9. Kapitel. (135-138.)

[152] Das hadrianische Verfolgungssystem. Jerusalem in die Heidenstadt Älia Capitolina verwandelt. Rufus, der Blutrichter. Der lyddensische Beschluß. Der Angeber Acher. Die zehn Märtyrer. Veränderungen im Christentume durch die hadrianische Verfolgung.


Hadrian, der während der Jahre der Revolution in Angst gelebt hatte, begnügte sich nicht, sie vollständig gedämpft zu haben, er wollte jeden Keim zu einem künftigen Aufstande schon im voraus ersticken. Die jüdische Nation lag als eine große Leiche auf den blutgetränkten Feldern ihres Vaterlandes; das befriedigte seinen Rachedurst nicht, auch die jüdische Religion sollte vernichtet werden. Zu diesem Ende ließ er eine Reihe von Gesetzen in Ausführung bringen, welche darauf berechnet waren, das Judentum, das geistige Leben des jüdischen Volkes, aus dem Herzen der Übriggebliebenen zu reißen. Hadrian ernannte denselben Rufus zum Vollstrecker seiner Edikte, der, ungeschickt in der Kriegsführung gegen den bewaffneten Feind, tauglicher schien, den Krieg gegen Unbewaffnete, den Krieg mit Plackereien, mit spionierender Aufpasserei zu Ende zu führen; der Feldherr Severus war nach vollbrachter Arbeit wieder nach Britannien zurückgeschickt worden. Um die Stadt Jerusalem (und den Tempelberg?), wo vielleicht noch Spuren des unternommenen Wiederaufbaues vorhanden waren, hatte Rufus den Pflug ziehen lassen als Zeichen, daß eine andere Stadt erbaut werden sollte. Dies geschah an dem in der jüdischen Geschichte so verhängnisvollen neunten Ab, vielleicht ein Jahr nach dem Falle Betars (136).1 Die Stadt selbst ließ Hadrian neu aufbauen, vermutlich mehr nördlich, wo ehemals die Vorstädte waren. Eine Kolonie von ausgedienten Soldaten, Phöniziern und Syrern, ließ er in der neuerbauten Stadt ansiedeln. Sie war auf griechische Art gebaut, mit zwei Marktplätzen, einem Theater und andern öffentlichen [152] Gebäuden versehen und in sieben Quartiere (ἀμφώδα) eingeteilt.2 Es war Hadrian gelungen, seinen früher gefaßten Plan, Jerusalem in eine heidnische Stadt zu verwandeln, auszuführen. Auf dem Tempelberge wurde eine Bildsäule Hadrians und ein Tempel zu Ehren des kapitolinischen Jupiter, des römischen Schutzgottes aufgestellt3; auch andere Götterstatuen vom römischen, griechischen und phönizischen Kultus zierten, oder richtiger, verunreinigten Jerusalem. Selbst der uralte Name der heiligen Stadt sollte aus dem Gedächtnisse der Menschen schwinden, sie führte fortan den Namen Älia Kapitolina nach Hadrians Vornamen Älius und dem kapitolinischen Jupiter. In allen öffentlichen Akten figurierte Jerusalem unter dem neuen Namen Älia, und es gelang so sehr den alten Namen vergessen zu machen, daß über ein Jahrhundert später ein Statthalter von Palästina einen Bischof, der sich Bischof von Jerusalem nannte, fragte, was das für eine Stadt sei und wo sie denn liege.4 An dem Südtore, das nach Bethlehem führte, wurde ein Schweinskopf in halberhabener Arbeit angebracht, was den Juden ein besonderes Ärgernis geben sollte5; auch wurde ihnen bei Todesstrafe verboten, die Ringmauern dieser Stadt zu betreten.6 Auf dem den Samaritanern heiligen Berg Garizim, wo ehemals deren Tempel stand, ließ Hadrian einen Jupitertempel erbauen.7 Die Samaritaner selbst wissen von einem kupfernen Vogel zu erzählen, den anzubeten sie von den Römern gezwungen waren.8 Dieser Vogel mag vielleicht ein symbolisches Attribut eines der heidnischen Götter gewesen sein, vielleicht ein Adler dem Jupiter oder eine Taube der Venus beigegeben. Man machte auch jüdischerseits den Samaritanern den Vorwurf, daß sie einer Taubengestalt göttliche Verehrung gezollt hätten.9 Auch auf dem Berge Golgatha vor Jerusalem war ein Venustempel errichtet10, und in einer Höhle zu Bethlehem wurde ein Adonisbild verehrt. Dieser Kaiser nahm die alte Politik des syrischen Antiochos Epiphanes wieder auf, der aus Vorurteil und Rachefühl die jüdischen Heiligtümer entweihen und dem jüdischen Volke das Heidentum mit Waffengewalt aufzwingen ließ. Hadrian glaubte den starren Unabhängigkeitssinn [153] der Juden dadurch am nachdrücklichsten brechen zu können, daß er sie dahin brächte, sich ihres eigenartigen religiösen Lebens zu entwöhnen.

Ein Dekret langte in Judäa an, welches die schwersten Strafen über alle diejenigen verhängte, welche die Beschneidung, den Sabbat beobachteteten oder sich mit der jüdischen Lehre beschäftigten. Nur in einem einzigen Punkte wich das hadrianische Verfolgungssystem von der durch Epiphanes gezogenen Linie ab, daß der Zwang, die römischen Götter zu verehren, nicht dekretiert wurde. Ohne Zweifel waren Hadrian und seine Räte im voraus von der Erfolglosigkeit einer solchen Maßregel überzeugt; die Erfahrung mochte die Römer belehrt haben, daß in diesem Punkte die Juden unbezwingbar sind. Das Verbot erstreckte sich aber noch viel weiter, als auf die drei genannten Punkte, es umfaßte alle Seiten des jüdischen Religionslebens. Es zog sogar solche jüdische Sitten und Gewohnheiten hinein, die nur scheinbar einen religiösen Charakter haben, z.B. den Scheidebrief für geschiedene Frauen auszustellen, das Prosbul der Gläubiger, um die Schulden auch nach dem Erlaßjahr einfordern zu können, das Heiraten am Mittwoch und andere Bräuche ohne besondern religiösen Anstrich.11 Diese weite Ausdehnung mochte ein Kommentar und eine Ergänzung von seiten der römischen Behörden in Judäa gewesen sein, die mit dem Geiste der Juden vertrauter, dem kaiserlichen Befehle mehr Nachdruck geben und das Ziel wirksamer fördern helfen wollten. Von Rufus wird ausdrücklich bemerkt, er habe eine tiefere Kenntnis der jüdischen Gesetze besessen.12 Die trübseligen Jahre, die infolgedessen über das Judentum von dem Falle Betars an bis über den Tod Hadrians hinaus heraufbeschworen waren, heißen die Zeit des Religionszwanges. der Gefahr und der Verfolgung (Geserah, Sakanah, Schemad).

Die strengen Dekrete und die noch strengere Auslegung waren ein harter Schlag für die Übriggebliebenen. Die Gewissenhaften waren ratlos, wie sie sich in dieser kritischen Lage zu benehmen hätten, ob sie, streng an der religiösen Praxis festhaltend, ihr Leben dafür einsetzen, oder mit Rücksicht auf die ohnehin gelichteten Reihen der jüdischen Bevölkerung ihr Leben schonen und sich für den Augenblick der harten Notwendigkeit fügen sollten. Einen legitimen Synhedrialkörper, welcher die Frage in die Hand nehmen und eine Richtschnur hätte aufstellen können, gab es zu jener Zeit wohl nicht. Die übriggebliebenen Gesetzeslehrer versammelten sich in einem [154] Söller in Lydda und zogen die Frage über Leben und Tod in Beratung. Unter den Mitgliedern dieser Versammlung werden R. Akiba, R. Tarphon und R. José der Galiläer namhaft gemacht. Ohne Zweifel war auch R. Ismael, der R. Josua an Charakter ähnliche, milde Tannaite dabei anwesend. Eine Meinungsverschiedenheit über diese so schwerwiegende, verhängnisvolle Frage lag in der Sache selbst wie in den Personen. Die Strengen scheinen der Ansicht gewesen zu sein, daß jeder Jude verpflichtet sei, für jede Zumutung irgend einer Gesetzesverletzung den Märtyrertod zu sterben, ohne Unterschied, ob die Religionsvorschrift eine schwere (wesentliche) oder geringe (minder wesentliche) sei. R. Ismael machte die entgegengesetzte Ansicht geltend; man dürfe sämtliche Religionsgesetze des Judentums – allerdings äußerlich und widerwillig – um das Leben zu erhalten, übertreten; denn die Thora habe sie nur lediglich verordnet, daß ihre Anhänger dadurch leben, nicht aber daß sie dadurch umkommen sollten. Er war dafür, daß man sich für den Augenblick dem Religionszwange fügen müsse. Wie immer, drang auch in der lyddensischen Versammlung die vermittelnde Ansicht durch, daß man wohl zwischen wesentlichen, wichtigen und gewissermaßen das Judentum begründenden Vorschriften und minderwichtigen unterscheiden müsse. Es wurde nach Abstimmung zum Beschluß erhoben und bestimmt, man dürfe, um nicht dem Märtyrertod zu verfallen, sämtliche Gesetze übertreten, wenn der gewissenlose Feind es verlangt, mit Ausnahme von dreien, Götzendienst, Unkeuschheit und Mord.13 Diese drei Punkte, Verehrung des einzigen Gottes, Wahrung der Keuschheit und ehelicher Sittlichkeit und endlich Heilighaltung des Menschenlebens galten der lyddensischen Versammlung als unerschütterliche Grundlagen des Judentums. Dieser Beschluß, welcher von der verzweifelten Lage, in der sich die jüdische Gesamtheit damals befand, das sprechendste Zeugnis ablegt, hat aber jedenfalls die geheime Klausel enthalten, auch im Notfalle wenn möglich nur zum Schein das Gesetz zu übertreten oder es irgendwie zu umgehen, im übrigen aber so viel zu beobachten, als nur immer möglich wäre. Indessen waren diese Notbehelfe nicht für alle maßgebend. Es gab allerdings viele, welche sich daran hielten, vor den Augen der römischen Aufseher und Spione sich den Schein zu geben, als überträten sie die Religionsgesetze. Rührend sind die kleinen Künste und die frommen Kniffe, deren sie sich bedienten, um hier dem Tode auszuweichen, dort aber auch ihrem Gewissen zu genügen. Die Seelenmarter, die sie täglich und stündlich erlitten, machte sie erfinderisch, allerlei [155] Auswege zu erdenken. Um das Gesetz zu lesen, stieg man auf entfernte Dächer, sich den lauernden Blicken der Späher zu entziehen. R. Akiba selbst, als er einst von seinen Jüngern umgeben einen römischen Aufpasser bemerkte, winkte ihnen, das Schema-Gebet ganz leise und kaum vernehmlich zu sprechen. Denn die römischen Behörden machten mit der Ausführung der Verfolgungsdekrete bittern Ernst. Jeder, der auf frischer Tat ertappt oder verraten wurde, wurde je nach der augenblicklichen Stimmung des Richters zu einer Geld- oder Leibesstrafe oder gar zum Tode verurteilt. Ein römischer Aufseher (Quaesitor), der einen gewissen Artaban dabei überraschte, wie er die mit Bibelversen beschriebenen Pergamentstreifen an den Türkapseln untersuchte, zwang diesen, für dieses Vergehen 1000 Denare zu erlegen.14 Einem gewissen Elisa, der vermutlich noch zu den Resten des Essenerbundes gehörte, sollte der Hirnschädel eingestoßen werden, weil er Gebetriemen (Phylakterien, Tefillin) angelegt hatte. Selbst das Tragen der eigenen jüdischen Tracht konnte gefährden. Zwei Schüler R. Josuas hatten daher ihre jüdische Kleidung mit der landesüblichen vertauscht; als man sie darüber zur Rede stellte, rechtfertigten sie ihre Nachgiebigkeit mit den Worten, »sich den kaiserlichen Befehlen widersetzen, hieße einen Selbstmord begehen.«15 R. Ismael schilderte diese trostlose Zeit, in welcher bei jedem Schritte Marter und Tod lauerten, mit ergreifenden Worten: »Seitdem das sündhafte Rom harte Gesetze über uns verhängt und uns stört, die religiösen Pflichten zu erfüllen, und besonders die Beschneidung auszuüben, sollten wir eigentlich uns Enthaltsamkeit auflegen, nicht zu heiraten, um keine Kinder zu zeugen; allein dann würde das Geschlecht Abrahams erlöschen. So ist es besser, zeitweise die Religionsgesetze zu übertreten, als Erschwerungen einzuführen, welche das Volk doch nicht beobachten kann.«16

