Militärische Ordnungen

[56] 23. Schutz und Betätigung nach außen und Aufrechterhaltung der Rechtsordnung im Innern sind die beiden wesentlichsten Aufgaben des staatlichen Verbandes, Rechtssprechung und Kriegführung die wichtigsten Äußerungen der Staatsgewalt. Der Aufgabe der Kriegführung dient die militärische Organisation des Verbandes. Als die natürlichste Ordnung erscheint, daß jedes vollkräftige Mitglied zur Teilnahme am Kampf verpflichtet ist; und das ist wohl zweifellos überall das Ursprüngliche gewesen. Aber die weitere Entwicklung hat auch hier die größten Unterschiede geschaffen. Bei manchen Stämmen wird die allgemeine Verpflichtung zum Kampf festgehalten; auch die Knechte nehmen im Gefolge ihrer Herrn daran teil. Wenn sich aber der größere Verband in kleinere Gruppen (Clans u.a.) aufgelöst hat, oder wenn große Geschlechtshäupter mit reichem Besitz an Vieh oder Land und zahlreichen Hörigen so gut wie selbständig geworden sind, besteht wohl noch die sittliche Pflicht, der Gesamtheit beizustehen, aber ein rechtlicher Zwang zur Teilnahme am Kriege kann kaum oder auch gar nicht geübt werden, wie umgekehrt der Staatsverband Fehden auf eigene Hand gegen Fremde oder unter einander nicht zu hindern vermag. Vielfach scheiden die Besitzlosen und von anderen Abhängigen, vor allem die Hörigen, wie aus der Gemeindeversammlung, so aus dem Volksheer aus, namentlich wenn eine Kampfweise sich entwickelt hat, die kostspielige Waffen und körperliche Übung erfordert, die dem Arbeiter nicht möglich ist. Auch ein gesonderter Kriegerstand kann sich bilden, sei es, daß die Waffenübung das Privileg eines [56] bevorrechteten Standes wird, sei es, daß erobernde Eindringlinge die Unterworfenen nicht zum Waffendienst zulassen, oder daß umgekehrt der Staat eine Truppe von Berufskriegern ausbildet, die er durch Lohn entschädigt. Das ist namentlich, aber keineswegs notwendig oder ausschließlich, in absoluten Monarchien der Fall, die ihre Krieger oft aus der Fremde anwerben oder Sklaven dazu aufziehen. Hinzu kommt immer die Wirkung der Lebensweise und der Umgebung auf den Charakter eines Stammes; manche degenerieren durch die Genüsse entwickelter Kultur, andere, die lange in isolierten, scheinbar gesicherten Verhältnissen gelebt haben, können auch bei primitiver Kultur den kriegerischen Geist völlig verlieren, so daß sie die leichte Beute jedes plötzlich auftauchenden Feindes werden.

24. Mit diesen Unterschieden verbinden sich in mannigfacher Wechselwirkung die verschiedenen Formen des Kampfes. Nach den Waffen scheidet sich der Kampf in Fernkampf (Pfeil und Bogen, Schleuderholz oder Bumerang, Schleuderstein) und Nahkampf (Keule, Lanze, Streitaxt, Schwert – der Wurfspeer steht in der Mitte zwischen beiden Gruppen), nach der Kampfweise in Einzelkampf und geschlossenen Kampf. Jener erfordert eine größere persönliche Ausbildung des einzelnen Kriegers, dauernde Übung, mutige Entschlossenheit, gute Waffen und womöglich auch Schutzwaffen; er findet sich daher vor allem da, wo eine aristokratische Gliederung besteht und die vornehmen kriegsgeübten Männer an der Spitze eines dienenden Gefolges selbstherrlich in den Kampf ziehen. Der geschlossene Kampf dagegen setzt soziale Gleichheit der Krieger und einen starken Gemeingeist, Unterordnung unter das Staatsgesetz und den Befehl der Staatsorgane, die hier in der Form der Disziplin auftritt, und gemeinsame militärische Erziehung voraus, und ist daher vor allem in festgegründeten Monarchien und in demokratischen Stammverbänden, sowie in entwickelten Republiken zu finden. Bewaffnung und Kampfweise kreuzen sich gegenseitig: sowohl Schützen wie Lanzenkämpfer erscheinen hier als geschlossene disziplinierte Truppen, dort als Einzelkämpfer – wenn auch der geschlossene Ansturm mit der [57] Lanze und vollends mit dem Schwerte ein fester diszipliniertes Gefüge voraussetzt als der Angriff einer Schützentruppe –; und nicht selten sind beide Kampfweisen und verschiedene Bewaffnung in demselben Heer mit einander verbunden.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 56-58.
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