Das historische Material. Allgemeine Geschichte der Schrift. Denkmäler und Urkunden

[211] 119. Alle Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung ist äußerlich bedingt durch Existenz und Beschaffenheit des historischen Materials, d.h. von Zeugnissen irgendwelcher Art, die uns von einer Vergangenheit Kunde geben. Ob solche Zeugnisse vorhanden sind und welcher Art sie sind, hängt ausschließlich vom Zufall ab; denn wenn es auch auf der Gestaltung der Kultur und den in ihr wirksamen Tendenzen beruht, ob ein Volk in einer bestimmten Epoche seiner Entwicklung größere Monumente oder eine Literatur und innerhalb dieser wieder eine Geschichtsliteratur schafft, so ist es von dem Zusammentreffen unzähliger äußerer Umstände, die mit dem Charakter dieser Kultur selbst in gar keinem Zusammenhang stehen, abhängig, ob diese Denkmäler sich erhalten haben oder spurlos zu Grunde gegangen sind; und ebenso z.B. ob ein Volk, das die Schrift nicht selbst erfunden hat, sie schon in frühem Zustande von einem anderen erhalten hat, oder ob über dasselbe aus einer Zeit, in der es selbst wenig oder gar keine dauernden Zeugnisse schaffen und hinterlassen konnte, andere weiter fortgeschrittene Völker Nachrichten überliefert haben u.a.m. So ruht das ganze Fundament aller Geschichtsforschung auf einem Grunde, der ausschließlich von individuellen Bedingungen beherrscht ist, die sich jeder Gesetzmäßigkeit6 entziehen. Daher ändert sich [211] denn auch der Bestand der Überlieferung fortwährend, und zwar teils durch Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis schon vorhandenen Materials (z.B. die Entzifferung einer Schrift und das fortschreitende Verständnis einer Sprache), teils durch zufällige Funde und Entdeckungen – denn auch, wenn das Suchen methodisch unternommen wird, ist doch, ob etwas und was eventuell gefunden wird, davon völlig unabhängig. Auf diese Weise ist seit anderthalb Jahrhunderten unsere Kenntnis der älteren Geschichte der orientalischen Völker und der Griechen gewaltig vermehrt, ja zum großen Teil überhaupt erst geschaffen worden, und dadurch der Zeitraum, in dem wir die geschichtliche Entwicklung (wenn auch nicht die gesamte Weltgeschichte, so doch die der wichtigsten Kulturvölker) wenigstens in den Grundzügen übersehen können, nahezu verdoppelt worden. Eine gleichwertige Erweiterung unserer geschichtlichen Erkenntnisse können wir niemals wieder erwarten: aber gerade bei ihr haben wir auf Schritt und Tritt empfunden, sowohl bei den Begebenheiten und Zuständen, über die wir ungeahnte Aufschlüsse erhalten haben, wie bei den großen, oft gerade durch diese Entdeckungen nur um so empfindlicher werdenden Lücken unseres Wissens, wie dominierend auf diesem Gebiete trotz aller systematischen Bemühungen der Forschung die Macht des Zufalls ist. Wäre uns z.B. der Turiner Königspapyrus nicht in dürftigen Fetzen, sondern vollständig erhalten, wie so viele oft sehr geringwertige andere aegyptische Texte, oder würde einmal ein Duplikat desselben auftauchen, so würde sich sofort unsere Kenntnis der aegyptischen Geschichte ganz anders gestalten. Das gleiche gilt von den babylonischen und assyrischen Geschichtsquellen, von dem gesamten überlieferten oder wiederentdeckten Bestande der griechischen Literatur, und überhaupt ausnahmslos von allem historischen Material.