Doch gab es auch manche, deren Gewissen sich bei der ausgedehnten Freiheit, welche der lyddensische Beschluß gewährte, den Notbehelfen und Umgehungen, welche andere erkünstelten, nicht beruhigen konnte. Sie beobachteten die religiösen Vorschriften mit aller Strenge, auf die Gefahr hin, dem Märtyrertum zu verfallen. Ein jüngerer Zeitgenosse dieser traurigen Zeit veranschaulicht in einer fast dramatischen Darstellung die Schonungslosigkeit der römischen Behörden, die für jeden religiösen Akt eine grausame Strafe bereit hatten: »Warum sollst du gegeißelt werden? Weil ich den [156] Feststrauß (Lulab) gebraucht. Warum sollst du gekreuzigt werden? Weil ich Ungesäuertes am Passahfeste genossen. Warum bist du zum Feuertod, und du zum Schwerte verurteilt? Weil wir in der Thora gelesen oder unsere Kinder beschneiden ließen.« Noch fürchterlicher als der schnelle Tod waren für die Angeklagten die langsamen Martern, in denen die römischen peinlichen Tribunale nicht weit hinter den Inquisitionsgerichten zurückgeblieben zu sein scheinen. Die grellste Phantasie könnte kaum eine raffiniertere Grausamkeit erfinden, als man da mals anwendete. Die Quelle, welche die Folterarten in einem durchaus schlichten, glaubwürdigen Tone erzählt, ist ihrer ganzen Fassung nach fern von Übertreibung. Sie berichtet: Zur Zeit der Verfolgung legte man den Verurteilten glühende Kugeln unter die Armhöhlen oder steckte Rohrspitzen unter die Nägel, um ihnen das Leben langsam abzuzapfen.17 Es wurden aber noch andere Marterqualen angewendet, deren bloße Erinnerung einen unwillkürlichen Schauder erregt.

Trotz der römischen Wachsamkeit hätten die Gewissenhaften, die Behörden täuschend, der religiösen Übung obliegen können, wenn nichtjüdische Verräter, der Religionsgesetze kundig, die minder eingeweihten römischen Aufseher auf jeden Umstand, jeden Kniff, jede Umgehung aufmerksam gemacht hätten. Solche Angeber mochten teils zu jener gewissenlosen Menschenklasse, welche alles um des Gewinnes halber tut, teils zu den gnostischen Sektierern gehört haben, welche die Verachtung und Vernichtung der jüdischen Gesetze als ein gutes Werk betrachteten, weil dadurch die Schöpfung des Demiurgos zerstört würde, den die Gnostiker, wie schon erzählt, gründlich haßten. Das Judentum hatte also zu dieser Zeit zweifache Feinde: theoretische Gegner, welche auf seinem Grabe die Siegesfahne ihrer Prinzipien aufzupflanzen gedachten, und politische Widersacher, welche sich von seinem Untergang Ruhe und Ungetrübtheit für das römische Reich versprachen; beide boten sich die Hände, die Auflösung der jüdischen Lehre zu befördern. Zu den erbittertsten Feinden gehörte Acher, der von gesetzesverachtenden Ansichten erfüllt war (o. S. 94). Er gab, wie erzählt wird, den römischen Behörden die gründlichste Anleitung, wie sie einen religiösen Akt von einem gleichgiltigen unterscheiden könnten. Waren z.B. Juden gezwungen, am Sabbat zu arbeiten, und wollte jemand, wenn er eine Last zu tragen hatte, sein Gewissen dadurch beruhigen, daß er sich von einem andern dabei helfen ließ, was als eine geringere Verletzung des Sabbatgesetzes galt, so machte Acher die Schergen auf diesen schlauen Ausweg aufmerksam.18 Durch einen solchen gesetzeskundigen Angeber [157] belehrt, wurden die römischen Aufpasser in alle Einzelheiten eingeweiht, und witterten von ferne schon, wo eine religiöse Handlung vorging. Hörten sie das Geräusch einer Handmühle, so wußten sie, daß dort Pulver für ein neu beschnittenes Kind gerieben wurde; sahen sie eine helle Beleuchtung, so wußten sie, daß eine Hochzeit gefeiert wurde, und stellten ihre Nachforschungen an.19

