollständig hinter der französischen Schlachtlinie lag, so wäre es unbegreiflich, wie diese Armee hätte davonkommen können und nicht abgeschnitten und gefangen genommen worden ist, wenn Treitschkes Erzählung richtig wäre.

Die Genesis des historiographischen Fehlers ist offenbar die, daß es dem Autor allein darauf ankam, den Umschlag der Entscheidung mit möglichster Kraft zu schildern und dabei den Anteil der Preußen gebührend ins Licht zu setzen; der eigentliche taktische Zusammenhang berührt ihn weniger, so daß er das »indem ...hatte ...schon« als eine bloße Konjunktion verwendet, ohne sich des sachlichen Zusammenhangs, den er damit konstruiert, bewußt zu werden.

Treitschke ist nun keineswegs etwa ein inexakter Geschichtsschreiber; im Gegenteil, er hat alle Quellen sorgfältig und kritisch studiert und auch auf die Einzelheiten sehr wohl geachtet. Für den taktischen Vorgang aber hat er wenig Interesse; diese Seite der Dinge wird von seinem Gesichtspunkte nicht gefaßt, und eben darum ist das Beispiel dieser seiner Schlachtschilderung so lehrreich. Keine einzige von den Quellen, die uns die germanisch-römischen Kriege erzählen, ist an tatsächlicher Exaktheit mit Treitschke auch nur entfernt zu vergleichen, dahingegen das rhetorische Moment noch viel stärker und ungebundener wirksam, wobei wir uns hüten müssen, den Begriff »rhetorisch« bloß als »Wortgeklingel« zu fassen. Ist die Rhetorik auch wirklich sehr oft zu bloß äußerlicher Dekoration herabgesunken, so ist sie hier doch als das gemeint, was sie eigentlich sein sollte, die wirkliche Kunst der Rede, die der Ausdruck der starken, inneren Empfindung, des Pathos des Erzählers ist.

Keineswegs darf man nun etwa diese Beobachtung verallgemeinern und von der Unzuverlässigkeit aller historischer Berichte sprechen. Es gibt viele Arten der Geschichtsschreibung, die unterschieden werden müssen. Auch die Erzählungen Herodots, Xenophons, Polybius', Cäsars haben ihre Fehler, aber sie sind ganz andere Natur und entspringen anderen Quellen, als die Treitschkes oder Tacitus'. Die Fehler, die wir in Treitschkes Darstellung von Belle-Alliance aufgedeckt haben, würde keiner von den vorgenannten Historikern gemacht haben, und für unsere Art der Betrachtung sind sie fundamental; für Treitschke, dem alles auf Charakteristik und Eindruck ankommt und ebenso für seine Leser sind sie durchaus nebensächlich, und ich bin, so bekannt der Hergang dieser Schlacht ist, vielleicht der erste Kritiker, dem die Fehler überhaupt aufgestoßen sind und der sie notiert hat, weil[60] wir glücklicherweise noch gewohnt sind, dieses Buch als Kunstwerk und nicht als »Quelle« zu benutzen. So wenig wie Treitschke nehmen wir auch Tacitus etwas von seinem eigentlichen Wert, wenn wir jede einzelne Wendung seiner Erzählung mit Skepsis betrachten und die Möglichkeit statuieren, daß Verbindungsglieder und große Zusammenhänge bei ihm völlig ausgefallen sind.

Während die Forscher bisher von dem quellenkritischen Grundsatz ausgegangen sind, daß Tacitus' Darstellung ein richtiges und zuverlässiges Bild der Ereignisse sei und nur richtig und exakt interpretiert, höchstens hier und da ergänzt oder korrigiert werden müsse, möchte ich behaupten, daß es ganz falsch ist, aus seinen rhetorischen Bildern und Satzverbindungen wirkliche Situationen herausinterpretieren zu wollen, und daß man umgekehrt von vornherein sicher sein darf, daß er in noch viel höherem Grade, als etwa Treitschke in der Schlacht von Belle-Alliance, der Ergänzung und des Zurechtrückens bedarf, um den wahren Kausalnexus hervortreten zu lassen.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 58-61.
Lizenz: