7. Die justinianische Novelle über das Vorlesen der heiligen Schrift in den Synagogen.

[410] Die Novelle 146 περὶ Ἑβραίων, erlassen an den praefectus praetorio Areobindus an den Iden des Februar 553, welche für die innern Verhältnisse der Juden des byzantinischen Reiches so wichtig ist, hat vielfache Mißdeutungen erfahren. Klarer kann kein Erlaß abgefaßt sein, als diese breite, sich in Wiederholungen ergehende Novelle, und doch behauptet Zunz (Gottesdienstl. Vorträge S. 11) »sie verbreite mehr Dunkelheit als Licht über den Punkt, ob die griechische Übersetzung in den Synagogen gelesen wurde.« Vgl. die verschiedenen Ansichten darüber in der Zeitung des Judentums Jahrg. 1841, S. 171 und Frankel, Vorstudien zur Septuaginta S. 58. Das Mißverständnis[410] der Hauptsache beruht auf einer falschen Lesart der alten lateinischen Version. So lange man der Lesart folgte: quod quidam (Judaeorum) solum habentes hebraicam vocem et ipsa uti in sacrorum librorum lectione volunt, nec graecam tradere dignantur, konnte man keinen rechten Sinn darin finden. Durch die Wiederherstellung des ursprünglichen griechischen Textes dieser Novelle (in Kriegels corpus juris T. III, p. 640 ff.) tritt das richtige Sachverhältnis ans Licht, und man gewinnt dadurch einen Einblick in die Bestrebungen der Juden und in die Tendenzen des judenfeindlichen Kaisers. Der Streitpunkt, welcher vor den Kaiser gebracht wurde und dieses Edikt veranlaßt hat, war folgender. Eine Partei in einer griechisch redenden jüdischen Gemeinde wollte eine Neuerung einführen; sie wollte neben der Vorlesung der Perikope des hebräischen Textes auch noch deren griechische Übersetzung aus einer vorhandenen Version vorgelesen wissen. Dagegen waren aber die Frommen, namentlich die Vertreter des Judentums, die Lehrer und Prediger ganz entschieden; sie bestanden darauf, daß das Hebräische ganz allein vorgelesen werde. Das sagen unzweideutig die Worte der Einleitung aus (nach der wiederhergestellten Lesart). Der Kaiser erzählt: δἰ αὐτῶν γὰρ τῶν προσενƞνεγμένων ἡμῖν προσελεύσέων ἐμάϑομεν, ὡς οἱ μὲν (τῶν Ἰουδαίων) μόνƞς ἔχονται τῆς ἑβραίδος φωνῆς, καὶ αὐτῇ κεχρῆσϑαι περὶ τὴν ἱερῶν βιβλίων ἀνάγνωσιν βούλονται. οἱ δὲ (falsche Leseart οὐδέ) καὶ τὴν ἑλλƞνίδα προσλαμβάνειν ἀξιοῠσιν. Der Gegensatz von μόνƞ ἑβραὶς φωνὴ und προσλαμβάνειν τὴν ἑλλƞνίδα spricht klar genug den Streitpunkt aus: auf der einen Seite lediglich Vorlesen des hebräischen Originals, und auf der anderen Seite das Hinzuziehen einer griechischen Übersetzung. Von einem chaldäischen Targum ist hier durchaus keine Rede. – Aus der in dieser Novelle wiederholentlich gebrauchten Fassung: Das »Griechische zum Lesen« – »diejenigen sind berechtigter, welche die griechische Sprache zum Lesen (Vorlesen) ihrer heiligen Schrift hinzunehmen wollen« (τὴν ἑλλƞνίδα φωνὴν πρὸς τὴν ... ἀνάγνωσιν προσλαμβάνειν), »es ist den Hebräern gestattet, die heilige Schrift in ihren Synagogen in der griechischen Sprache zu lesen« (διὰ τῆς ἑλλƞνίδος φωνῆς τὰς ἱερὰς βίβλους ἀναγιγνώσκειν), ich sage, aus dieser Fassung muß man folgern, daß die griechische Partei sich einer bereits vorhandenen griechischen Version bedienen wollte, um daraus neben dem Hebräischen vorzulesen. Sie verlangte, soweit Justinian ihre Intention verstanden hat, eine doppelte Rezitation, Hebräisch und Griechisch. Man darf also hierbei nicht an eine Übersetzung Vers um Vers, wie von einem Meturgeman, denken. Daher empfiehlt ihnen der Kaiser zunächst die Septuaginta und in zweiter Reihe die Aquilaïsche Version, als bereits vorhandene Versionen30.