Auf zwei Punkte ließ Hadrian oder sein Stellvertreter die geschärfteste Wachsamkeit richten und die schwerste Strafe verhängen, auf Lehrversammlungen und auf die weihende Ordination von Jüngern. Es mochte ihm oder seinen Ratgebern beigebracht worden sein, daß in diesen beiden Funktionen der Schwerpunkt und die Seele des Judentums unter den damaligen Verhältnissen liege und daß in ihnen die Fortdauer desselben bedingt sei. Wenn die lebendige Mitteilung von Lehrern an Jünger gestört, die Überlieferungskette zerrissen und die Einweihung der Jünger zu selbstständigen Gesetzeslehrern verhindert worden wäre, dann wäre allerdings eine Stockung in den Lebenssäften des Judentums eingetreten, welche unberechenbare Folgen erzeugt hätte. Man muß gestehen, daß die römische Vernichtungspolitik von ihren Helfershelfern gut bedient war, und daß sie die Ratschläge zu benützen verstand, um den tödlichsten Punkt des Judentums zu treffen. Über diejenigen Gesetzeslehrer, welche die Lehrversammlungen hielten, wurde daher eine verschärfte Todesstrafe verhängt, und ebenso über solche, welche die Funktion der Jüngerweihe ausübten; sogar die Gemeinden wurden dafür verantwortlich gemacht. Die Stadt und die Umgegend, in denen eine Ordination vor sich gegangen war, sollten zerstört werden.20 Es ist möglich, daß Acher die Verfolgung nach dieser Seite hingelenkt hat, wenigstens wird von ihm erzählt, daß er die Gesetzeslehrer dem Tode überliefert und die Jünger vom Gesetzesstudium abgeschreckt habe. Er soll sich in die Lehrhäuser begeben und zu den Schülern gesprochen haben: »Was wollt ihr hier? Du werde Baumeister, du Zimmermann, du Jäger, du Schneider.« Viele sollen sich dadurch von der Beschäftigung mit der Lehre haben abbringen lassen.21

Es gab aber unverwüstliche Friedensfreunde, welche sogar in bezug auf diese höchst gefährdenden Dekrete zur Nachgiebigkeit rieten. R. José ben Kisma gehörte zu jener Klasse, welche, die Geduld als die höchste Tugend verehrend, mit kluger Mäßigung und Unterwürfigkeit weiter zu kommen hoffte, als mit kühnem Widerstand und rücksichtsloser Aufopferung. Einst traf er R. Chaninah ben Teradion, [158] der zu denen gehörte, die das Leben für die Lehre zu lassen entschlossen waren, als er, eine Thorarolle auf dem Schoße, seine Schüler belehrte. Warnend sprach R. José: »Siehst du nicht, mein Bruder, daß der Himmel selbst dem römischen Reiche günstig ist! Es hat den Tempel zerstört, die Frommen niedergemetzelt, die Besten vernichtet, und hat doch Bestand! Wie wagst du es, den Verordnungen zuwider das Gesetz zu lehren? Es sollte mich nicht wundern, wenn sie dich samt dem heiligen Buche zum Feuer verurteilten!« Dafür aber stand R. José an dem kleinen Hofe des Statthalters von Judäa in hoher Gunst; als er starb, folgten Personen von höchstem Range seiner Leiche.22 Ihm ähnlich war R. Eleasar ben Parta. Als ihn der Richter zu Verhör nahm, warum er das Gesetz gelehrt, leugnete er die Tatsache rund ab, um nicht der Todesstrafe zu verfallen.23 Die meisten Tannaiten aber waren anderer Ansicht und entschlossen, lieber den Tod zu erleiden, als die Lehrversammlungen einzustellen; sie schlugen die Beschäftigung mit der Lehre noch höher an, als die Ausübung religiöser Vorschriften. Ein förmlicher Beschluß in dem Söller zu Lydda scheint auch darüber zustande gekommen zu sein, daß das Lehren bei weitem wichtiger sei, als das bloße Üben des Gesetzes.24 In bezug auf die Ausübung der Religionspflichten gaben die Gesetzeslehrer selbst das Beispiel, sich für den Augenblick zu fügen und sich nicht dem Tode auszusetzen; wegen Erhaltung der Lehre hingegen drängten sie sich fast zum Märtyrertume, als wenn in diesem Punkte das Allerheiligste des Judentums sich konzentrierte, das man mit dem Leben verteidigen müsse.

Eine alte Nachricht erzählt von zehn Märtyrern, welche für das Gesetzesstudium geblutet haben.25 Jedoch sind nur von sieben derselben die Namen bekannt geworden, in bezug auf die übrigen hingegen sind die Nachrichten schwankend und unzuverlässig. Zuerst wurde R. Ismael hingerichtet, Sohn des Hohenpriesters Elisa, der Begründer der dreizehn Auslegungsregeln, mit einem R. Simon, mit welchem Namen es mehrere in diesem Kreise gab.26 Für andere wollte er das Märtyrertum nicht dekretiert wissen, für sich selbst übernahm er es dagegen freudig. In der letzten Stunde suchten beide einander zu trösten und den Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes zu bekämpfen. Das Haupt R. Ismaels, dessen Schönheit gerühmt wird, soll nach Rom geschickt worden sein,27 und die Sage fügt hinzu, weil eine [159] Kaiserstochter darnach verlangt habe. R. Akiba hielt beiden eine Gedächtnisrede, in welcher er hervorhob, daß R. Ismael und R. Simon, die sündenfreien, lediglich als Vorbilder durch die Hand des Henkers gefallen seien, und schloß, seine Schüler ermutigend, mit den Worten: »Bereitet euch zum Tode vor, denn schreckliche Tage werden über uns hereinbrechen.« Der Grund der Anklage und der Verurteilung ist nicht bekannt geworden.

