Der Häuptlingsadel.

[332] Quellenzeugnisse, die uns mit direkten Worten das Emporwachsen von Adelsfamilien während der Völkerwanderung erzählen, haben wir natürlich nicht, aber die Einzeltatsachen und Ereignisse lassen über den Vorgang dennoch keinen Zweifel übrig.

Nirgends haben die Quellen technisch präzise Ausdrücke, durch die der hohe Beamten- oder Offizierstand von dem Adel geschrieben würde, sondern es werden immer allgemeine, umschreibende Ausdrücke gebraucht, die »Ersten«, die »Weisesten«, die »Edelsten«, die »Angesehensten« des Volkes, eine Ausdrucksweise, die den Übergangszustand, das Ineinandergehen von Amt und Stand ganz treffend wiedergibt.

Ich habe folgende Stellen teils selbst gesammelt, teils aus DAHN, Könige II, S. 101; III, S. 28, S. 50; V, S. 10, S. 29, übernommen. primates et duces Visigothorum, Jord. c. 26. primates c. 48; c. 54. optimates, Ammian 31, 3; 31, 6. εὖ γεγονότες, Malchus, S. 257. »generis tua honoranda nobilitas« schreibt König Theodahad an einen seiner Grafen, Cass. Var. X, 29. φυλώ ἡγεμόνες; ἀξιωματι καὶ γένει προήκοντεσ, Eunapius, p. 52. λογιμωτατοι, Procop I, 2. I, 3. πσεσβύτεροι, II, 22. ἄρι στοι, II, 28. III, 1. λόγιμοι, I, 13. εἴ τι ἐν Γότθοις καθαρὸν ᾖν, I, 13. πρῶτοι, I, 7.[332] I, 12. Witiges wird zum König gewählt, obwohl οἰκίας οὐκ ἐπιφάνους Procop I, 11.

Die Dahl der gleichstehenden Führer der Goten, die in der Zeit, wo kein König vorhanden ist, genannt werden, ist, wie Dahn (V, 21) mit Recht hervorhebt, ziemlich groß: Muthari, Gaina, Saul, Sarus, Fravitta, Eriulf, Alarich.

Sarus, der sich fortwährend als Frondeur gegen die Balten bemerklich machte, hatte doch nach Olympiodor. p. 449 (zit. Dahn V, 29) nur 200 bis 300 Mann.

Diese Häuptlinge können weder lauter alte Fürsten, principes, im Sinne des Tacitus sein.

Noch können sie ein bloß aus dem Hofdienst hervorgegangener Adel sein.

Noch können sie nur die Führer von bloß vorübergehend gebildeten militärischen Einheiten gewesen sein. Der Verband, an dessen Spitze sie standen, muß notwendig ein sehr fester, organischer gewesen sein.

Es bleibt also nur übrig, daß sie (soweit nicht etwa bloß Offiziere kraft kaiserlicher Ernennung) Geschlechtshäupter waren. Wo ihre Truppe größer erscheint, als selbst das größte Geschlecht anzunehmen ist, da haben mehrere Geschlechter sich einem Häuptling untergeordnet, in ähnlicher Art, wie auch das ganze Volk sich Fürsten oder Herzöge setzte. So war Sarus an sich nur der Hunno eines Geschlechtes von 200 bis 300 Mann, wurde aber zeitweilig von einer viel stärkeren Opposition als Führer anerkannt. Der Kern jeder solchen größeren Stellung blieb aber immer die Häuptlingsschaft in einem Geschlecht. Als ein bloßes Gefolge sind die 200 bis 300 Mann des Sarus unmöglich aufzufassen; das wäre viel zu viel. 200 Gefolgsmänner hatte vielleicht ein König wie Chnodomar, aber nicht ein bloßer Häuptling.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 332-333.
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