12. Die Einweihung der Mauern Jerusalems unter Nehemia und die Lage der Tore.

[362] Die Schilderung des Einweihungsaktes Nehemia 12, 31-42 gehört bekanntlich zu den dunkelsten Partien dieses Buches. Manches auf den ersten Blick Unverständliche hat Bertheau im Komment. zu diesem Buche erklärt. Er ging dabei mit Recht von der Voraussetzung aus, da ausdrücklich zwei Züge angegeben sind, und dabei hervorgehoben wird, daß bei dem einen Esra und bei dem anderen Nehemia die Repräsentation gemacht habe, und bei beiden Adlige, Volk, Priester und Leviten im Zuge gingen, so müsse das Gefolge bei beiden Zügen ganz gleich gewesen sein. Die Schilderung der Vorgänge bei beiden Zügen muß also parallel gehalten werden, und dasjenige, was bei dem einen vermißt wird oder unverständlich ist, kann aus der Parallele ergänzt oder erläutert werden. Nun heißt es bei der Beschreibung des einen Zuges, bei dem Esra war (V. 36: םהינפל רפוסה ארזעו) – kurz bei dem Esra-Zuge – daß ihm die Hälfte der Fürsten Judas gefolgt sei (V. 32b): הדוהי ירש יצחו. Folglich muß sich die andere Hälfte der Fürsten bei dem Nehemia-Zug befunden haben. Dieses Moment ist auch angedeutet (V. 40b): ימע םינגסה יצחו ינאו. Hinwiederum ist bei dem Nehemia-Zuge angedeutet, daß die Hälfte des Volkes in dessen Begleitung war (V. 38b): יצחו המוחהל לעמ םעה. Daraus folgt, daß auch dem Esra-Zuge die Hälfte des Volkes gefolgt sein muß. Dieses Moment findet Bertheau angedeutet in den kurzen Worten (V. 34): ןימינבו הדוהי, d.h. »die Hälfte von Juda und Benjamin, d.i. der Laien.« Man ist demnach genötigt hier zu ergänzen: ןימינבו הדוהי םע יצחו. Ferner ist beim Nehemia-Zuge geschildert, daß sieben Priester mit Trompeten geblasen haben (V. 41): :םינהכהו תורצצחב היננח הירכז ינעוילא היכימ ןימינמ הישעמ םיקילא. Daraus folgt, daß beim Esra-Zuge ebensoviel posaunende Priester gewesen sein müssen. Dieses Moment ist aber dabei nur angedeutet (V. 35): םינהכה ינבמו תורצצחב. Man ist also berechtigt, auch hier die Siebenzahl zu ergänzen und den Vers für lückenhaft zu erklären, vergl. o. S. 361. Weiter sind beim Nehemia-Zuge acht Namen aufgezählt, und dabei ist angedeutet, daß sie Saitenspieler waren, was ebensoviel sagen will, daß sie zur Klasse der Sänger-Leviten gehörten (V. 42): היכלמו ןנחוהיו יזעו רזעלאו היעמשו הישעמ (לוק) םיררשמה ועימשיו רזעו םליעו. So müssen bei dem korrespondierenden Zuge ebenfalls acht instrumentierende Leviten gewesen sein. Und in der Tat werden[362] ebensoviel Namen aufgezählt (V. 36). Diese spielten auf musikalischen Instrumenten: דוד ריש ילכב; folglich müssen auch die acht Leviten im Nehemia-Zuge mit Instrumenten bedacht werden. Endlich wird bei diesen acht Leviten im Nehemia-Zuge ein Vorgesetzter über sie genannt (V. 45b): דיקפה היחרזיו. Folglich muß der Assaphid »im Esra-Zuge ebenfalls Vorgesetzter der acht Leviten gewesen sein« (V. 35). Vergl. o. S. 357.