Bald kam die Reihe an den greisen R. Akiba, weil er im geheimen Lehrvorträge gehalten hatte; er wurde, laut dem Kalender der Unglückstage, am fünften Tischri in einen Kerker geworfen.28 Vergebens hatte ihn Pappos ben Juda, einer der Friedfertigen, die zur Nachgiebigkeit um jeden Preis geraten hatten, nachdrücklich ermahnt, die Zusammenkünfte mit seinen Jüngern einzustellen, weil der lauernde Blick der Aufpasser die geheimsten Winkel durchdringe. R. Akiba hatte ihm durch eine Fabel bewiesen, wie die Furcht vor dem Tode ebenso vergeblich, wie sündhaft sei: »Ein Fuchs, welcher die Fische am Ufer unruhig umherschwimmen sah, weil man ihnen mit Netzen nachstellte, riet ihnen, sich aufs Land zu begeben, um bei ihm sicher zu wohnen. Aber die Fische den Rat verschmähend erwiderten darauf: »Wenn wir in unserem eigenen Elemente nicht sicher sind, um wieviel weniger wären wir es, wenn wir uns daraus entfernten.« Davon machte R. Akiba die Anwendung auf die damalige Lage: »Unser Lebenselement ist die Lehre, geben wir sie auf, dann haben wir sicherlich noch mehr zu fürchten.« Der Zufall brachte ihn aber im Kerker mit dem Warner Pappos zusammen, der es reumütig gegen R. Akiba beklagte, daß er wegen eitlen und weltlichen Tuns verurteilt worden sei, und daher nicht das tröstende Bewußtsein habe, für eine große Sache zu sterben.29 Rufus, Statthalter und Blutrichter, welcher in R. Akiba das Oberhaupt und die Autorität erkannte, verfuhr gegen ihn mit noch größerer Strenge als gegen die übrigen. Er behielt ihn lange im Gefängnis und ließ es so sorgfältig bewachen, daß niemand zu ihm dringen konnte. Die noch übrig gebliebenen Gesetzeslehrer, die sich ohne R. Akiba ganz verwaist und ratlos fühlten, gaben sich Mühe, trotz der Wachsamkeit der Kerkermeister, sich von ihm in zweifelhaften Fällen Belehrung zu verschaffen.30 Einst gaben sie einem Boten 400 Denare dafür, daß er trotz der Gefahr zu R. Akiba dringe, um dessen Entscheidung einzuholen. Ein anderes Mal gelang es einem seiner Jünger, R. Jochanan aus Alexandrien, durch eine List mit ihm zu verkehren und ihn wegen eines zweifelhaften Gesetzesfalles zu befragen. Als wenn er ein Hausierer wäre, bot [160] er in der Nähe des Gefängnisses seine Ware mit lauter Stimme feil: »Wer kauft Nadeln, wer Gabeln, wie ists mit dem Akt zur Entbindung von der Schwagerehe?« R. Akiba, den Wink verstehend, antwortete auf dieselbe Weise: »Hast du Spindeln zu verkaufen, hast du »Gültig?«31 Auch wegen Berechnung der Schaltjahre berieten sich die Tannaiten mit ihm,32 wahrscheinlich auf eine ähnliche Weise. Endlich schlug für ihn die Stunde der Hinrichtung. Rufus, ein gefügiges Werkzeug der Rache Hadrians, ließ R. Akibas Todesschmerzen durch die Marterqualen steigern, indem er ihm die Haut vermittelst eiserner Striegeln abzuschinden befahl. Unter der Folter sprach der große Märtyrer das Schemagebet mit einem zufriedenen Lächeln. Rufus, erstaunt über eine so außerordentliche Standhaftigkeit, fragte ihn, ob er ein Zauberer sei, daß er die Schmerzen so leicht verwinde, worauf R. Akiba erwiderte: »Ich bin kein Zauberer, nur freue ich mich, daß mir Gelegenheit geboten ist, meinen Gott auch mit meinem Leben zu lieben, da ich es bisher nur mit meinen Kräften und meinem Vermögen konnte.« R. Akiba hauchte seine Seele mit dem letzten Worte des Gebetstückes aus, das den Inbegriff des Judentums in sich faßt, mit dem Worte: (»Gott ist) einzig«.33 Einer nicht ganz sagenhaften Nachricht zufolge, soll sein Jünger R. Josua aus Gerasa mit andern Freunden R. Akibas Leiche heimlich entwendet und sie bei Antipatris beigesetzt haben.34 R. Akibas Tod, der wie sein Leben außerordentlich war, ließ eine erschreckende Leere zurück; die Zeitgenossen trauerten, mit ihm seien die Arme des Gesetzes gebrochen und die Quellen der Weisheit verschüttet.35 Er hinterließ nur einen Sohn und einige Jünger, welche seinen Namen zu dem gefeiertesten machten und seine Lehrweise zur einzig gültigen Norm erhoben.