Ein noch wichtigerer Punkt in der Novelle ist das Verbot der Deuterosis: »Die von ihnen sogenannte Deuterosis verbieten wir ganz und gar« (τὴν δὲ παῤ αὐτοῖς λεγομένƞν δευτέρωσιν ἀπαγορεύομεν παντελῶς). Was ist unter diesem Worte zu verstehen? Einige Erklärer verstehen darunter den ganzen Talmud, andere bloß die Mischnah. Aber beide haben den Zusammenhang der Novelle verkannt. Es ist in dieser Novelle nur vom Gottesdienst in den Synagogen die Rede, wohin doch Mischnah und Talmud keineswegs[411] gehören. Was auch Deuterosis bedeuten möge, es muß jedenfalls einen Bestandteil des Gottesdienstes ausgemacht haben. Der Zusammenhang der Novelle führt unbedingt darauf. Der Kaiser erklärt diejenigen im Rechte, welche das Vorlesen aus dem Griechischen neben dem Hebräischen in den Synagogen wünschen, weil es für jedermann verständlich ist, verbietet sogar das Hebräische allein zu gebrauchen, empfiehlt die Septuaginta, weil darin prophetisch auf Jesus hingewiesen sei, gestattet aber auch den Aquila und andere Versionen. »Aber die sogenannte Deuterosis verbieten wir ganz und gar, weil sie nicht in den heiligen Büchern enthalten, noch von oben durch die Propheten überliefert, sondern eine Erfindung (ἐξεύρεσις) von Menschen ist, die aus der Erde spricht und nichts Göttliches in sich hat.« Führt schon das δὲ (τὴν δὲ ... δευτέρωσιν) auf eine Verknüpfung mit dem Vorhergehenden, so erfordert es noch mehr der darauf folgende Passus: »Sie sollen die heilige Schrift selbst lesen, die Bücher selbst öffnen (αὐτὰς δὲ δὴ τὰς ἱερὰς φωνὰς ἀναγνώσονται, τὰς βίβλους αὐτὰς ναπτύσσοντες) und nicht das darin Verkündete verheimlichen, indem sie das von außen hergekommene ungeschriebene Geschwätz zum Verderben vor Einfältigen dabei anwenden« (τὰς ἔξωϑεν δὲ παραλαμβάνοντες ἀγράφους κενοφωνίας). Also beim Verlesen aus der heiligen Schrift sollen sich die Juden nicht der Deuterosis bedienen, welche hier näher erklärt wird durch ἄγραφοι κενοφωνίαι. Man braucht nicht lange zu raten, daß unter Deuterosis der agadische und halachische Midrasch zu verstehen ist. Man muß das Wort in dem Sinne nehmen, wie es die Kirchenväter brauchen31. Hieronymus, Epiphanius und andere nehmen δευτέρωσις gleichbedeutend mit παράδοσις (vgl. Hieronymus Komment. zu Jesaias 3, 14 und Epiphanius adversus haeres. 13): ἡ γὰρ παράδοσις παῤ αὐτοῖς (Ἰουδαίοις) δευτέρωσις καλεῖται. Unter der Überlieferung verstehen sie aber in ihrem Sinne wirkliche Zusätze zu der heiligen Schrift und wirkliche Deutung derselben von seiten der Pharisäer; sie sprechen selten von der παράδοσις, ohne sie als κενοφωνία zu brandmarken. Da nun der Kaiser Justinian schwerlich die Novelle selbst stilisiert hat, sondern einer seiner Hoftheologen, so hat der Konzipient sich offenbar der patristischen Redeweise bedient, um den Midrasch zu bezeichnen, den der Kaiser in den Synagogen verbieten wollte. Die Deuterosis ist nichts anderes als die traditionelle oder midraschische Auslegung der heiligen Schrift.

Durch diese Auffassung tritt erst der eigentliche Hintergrund des Streitpunktes deutlich ans Licht. Die Novelle gibt nämlich unzweideutig die Gegner der griechischen Partei an, es waren die ἀρχιφερεκῖται (אקרפ ישיר), die πρεσβύτεροι und die διδάσκαλοι oder, wie sie noch richtiger bezeichnet werden, die ἐξƞγƞταί, d.h. die Ausleger der heiligen Schrift, die אתדגאד ןנבר. Die Novelle verbietet ihnen bei schwerer Strafe, das Vorlesen aus dem Griechischen durch Machinationen oder Bannflüche zu verhindern: οὐδὲ ἄδειαν ἕξουσιν οἱ παῤ αὐτοῖς ἀρχιφερεκῖται ... προσαγορευόμενοι περινοίαις τισὶν ἢ ἀναϑƞματισμοῖς τοῠτο κωλύειν. Sie verbietet den »Auslegern«, wenn sie das Hebräische allein vorlesen, den Sinn zu verdrehen: καὶ μὴ παῤῥƞσίαν εἶναι τοῖς παῤ αὐτοῖς ἐξƞγƞταῖς, μόνƞν τὴν ἑβραΐδα παραλαμβάνουσι, κακουργεῖν ταύτƞν. Mit einem Worte, die griechische Partei war gegen die agadische [412] Auslegung der vorgelesenen Perikopen und wollte dafür eine einfache wörtliche Übersetzung derselben. Darum rügt die Novelle in der Einleitung, daß die Juden sich unvernünftigen Auslegungen der heiligen Schrift hingeben: καὶ ἀλόγοις σφᾶς αὐτοὺς ἐρμƞνείαις ἐπιδίδοντες. Die Agadisten oder Prediger waren aber aus begreiflichen Gründen gegen die griechische Übersetzung. – Die agadische Auslegung war also im 6. Jahrhundert bei einem Teil der Bevölkerung in Mißkredit geraten. Die griechische Partei, welche an den Kaiser appellierte, scheint denunziatorisch gegen die Agadisten aufgetreten zu sein, daß sie unwürdige Vorstellungen von Gott verbreiteten. Daher drohte der Kaiser mit schweren Strafen denjenigen, welche »gottloses Geschwätz« (ἀϑέους κενοφωνίας) in die Vorträge einführen, Auferstehung und jüngstes Gericht leugnen, und behaupten: das Werk und die Schöpfung Gottes sei durch die Engel geschehen: ἢ τὸ ποίƞμα τοῠ ϑεοῠ καὶ κτίσμα (διὰ) τοὺς ἀγγέλους ὑπάρχειν (Lesart des Haleanderschen Kodex). Die Novelle erhält erst dadurch Sinn und Bedeutung, wenn man annimmt, daß der Streit zugleich für und gegen den Midrasch war32.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1909, Band 5, S. 410-413.
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