Soweit ist die Auslegung Bertheaus sinnreich und zutreffend. Wir haben uns demnach den Vorgang folgendermaßen zu denken. Es waren zwei Züge, die von zwei Seiten aus die Mauern umzogen, bis sie im Tempel zusammentrafen. Jeder Zug bestand 1. aus einem Chor, הדות; 2. aus der Hälfte der Fürsten Judas; 3. aus der Hälfte des Volkes; 4. aus sieben posaunenblasenden Priestern; 5. aus acht instrumentierenden Leviten, denen je ein Choragos voranging. Bei dem einen Zuge befand sich Esra vor den acht Leviten םהינפל רפוסה ארזעו, und bei dem anderen Zug ging Nehemia hinter dem Chor (V. 38): ינאו... תינשה הדותהו הירחא. Die Reihenfolge der verschiedenen Gruppen in beiden Zügen ist unbestimmt gelassen. Wenn angenommen werden könnte, daß die instrumentierenden acht Leviten dem Chore in nächster Nähe waren, dann hätten Esra und Nehemia denselben Platz eingenommen, nämlich vor den acht Leviten und hinter dem Chor. Beide wären demnach zwischen dem Chor und den acht Leviten geschritten.

Indessen bleiben noch viele Dunkelheiten in dieser Beschreibung übrig, die Bertheau unaufgehellt gelassen hat. Versuchen wir sie nach dem Gegebenen und Sichergestellten zu erläutern. Dunkel ist, was denn eigentlich die הדות, welche gewissermaßen als Richtungspunkt angegeben ist, hier bedeutet. Bertheau hat das Wort nicht klar gemacht. Er bemerkt darüber: »הדות, Bekenntnis des Dankes ..., woraus sich dann die Übertragung des Wortes auf den Dankchor erklärt.« Aber damit wissen wir noch immer nicht, wer eigentlich den Dankchor gebildet hat. Es hat sich ergeben, daß nur acht Leviten bei jedem Zuge mit Instrumenten versehen waren, also im Ganzen 16 und mit den beiden Anführern 18. Aber wozu hat denn Nehemia sämtliche Leviten von allen ihren Aufenthaltsorten zu diesem Akt zusammenberufen? Sie sollten also nicht bloß als Gruppe unter dem Volke mitgehen, sondern bei der musikalischen Funktion mitwirken. Man beachte den Vers 27: םלשורי תמוח תכנחבו תודותבו החמשו הכנח תשעל..םתמקמ לכמ םיולה תא ושקב תורנכבו םילבנ םיתלצמ רישבו. Es geht daraus hervor, daß die Feier durch die Leviten erhöht werden sollte, daß sie dabei die Hauptrolle hatten, und daß sie teils Dankgebete und Lieder sangen und teils auf Instrumenten spielten. Es müssen also viel mehr als 18 dabei fungiert haben. Es ist nun leicht zu erkennen, daß die הדות aus singenden Leviten bestanden hat. Dazu gehörten recht viele, damit der Gesang im Freien nicht verhalle. Da die meisten Psalmen aus der nachexilischen Zeit mit בוט יכ 'הל ודוה begannen, so haben ohne Zweifel die levitischen Sänger ebenfalls diesen Eröffnungs-Vers gesungen, und deswegen wird ihre Gesamtheit הדות genannt. Es war ein psalmensingender Chor, und dieser wurde von den acht instrumentierenden Leviten begleitet. Vergl. Ps. 147, 7: ונע רונכב וניהלאל ירמז הדותב 'הל; das eine bedeutet Dankpsalm mit Gesang und das andere Instrumentalbegleitung. Ebenso Ps. 68, 26: םינגנ רחא םירש ומדק: voran gingen Sänger und hinter ihnen Saitenspieler? So war es ohne Zweifel bei dieser Einweihungsfeierlichkeit. Der Sängerchor הדות ging voran, und an ihn schlossen sich die acht Leviten mit Instrumenten, ילכב ריש, wahrscheinlich nur durch die beiden Führer Esra und Nehemia getrennt. Weil bei [363] jedem der beiden Sängerchöre viele Personen mitgewirkt haben, werden sie »große Chöre« genannt (V. 31): תודות יתש הדימעאו תלודג.