Der vierte Märtyrer, der mit gleicher Standhaftigkeit den Tod erduldete, war R. Chanina ben Teradion. Ungeachtet der Warnung von R. José ben Kisma fuhr er fort, Lehrvorträge zu halten, bis er vor das Bluttribunal geschleppt wurde. Man fragte ihn, warum er den kaiserlichen Befehlen zuwider gehandelt habe, worauf er mit dem ganzen Freimut überzeugter Religiosität antwortete: »Weil es mir Gott so befohlen hat.« Er wurde am 25. Sivan, in eine Gesetzrolle gehüllt, auf einem Scheiterhaufen von frischen Weiden verbrannt. Zum Übermaße der Unmenschlichkeit legte man ihm angefeuchtete Wolle aufs Herz, damit seine Todespein noch länger dauere. Der Todesvollstrecker [161] selbst, mitleidiger als der Richter, riet ihm, sich die Wolle abzunehmen, um sein Ende zu beschleunigen; allein R. Chanina mochte nicht darauf eingehen, weil er solches für einen Selbstmord hielt. Der Mann von dem blutigen Handwerke nahm ihm, hingerissen von so viel standhafter Seelengröße, die Wolle ab und soll sich selbst dann in die Flammen gestürzt haben. R. Chaninas Frau soll ebenfalls zum Tode verurteilt und seine Tochter nach Rom geführt worden sein, um der Schande preisgegeben zu werden.36 – Das Märtyrertum von R. Chuzpit, dem Sprecher (Meturgeman) im jamnensischen Synhedrion und R. Isebab, Synhedrialsekretär, wird ohne nähere Umstände erzählt; ohne Zweifel sind sie ebenfalls bei der Beschäftigung mit der Lehre ertappt worden. Dem R. Chuzpit, als öffentlicher Redner mit Beredsamkeit begabt, wurde die Zunge ausgeschnitten und den Hunden vorgeworfen. – Als letzter Märtyrer wird R. Juda ben Baba angeführt, den die Zeitgenossen für ganz sündlos hielten. Er befürchtete infolge der Hinrichtung der angesehensten Gesetzeslehrer den vollständigen Untergang der Tradition, wenn die überlebenden Jünger ohne die erforderliche Weihe bleiben sollten und lud daher die letzten sieben37 Jünger R. Akibas zur Ordination ein. Auf diese Handlung war, wie schon erzählt, die höchste Strafe gesetzt, von der auch der Ort, wo sie vor sich gegangen war, getroffen wurde. Um keine Stadt zu gefährden, begab sich R. Juda mit den sieben Jüngern in ein Engtal zwischen den Städten Uscha und Schefaram, legte ihnen die Hände weihend auf und autorisierte sie hierdurch als selbständige Gesetzeslehrer und Richter. Eine römische Truppe, vermutlich durch Verräter auf die Spur geführt, überraschte sie jedoch bei diesem Akte. Kaum blieb R. Juda die Zeit, die eben Geweihten zur schnellen Flucht zu ermahnen; sie wollten ihn aber nicht in der Not verlassen. Erst auf sein wiederholtes Drängen flohen sie; die Häscher fanden nur den Greis, der ohne Widerstand seinen Körper den Todesstreichen preisgab. Durch 300 Lanzenstiche sollen sie ihn wie ein Sieb durchlöchert haben.38 Man wagte nicht einmal aus Furcht vor. Rufus' Blutregiment R. Juda ben Baba die übliche Gedächtnisrede zu halten.39

Von den übrigen Märtyrern dieser Zeit ist weder Name noch Veranlassung ihres Todes mit voller Gewißheit zu ermitteln. Man nennt noch als solche R. Tarphon oder R. Eleasar Charsanah, R. [162] José, Simon ben Asaï, R. Eleasar ben Schamuah und R. Juda ha-Nachtom,40 doch offenbar nur, um die überlieferte Zahl zehn zu vervollständigen; denn einige der Genannten waren noch im nachhadrianischen Zeitalter am Leben. Der Tod des R. Juda ha-Nachtom soll unter eigenen Umständen erfolgt sein. Ein Jude, Bar-Kufia genannt, habe sich als Römer verkleidet, unter die Richter zu mischen gewußt, um das Leben des Angeklagten zu retten. Doch sei die List verraten und Bar-Kufia samt seinem Schützling dem Henker überliefert worden.41 So endete das zweite Tannaitengeschlecht, das reich war an großen Charakteren, reich an hervorragender Geistestätigkeit, aber auch reich an Erschütterungen und Leiden.

Nicht bloß gegen die Überlebenden, sondern auch gegen die im Betarschen Kriege Gefallenen richtete sich Hadrians oder Rufus' Grausamkeit. Die aufgehäuften Leichname durften nicht unter die Erde gebracht werden, damit ihr grausenerregender Anblick den Lebenden zur Warnung dienen sollte, jemals an die Befreiung vom römischen Joche zu denken. Das Bestatten der gefallenen Helden war bei schwerer Strafe verboten.42 Um die Verpestung der Luft und die Verdüsterung der Gemüter, die durch das Liegenlassen der Leichen in der Sonnenglut herbeigeführt wurde, kümmerten sich die Machthaber wenig, oder vielmehr es war ihnen gerade recht, zu den bereits über die jüdische Nation verhängten Gräueln noch die Pest und die Verzweiflung hinzuzufügen. Für weiche, fromme Gemüter war aber der Gedanke unerträglich, die Gefallenen, welche die jüdische Sitte besonders zu ehren pflegte, dem Fraße wilder Tiere und Vögel und der Verwesung im Anblicke der Sonne ausgesetzt zu sehen. Es scheint, daß ein Frommer den Überlebenden, die ihren Frieden mit den Römern geschlossen hatten und in stiller Zurückgezogenheit lebten, ans Herz legen wollte, wie notwendig es sei, selbst mit Aufopferung ihres Glückes und ihrer Ruhe die Leichname heimlich in dunkler Nacht zu bestatten. Er verfaßte zu diesem Zwecke eine besondere Schrift, das Buch Tobit,43 worin das Hauptgewicht auf die Pflicht der heimlichen Beseitigung der Leichen gelegt wird, die von einem Tyrannen der Schändung preisgegeben sind; zugleich wird angedeutet, daß die Erfüllung dieser mit Gefahr verbundenen Pflicht unfehlbar reichlichen Lohn des Himmels herbeiführen müsse. Als Beispiel wird ein Frommer namens Tobit angeführt, der sich durch Bestattung der von einem König Verurteilten [163] zwar Elend zugezogen, aber zuletzt durch Gottes Beistand wegen gewissenhaft erfüllten Liebesdienstes gegen Entseelte mit reichem Segen bedacht wurde. Der Inhalt des Buches Tobit läßt nicht verkennen, daß es in der hadrianischen Zeit entstanden ist.

