3. Das Sikaricongesetz.

[390] Das Sikaricongesetz (ןוקירקיס ןיד, auch schlechtweg ןוקירקיס), dessen Ursprung einer älteren Mischna beigelegt wird und einen Einblick in den Zustand Judäas nach der Zerstörung gewährt, ist meines Wissens noch nicht als historisches Material behandelt worden, verdient aber um so größere Aufmerksamkeit, als die Stellen (Gittin 55 b, j. V 6, Tosifta, c. 3) einer gegenseitigen Berichtigung bedürfen. Das Gesetz lautet: Der Kauf eines von einem Sicarius einem Juden gewaltsam entrissenen Feldes hat keine Giltigkeit, selbst für den Fall, daß der Ureigentümer den Kauf durch irgend einen Akt gut heißt: לעבמ חקלו רזחו ןוקירקסמ חקל (לטב וחקמ תיבה. Jeruschalmi gibt als Motiv zu diesem Gesetze an, weil die Römer sich gewalttätig in den Besitz jüdischer Äcker gesetzt haben: ורזג הנושארב ןהיתודש ןילטונו ןהב ןידבעשמו ןיכלוה ויהו – הדוהי לע דמש םירחאל ןתוא ןירכומו. Über die Anwendbarkeit dieses Gesetzes werden drei Zeiträume unterschieden, vor, während und nach dem (vespasianischen) Kriege, wobei jedoch Babli und Jeruschalmi im Widerspruch miteinander zu sein scheinen. Nach ersterem habe dieses Gesetz vor und während des Krieges deswegen keine Anwendung gefunden, weil die Römer über das Leben der Juden schalten durften; daher sei vorauszusetzen, daß jeder Beraubte sein Eigentum ohne Vorbehalt preisgegeben habe, und der Besitz sowie der Kauf solcher Güter sei demnach, juridisch betrachtet, ein vollgiltiger. Nach dem Kriege hingegen sei auf den Todschlag eines Juden schwere Strafe verhängt worden, das Überlassen der entrissenen Güter von Seiten der Beraubten sei demzufolge mit Vorbehalt des Rekurses bei den höhern Behörden geschehen und begründe deswegen keinen Rechtstitel: – ורזג תוריזג 'ג אתיירתב הנקמו רמג היסנוא בגא ילטקד ןויכ אתעיצמו אתיימק אנידב היל הנעבת רחמל לוקשל אנדיאה רמא. Nach Jeruschalmi und Tosifta hingegen sei der Unterschied dieser drei Zeiten lediglich in bezug auf Judäa gemacht worden. Vor und während des Krieges habe man das Sikaricongesetz deswegen für Judäa außer Kraft gesetzt, damit das jüdische Land nicht in den Händen der Römer verbleiben sollte, wenn einem jüdischen Käufer der Kauf von dem Sikaricon verkümmert worden wäre: דיב הטולח ץראה התיה ןיפרוטו ןיאב ןיתב ילעב ויהו המב הדוהיב ןיקירקיס אהי אלש וניקתה חקילמ וענמנ ןוקירקיס תעשבו המחלמה ינפל וגרהנש ןיגורהב ('סות) םירומא םירבד המחלמ. Nach dem Kriege aber sei dieses Gesetz von der Ungiltigkeit des Kaufs auch auf Judäa anwendbar: ןיקירקיס םושמ וב שי ךליאו המחלמה ןמ וגרהנש ןיגורה לבא (in Jerusch. ist hier ein Kopistenfehler וב ןיא). Für diese Auffassung sprechen aber die Momente, daß die Mischna die Einleitung zu diesem Gesetze mit den Worten beginnt: המחלמ יגורהב הרוהיב ןוקירקיס היה אל 'וכו; ferner, daß für Galiläa kein Unterschied gemacht wird: ןוקירקיס םושמ וב שי םלועל לילג. Übrigens waren nicht bloß Felder, sondern auch Sklaven und Immobilien der römischen Räuberei ausgesetzt. Dafür sprechen die Bestimmungen: (ודבע תא) ןוקירקיס וחקלש וא תורחל אצי אל (Gittin 44 a) und םושמ ןהב ןיא םילטלטמ ןיקירקיס. Daß ןיקירקיס von den Sicarii abzuleiten sei, welche in den letzten unruhigen Zeiten vor dem Tempeluntergang gehaust haben, unterliegt keinem Zweifel; die Benennung scheint aber von den jüdischen Banditen auf die römischen Räuber übertragen worden zu sein. Es ist möglich, daß dieses Gesetz im Zusammenhang mit dem Gewaltstreich steht, welchen Vespasian nach dem Sieg ausführen ließ, indem er dem Prokurator Bassus den Auftrag erteilte, alle Ländereien der Juden zu verkaufen: πᾶσαν τὴν γῆν ἀποδόσϑαι τῶν Ἰουδαίων (Josephus de bello judaico VII, 6) Josephus bleibt die Ausführung schuldig, welche Bewandtnis es mit dieser Güterkonfiskation hatte, über welche Landesteile sie sich erstreckte und an wen [390] die Ländereien verkauft wurden. [Vergl. Derenbourg, Essai etc, p. 475, welcher das Sikaricongesetz mit dem hadrianischen Krieg in Verbindung bringt, und dagegen Graetz in seiner posthumen und nicht ganz vollendeten Abhandlung beim Jahresbericht des jüd. theol. Seminars 1892. Vergl. auch Rosenthal in der Monatsschrift von Brann und Kaufmann 1892, p. 1 ff.].


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 390-391.
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