In welcher Richtung haben sich die Züge bewegt? Auch das hat Bertheau nicht klar gemacht, oder er hat sich von Thenius und Tobler zu falschen Annahmen verleiten lassen. Da es von dem einem Zuge heißt, ןימיל (V. 31) daß er rechts ging, so muß der andere notwendigerweise links gegangen sein. Folglich muß man V. 38 lesen הירחא ינאו לאמשל תכלוהה תינשה הדותהו statt der barocken Unform לאמל, eine Form, welche die oberflächlichen Grammatiker so sehr hätschelten. Nun fehlt aber bei der Schilderung des Esra-Zuges gerade die Hauptsache, nämlich, daß er sich bewegt hat. Nur ein Fragment ist davon geblieben תכלהתו ןימיל. Das Wort תכלהת ist ebenfalls eine barocke Form. Die Peschito hat es richtig als ein Verbum angesehen: אנימיל ארוש ןמ ליעל יקלסו, ebenso die LXX: καὶ διῆλϑον ἐκ δεξιῶν. Man wird also darauf geführt, dem Parallelismus gemäß zu lesen: ןימיל תכלה הדותח המוחל לעמ, ein Chor ging rechts und der andere links, und so bewegten sich beide Züge. Was die Richtung betrifft, welche die beiden Chöre und Züge genommen haben, so kommt es auf den Ausgangspunkt an. Wo das Schutttor war, läßt sich von vornherein präzis nicht bestimmen. Aber die Lage des »Quellentores« ist bekannt. Nach Neh. 2, 14 führte es zum Königsteich; ךלמה תכרב לאו ןיעה רעש לא רבעאו. Ebenso ist das: 3, 15 angegeben, daß in der Nähe des Quellentores der Königsteich war und Stufen, welche von der Davidsstadt d.h. von Zion herunterführen: רעש תאו תודרויה תולעמה דעו ךלמה ןגל חלשה תכרב תמוח תאו ןיעה דוד ריעמ. Die Erwähnung der Davidsstadt gibt die Orientierung an. Die Mauer um Zion, welche zugleich an einem Teiche vorüberführt, kann nur im Westen sein. Denn in den anderen Richtungen gibt es beim Zion keinen Teich. Dagegen ist im Westen des Zion der Teich, der jetzt Birket es Sultan genannt wird, der aus alter Zeit stammt und in Jesaia 21, 9 der untere Teich הנותחתה הכרבה genannt wird. In der Nähe muß also eine Quelle gewesen sein. An die Quelle Siloa und andere Quellen, welche im Kidrontale sprudeln, dürfen wir dabei durchaus nicht denken; denn diese sind im Südosten des Kidrontales, die Quelle beim Quellentor haben wir dagegen im Westen zu suchen. Diese Quelle kann nur der Gichon gewesen sein, der nach Chronik II, 32, 30; 33, 14 nur im Westen von Zion gewesen sein kann. Sie wird an der ersten Stelle אצומ ןוחיג ימימ »Quelle« genannt, ebenso nennt sie Josephus (Altertümer VII, 14, 5): πƞγὴ λεγομένƞ Γίων. Von dieser Quelle hatte das Tor den Namen ןיעה רעש; in der Nähe war der untere Teich oder der Königsteich, der Zion und die Stufen, welche hinunterführten, entweder westlich oder südlich. Dann darf man חלשה תכרב nicht als Siloa ansehen. Dagegen spricht ohnehin die Konstruktion. Die Peschito übersetzt daher treffend אכלמ תנגל אימ אקסמד d.h. (םימ) תחלשה ךלמה ןגל. Die Richtung des Esra-Zuges und Chors ist also klar. Er wandte sich rechts d.h. von der westlichen Seite Jerusalems nach Süden oberhalb des Schuttors (V. 32), ferner oberhalb des Quellentors immer noch im Westen, oberhalb der Stufen von der Davidstadt und des ehemaligen Davidpalastes (im Südwest oder Süd) bis zum Wassertor im Osten (V. 39). Mehrere Tore im Südosten und Osten sind hier übergangen. Der andere Zug und Chor muß also nach der entgegengesetzten Seite zuerst in nordwestlicher, dann in nördlicher und endlich in östlicher Richtung gezogen sein (V. 37-38). In dieser Richtung muß also gelegen haben zuerst der Ofenturm, dann die breite[364] Mauer, dann das Ephraimtor, ferner das alte Tor und endlich das Fischtor. Das Fischtor, d.h. der Platz, wo die Tyrier Fische zu