Tobit ben Tobiel erzählt selbst seine Geschichte. Er war angeblich aus dem Stamme Naphtali und über die Maßen fromm; während seine Stammesgenossen dem Baal opferten, war er zu den Festzeiten nach Jerusalem gewallfahrt und hatte dort den dreifachen Zehnten gespendet. Durch Enemessar mit den übrigen Gefangenen des Zehnstämmereichs nach Ninive verpflanzt, bekundete er auch dort seine Frömmigkeit, aß nie von dem Brote der Heiden und erwies Mildtätigkeit seinen dürftigen Brüdern. Ganz besonders aber war Tobit eifrig, diejenigen heimlich zu beerdigen, die der König Enemessar und nach ihm sein Sohn Sancherib hinrichten und hinter die Mauern Ninives hatte werfen lassen. Er wurde aber verraten, mußte in ein heimliches Versteck fliehen, alle seine Habe wurde ihm vom König (Sancherib) genommen und ihm nichts weitergelassen, als sein Weib Anna und sein Sohn Tobias. Erst nach Sancheribs Flucht durfte Tobit durch die Gunst, in der sein Verwandter Achiachor bei dem neuen König Sacherdon stand, wieder nach Ninive kommen und er hatte wieder nichts Angelegentlicheres zu tun, als unbestattete Leichen von Religionsgenossen zu bergen. Er tat es auch einst, als er sich eben zu Tische setzen wollte, und sein Sohn ihm von einem auf dem Platze liegenden Erschlagenen Kunde brachte. Ehe er einen Bissen kostete, brachte er die Leiche ins Haus und nach Sonnenuntergang legte er sie unter die Erde. Tobits Nachbarn verspotteten ihn wegen dieses seines Eifers und sagten von ihm: »Kaum ist er wegen dieser Sache dem Tode entgangen und mußte entfliehen, und nun begräbt er wieder die Leichen«.44 Dieselbe Gefahr traf ihn zwar nicht zum zweiten Male, aber ein anderes Unglück, eine plötzliche Erblindung durch einen Sperling, dessen warmer Kot ihm bei der Beschäftigung mit der Leiche ins Auge gefallen war. Die Ärzte bemühten sich vergebens, seine Augenkrankheit zu heilen. Tobit war dadurch so heruntergekommen, daß er von seinen Verwandten erhalten und seine Frau für Lohn arbeiten mußte. Wie Hiobs Frau warf sie ihm seine Frömmigkeit und Mildtätigkeit vor und fragte ihn lästerlich, wo denn der Lohn bliebe!

Tobit bleibt nicht unerschüttert von seinem Mißgeschick, er ist aber ebenso sehr von dem Elende, das sein Volk betroffen, betrübt, das »Plünderung, Gefangenschaft, Tod und Schmähung preisgegeben [164] ist.45 Er erkennt zwar Gottes gerechtes Strafgericht, als Folgen der Sünden an, wünscht sich aber doch den Tod. Gott erhört sein inbrünstiges Gebet und sendet den Engel Raphael, um sowohl ihn zu heilen, als auch zu gleicher Zeit ein unglückliches Mädchen von Gram und Schmährede zu befreien. Sara, die Tochter Raguels in Ekbatana, eine gottesfürchtige Jungfrau verlor nacheinander sieben Bräutigame in der Brautnacht. Asmodaï, der böse Geist, hatte sie getötet. Ihre Eltern waren darüber verzweifelt, die Dienerschaft beschuldigte sie, daß sie die jungen Männer der Reihe nach erdrosselt hätte, sie selbst war sich zur Last, wünschte zu sterben und machte sich ebenfalls in einem inbrünstigen Gebete Luft. Tobit erinnert sich, daß er bei einem Verwandten in Rhagaï zehn Talente hinterlegt hatte, sendet seinen Sohn dahin, sie einzufordern und befiehlt ihm, sich einen Reisegefährten für den weiten Weg zu suchen. Tobias findet den Engel Raphael, der sich ihm unter menschlicher Gestalt als Genosse zugesellt. Unterwegs am Tigris finden sie einen Fisch und der Engel rät ihm, dessen Herz, Leber und Galle gut aufzubewahren. In der Nähe von Ekbatana befiehlt ihm Raphael, in das Haus Raguels, der ein entfernter Verwandter seines Hauses sei, einzukehren, und um dessen Tochter Sara zu freien, die ihm seit Ewigkeit zur Frau bestimmt sei. In der Brautnacht mit ihr soll er nur getrost Asche von Räucherwerk auf Herz und Leber des Fisches legen, davon wird der böse Geist Asmodaï entfliehen, um nimmer wiederzukehren. Er möge aber nicht vergessen, in der Brautnacht zu Gott zu flehen. Tobias tut, wie ihm befohlen, und erhält Sara zur Frau, deren Brautgemach vom Dämon befreit wird. Seine Eltern, anfangs wegen seines längeren Außenbleibens untröstlich, erhalten zugleich Sohn und Tochter. Auf Rat Raphaels gießt Tobias die Galle des Fisches in des Vaters Auge, und dieser erhält sein Gesicht wieder. Wohlstand und Freude kehren damit in Tobits Haus wieder ein. Der Engel Raphael, einer der sieben, welche das Gebet der Frommen vor Gott bringen, offenbart sich ihm schließlich in seiner wahren Gestalt und erklärt ihm, die Wendung seines Geschickes sei wegen seiner Mildtätigkeit eingetreten, und besonders deswegen, weil er die Toten bestattet habe.46 Er befiehlt ihm auch, diese Geschichte zur Erinnerung und Belehrung niederzuschreiben. Das Buch Tobit schließt mit der Hoffnung: Wenn auch Jerusalem eine Wüste, das Heiligtum verbrannt und das Volk Israel zerstreut sein wird, wird Gott sich ihrer wieder erbarmen, wird sein Lieblingsvolk nicht verlassen, es aus der Gefangenschaft heimführen, [165] Jerusalem in blendender Pracht wieder erbauen und sein Heiligtum mit Ruhm bedecken, so daß alle Völker Ihn erkennen und loben werden.47 Das Buch Tobit, ein Schmerzenskind drangsalvoller Zeit gleich dem Buche Judith, wollte wie dieses zugleich eine Ermahnung an das jüdische Volk richten und Trost in die wunden Gemüter träufeln.

