7. Die »Massentaufen«.

[599] Mit den »Massentaufen«, welche freiwilliger Abfall vom Judentum während des laufenden Jahrhunderts bewirkt hat, ist von Graetz eine neue Kategorie der Taufen, eben die »Massentaufen« in die Geschichte der Juden eingeführt worden. Diese neue Kategorie hat sich während etwa 30 Jahren vollständig eingebürgert. »Massentaufen« sind nunmehr ein geläufiges Stichwort geworden. Die vorliegende Note ist der Frage gewidmet: wie ist die historische, d.h. tatsächliche Grundlage beschaffen, auf welcher die »Massentaufen« beruhen?

Mit der Darstellung ihrer religiösen, moralischen und sozialen Ursachen werden oben im Texte die Massentaufen zugleich auch statistisch und zwar an zwei Stellen festgestellt, erstens in dem Kapitel über die Measfim »Der judenchristliche Salon« (S. 160) und zweitens in dem Kapitel »Die Reform und das junge Israel« (S. 381 ff.). An der ersten Stelle wird hervorgehoben der massenhafte Abfall der Vernünftler und Wüstlinge, der tägliche Abfall in den Gemeinden von Berlin, Breslau und Königsberg, und schließlich wird statistisch fixiert, »daß in drei Jahrzehnten die Hälfte der Berliner Gemeinde zur Kirche übergetreten war«. In der anderen die Massentaufen kennzeichnenden Stelle (S. 415), wo von der Zerfahrenheit unter den deutschen Juden und dem Mißgeschick des Kulturvereins gesprochen wird, werden die »vielen Beisp ele von Judentaufen« hervorgehoben und wörtlich gesagt: »so zum Beispiel sind bis 1823 in Berlin 1236, die Hälfte der Gemeinde, und auswärts in Preußen 1382 vorgekommen.«

[599] In den beiden angeführten Stellen wird die getaufte Hälfte der Berliner Gemeinde als das statistische Ergebnis formuliert: einen inneren (oder besser subjektiven?) Zusammenhang beider Stellen darf man wenigstens vermuten, wenngleich jede Stelle durch eine besondere quellenmäßige Angabe bezeugt wird. Für die erste Stelle wird als Quelle hingewiesen auf »Rahels Brief an ihren Bruder Robert« (d.d. Baden, 29. August 1819). Was hat es mit diesem Briefe für eine Bewandtnis? Rahel »grenzenlos traurig, gekränkt bis zum herzerkaltenden Schreck über den durch Deutschland tobenden Judensturm« macht ihrem Herzen Luft: »Noch ist's in Berlin ruhig, dort würde am meisten zu fürchten sein, dort haben die Juden im Kriege gedient; die Hälfte ist getauft und mit Christen verehelicht, da hätte es nimmer gut getan.« Dieser Aufschrei der Verzweiflung der »unglückseligen Kassandra« – so nennt sich Rahel selbst in diesem Briefe – hat keinerlei statistische Bedeutung, weder für die sogenannte Gesellschaft der Berliner Juden, die den eigentlichen Kreis Rahels bildet, noch für die wirkliche jüdische Gemeinde Berlins, bezüglich welcher Rahel auch in ruhiger Stimmung und frei von jeglicher Erregung vollständig inkompetent ist. »Die Hälfte ist getauft« das ist in jedem Falle eine statistisch durchaus wertlose Hyperbel!

Für die zweite Stelle, – welche gewiß ein frappantes statistisches Beispiel für die Massentaufen darstellt – ist Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg, die Quelle. Aber diese Hinweisung ist ganz und gar ein frappantes Mißverständnis; dasselbe bedarf in der Tat nur einer einfachen tatsächlichen Berichtigung. Bei Jolowicz ist nichts weiter zu lesen, als daß die Volkszählung von 1822 ergeben hat für die Stadt Königsberg 1236 Juden, und für die anderen Städte und Flecken im Reg.-Bez. Königsberg 1382 Juden, und weiter, daß die Königsberger Regierung dem Pastor Bergius, einem Hauptmitgliede des Vereins für Bekehrung der Juden, dieses Ergebnis auf Anfrage mitgeteilt habe. Die Zahlen in dem statistischen Beispiele beziffern also überhaupt keine Berliner, weder getaufte noch ungetaufte – und die 1236, welche als die getaufte Hälfte (?) der Berliner jüdischen Gemeinde hingestellt werden, haben 1822 die wirkliche jüdische Gemeinde der Stadt Königsberg gebildet – wie übrigens auch in der von Jolowicz gegebenen statistischen Tafel über die Juden in Königsberg von 1750 bis 1869 zu lesen ist.

Wie schon oben bemerkt, das Diktum von der während dreier Jahrzehnte getauften Hälfte der jüdischen Gemeinde Berlins veranschaulicht wie in einem Bilde die »Massentaufen«. Dieses Diktum ist denn auch in der Tat in Graetz' »Volkstümliche Geschichte der Juden« (S. 604), ebenso in die französische Ausgabe Graetz, Histoire des Juifs V. (Paris 1897) übergegangen, und dasselbe wird auch bis in die neueste Zeit in der Literatur vorzugsweise als das Beispiel der Massentaufen zitiert.

Irren ist menschlich. An eben derselben Stelle, wo einst der Irrtum begangen worden, soll heute, gewissermaßen im Namen des irrenden Meisters, die Pflicht der historischen Wahrheit erfüllt werden. Solcher Absicht verdankt die Anmerkung zu den »Massentaufen« die Ehre, eine Stelle [600] in der Geschichte der Juden gefunden zu haben. Es erschien nicht angemessen und war auch nicht tunlich, die Anmerkung durch Erörterung zusammenhängender Fragen über ihre ursprüngliche Absicht auszudehnen. Mit dem Danke für die erwiesene Ehre und mit dem Wunsche, daß die Absicht der Anmerkung erreicht sei, mag dieselbe hiermit geschlossen sein.

Berlin, 22. November 1898.

Dr. S. Neumann.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. 599-601.
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