verkaufen pflegten, kann nur im Westen oder Nordwesten gewesen sein, zwischen dem heutigen Jaffatore und Damaskustore. Falsch ist jedenfalls die Annahme, welche das Fischtor mit dem heutigen Stephanstor im Osten identifiziert. Nach unserer Annahme lagen sowohl das Schuttor als auch das Ephraimtor im Westen. Dafür spricht der Umstand, daß diese und die Nachbarmauern vor Nehemias Ankunft am meisten gelitten haben müssen, da dieser bei seiner Ankunft gerade die Seite, wo die genannten Tore waren, in Augenschein genommen und auf die Befestigung dieser Seite am meisten Sorgfalt verwendet hat. Bei jeder Belagerung Jerusalems kam zuerst die Nordwestseite an die Reihe, weil hier keine Höhen sind, und der Angriff leichter war, während von der Süd- und Ostseite hohe Hügel erstürmt werden mußten. Diejenigen also, welche vor Nehemias Ankunft in die Mauern Bresche gelegt haben, haben wahrscheinlich die am leichtesten zugängliche Seite angegriffen, d.h. die Nordwest- und Westmauern. Das Tieftal oder das Schluchttor איגה רעש hat allerdings zum Tal oder der Schlucht Hinnom geführt, wie all gemein angenommen wird, aber nicht an der West-, sondern eher an der Südseite, da das Hinnom nur in dieser Richtung lag, wie Hieronymus richtig angibt; vergl. Bd. II, 1. Hälfte, S. 139. Die Lage der Tore Jerusalems in der nachexilischen Zeit war demnach:


  • 1. תופשאה רעש, Schuttor, im Westen.
  • 2. ןיעה רעש, Quellentor, ebenfalls im Westen nach Süden zu.
  • 3. םימה רעש, Wassertor, im Osten.
  • 4. םירפא רעש, Ephraimtor, im Westen nach Norden zu.
  • 5. הנשיה רעש, das alte Tor, bei Josephus (jüd. Kr. V, 4, 2) Ἐσσƞνῶν πύλƞ, genannt, im Nordwesten oder Norden.
  • 6. םיגדה רעש, Fischtor, im Nordwesten.
  • 7. ןאצה רעש, Schaftor, wohl im Nordosten.
  • 8. הרטמה רעש, Mattarator, im Osten.
  • 9. םיסוסה רעש, Roßtor im Osten.
  • 10. איגה רעש, Tal- oder Schluchttor, im Südwesten zum Tal Ben Hinnom führend.


Noch bleibt in der Schilderung der Prozession bei der Einweihung der Mauern ein scheinbarer Widerspruch zu lösen. Die beiden großen Züge mit den beiden Chören sind, in entgegengesetzter Richtung schreitend, der eine die Westmauer nach Süden, die Süd-und Ostmauer, und der andere die Westmauer nach Norden, die Nord- und Ostmauer umkreisend, an einem Punkt im Osten zusammengetroffen. Wo sind sie stehen geblieben? Angegeben ist (das. V. 39): הרטמה רעשב ודמעו, daß sie im Osten im Mattaratore stehen geblieben waren. Dagegen heißt es (V. 40): םיהלא תיבב תדותה יתש הנדמעתו, daß die Chöre im Tempel stehen geblieben sind. Wie ist das zu verstehen? Nur so ist es zu denken. Die beiden zahlreichen Züge mußten doch an einem Punkte von der Mauer hinuntersteigen. Das ist nun, nach der Angabe, beim Mattarator geschehen. Das Prädikat ודמעו bezieht sich auf die in zwei Züge getrennte Volksmenge; diese ist stehen geblieben, um den beiden Anführern, den beiden Chören und den Fürsten Platz zu machen, auf den Tempelberg hinaufzugehen und in den Tempel zu gelangen. Die beiden Levitenchöre, welche zur Feier im Tempel anwesend sein mußten, blieben nicht am Mattaratore stehen, sondern zogen weiter in das Innere des Tempels und machten erst [365] dort Halt. Diese sich selbst aufdrängende Erklärung ist nur einleuchtend, wenn man das Wort הדות richtig auffaßt, daß es den Leviten-Chor bedeutet. Nach der bisherigen Auslegungsweise blieb dieses, so wie manches andere in dieser Schilderung äußerst rätselhaft.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1902], Band 2.2, S. 362-366.
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