Auch die Judenchristen, die sich während des Krieges meistens jenseits des Jordans in den Städten der sogenannten Dekapolis aufgehalten hatten, blieben von den Nachwehen des Bar-Kochbaschen Aufstandes nicht unberührt, der für sie sogar ein entscheidender Wendepunkt wurde. Der unglückliche Ausgang des Krieges mit seinen traurigen Folgen erschreckte sie ebensosehr, als er ihnen Schadenfreude verursachte. In dem Ereignisse, daß der kapitolinische Jupiter die heilige Tempelstätte einnahm – in der biblischen Sprachweise »der Gräuel der Verwüstung« genannt – erblickten sie das Zeichen des jüngsten Gerichtes, des Weltendes und des Wiedererscheinens Jesu in den Wolken. Die harte hadrianische Verfolgung traf auch die Judenchristen, vielleicht auch sämtliche Christen, wiewohl sie sich von der jüdischen Gemeinschaft abgesondert hatten, weil die römischen Behörden den dogmatischen Unterschied zwischen Juden und Christen nicht berücksichtigten. Die Evangelien schildern in düstern Farben den ganzen Schrecken der Verfolgung, von der auch die Christgläubigen heimgesucht waren. »Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung (davon geweissagt der Prophet Daniel) stehen, wo er nicht soll, alsdann wer in Judäa ist, fliehe auf die Berge. Wer auf dem Dache des Hauses ist, steige nicht hernieder, etwas aus dem Hause zu holen, und wer auf dem Felde ist, der kehre nicht um, seine Kleider zu holen. Wehe aber den Schwangern und Säuglingen in jener Zeit. Betet aber, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat«.48

Es lag daher den Christen beider Zweige viel daran, sich auch politisch als eine besondere, von den Juden getrennte Religionsgenossenschaft anerkannt zu wissen, um nicht in das Verhängnis der Juden hineingezogen zu werden. Zwei Kirchenlehrer, Quadratus und Aristides, sollen dem Kaiser Hadrian eine Schutzschrift überreicht haben, worin sie dargetan, daß das Judentum keinen Zusammenhang und keine Solidarität mit dem Christentume habe.49 Von dieser Zeit datiert die Vereinigung und Verschmelzung der meisten juden- und heidenchristlichen Sekten. Die Judenchristen gaben die jüdischen [166] Gesetze auf, die sie bisher noch immer beobachtet hatten, nahmen den dogmatischen Inhalt des Christentums an, wie er sich unter den heidenchristlichen Anschauungen ausgebildet hatte, und stellten zum Beweise ihres innigen Anschlusses zum ersten Male einen unbeschnittenen Bischof Marcus an die Spitze ihrer Gemeinde.50 Von der hadrianischen Zeit an hörte jede Verbindung zwischen Juden und Christen vollends auf, und sie standen einander nicht mehr als feindliche Glieder eines und desselben Hauses, sondern als zwei getrennte Körperschaften gegenüber. Da die Christen später Gnade vor Hadrians Augen gefunden hatten, so traten auch Juden zu ihnen über, um doch wenigstens etwas vom Judentume beibehalten zu können, da die Ausübung des Gesetzes ihnen verwehrt war.


Fußnoten

1 Taanit 26 b. Hieronymus zu Zacharia, c. 8, s. Note 14.


2 Chronicon Alexandrinum zur 224. Olympiade.


3 Dio Cassius 69, 12. Hieronymus Comment. in Essaim zu c. 2 in Matthaeum, c. 24. S. Note 15.


4 Eusebius de martyribus Palaestinae, c. 11.


5 Hieronymus, Chronicon zum 20. Jahre Hadrians.


6 Siehe Note 17.


7 Damascenus bei Photius Cod. 242.


8 Das samaritanische Buch Josua, c. 48.


9 Chullin 6 a.


10 Sozomenos historia eccles II, 1. Hieronymus epistola 13.


11 Note 17.


12 Pesikta Rabba, c. 23.


13 Siehe Note 25.


14 Joma 11 a.


15 Genesis Rabba, c. 82.


16 Baba Batra 60 b.


17 Siehe Note 17.


18 Jerus. Chagiga II, p. 77 b.


19 Note 17.


20 Synhedrin 13 b. f. und Parallelstellen.


21 Jerus. das.


22 Aboda Sara 18 a.


23 Das. 17 b.


24 Siehe Note 17.


25 Midrasch Threni zu 2, 2 und zu den Sprüchen 1, V. 13.


26 Keineswegs ein Patriarch Simon ben Gamaliel, s. Frankels Monatsschrift 1852, S. 315 fg.


27 Chulin 123 a.


28 Halachot Gedolot, H. Taanijot Ende.


29 Berachot 61 b.


30 Jebamot 108 b.


31 Jerus. Jebamot XII, p. 12 d.

32 Bab. Synhedrin 12 a.


33 Berachot 61 b. und Jerus. das. 14 b.


34 Midrasch zu den Sprüchrn 9, 1.


35 Sota Ende.


36 Aboda Sara 18 a.


37 [Synhedrin 14 a werden nur sechs genannt. Graetz stützt sich aber offenbar auf Jerusch. Chagiga III, 1, p. 78 d, wo von 7 Ältesten, und auf Genesis Rabba 61, wo von den übriggebliebenen Schülern R. Akibas die Rede ist. Vergl. weiter p. 169, 170].


38 Synhedrin 14 a.


39 Das. 11 a.


40 Midrasch Threni, a.a.O. Midrasch zu Psalm 9.


41 Midrasch zu Psalm das. Jalkut zur Stelle; hier richtig איפוק ןב.


42 Siehe Note 17.


43 Dieselbe Note.


44 Tobit 2, 8.


45 Tobit 3, 4.


46 Das. 12, 12.

47 Tobit, letzte zwei Kapitel.


48 Siehe Note 15.


49 Eusebius historia eccles IV, 3.


50 Eusebius historia eccles III, 35.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 168.
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