120. Eine Aufzählung und eingehendere Betrachtung der Hauptgruppen dieses Materials gehört nicht hierher und würde sich überhaupt ohne Eingehen auf die Einzelgebiete, das der Quellenkunde zu diesen überlassen bleibt, über Selbstverständliches [212] und vage Trivialitäten nicht erheben können. Es gibt Gebiete geschichtlichen Lebens, auf denen lediglich schriftlose Denkmäler, wenn sie in großer Fülle vorliegen, schon einigen Einblick in Gestaltung und Verlauf der Entwicklung gewähren, weil sie vor allem in der künstlerischen Gestaltung eine starke individuelle Eigenart zeigen und zugleich etwa durch die Anlage von Städten und Straßen, von Palästen und Gräbern auf die politischen und kulturellen Verhältnisse manche sichere Rückschlüsse gestatten, wie z.B. die Denkmäler der kretisch-mykenischen Epoche; das gleiche gilt, wenn auch in geringerem Maße, von den Überresten der sogenannten »prähistorischen« Epochen (§ 93). Auch für alle diejenigen Zeiten, welche schriftliche und literarische Überlieferung hinterlassen haben, bleiben derartige Denkmäler eine äußerst wichtige geschichtliche Quelle. Aber dies Material ist seiner Natur nach immer äußerst lückenhaft; eine wesentliche Vermehrung tritt erst da ein, und der Versuch, die Aufgaben der Forschung und Darstellung wenigstens einigermaßen zu erfüllen, kann erst da unternommen werden, wo die Schrift ein Bestandteil der Kultur eines Volkes geworden ist und schriftliche Denkmäler desselben bis auf uns gekommen sind.

121. Alle Schrift ist hervorgegangen aus der bildlichen Darstellung von Gegenständen und Vorgängen, und ist daher ursprünglich immer Hieroglyphenschrift. Jedes Bild will in der Seele des Beschauers einen bestimmten Eindruck hervorrufen, der sich in Worte fassen läßt; was das Bild zur Schrift macht, ist die Festlegung dieses Eindrucks auf genau bestimmte Vorstellungen und die diesen entsprechenden Worte, die schließlich dazu führt, daß auch der lautliche Ausdruck durch das Bild genau fixiert wird. Dadurch wird das Bild zum Symbol, zum Zeichen für eine Vorstellung und einen Laut oder Lautkomplex. Den Ausgangspunkt bildet die Zusammenfassung eines fortschreitenden Vorgangs, z.B. eines Kriegszugs, eines Festes, einer Weihung (Opfer) an die Gottheit, in einer einzigen Zeichnung, wie sie gerade der naiven Phantasie durchaus natürlich ist. Denn diese will nicht, wie [213] die entwickelte Kunst, ein Augenblicksbild darstellen, das immer eine Abstraktion enthält; sondern was in ihrem Bewußtsein lebt, ist entweder lediglich ein Einzelobjekt, oder ein Vorgang als Ganzes, den sie nachbilden will: daß dieser sich aus einer unendlichen Reihe wechselnder Bilder zusammensetzt, von denen die Reproduktion immer nur einen einzelnen Moment zur Darstellung bringen kann, kommt ihr erst sehr spät, bei hochgesteigerter Entwicklung der künstlerischen Empfindung, zum Bewußtsein. Daher entspricht keine derartige Zeichnung dem wirklich Angeschauten, sondern verlangt zu ihrem Verständnis der (völlig unbewußten) Nachhilfe der Phantasie und daher der Umsetzung in Worte. Darauf beruht es, daß jede Zeichnung einer primitiven Kunst, und selbst einer so weit fortgeschrittenen wie die aegyptische oder die ältere griechische, unserem Empfinden durchaus unnatürlich und selbst unverständlich erscheint, während umgekehrt diese Völker ein modernes Gemälde gar nicht würden begreifen können, da es ihnen nichts sagen würde. Von denselben Tendenzen ist die Zeichnung eines Einzelgegenstandes beherrscht: sie will ihn auf der Fläche darstellen nicht wie er dem Auge erscheint – das ist vielmehr eine Abstraktion, zu der erst eine sehr fortgeschrittene Kunst gelangt –, sondern wie er in seiner Totalität im Räume tatsächlich ist. Diese Art der naturwüchsigen Kunst führt notwendig zur Verwendung von Andeutungen und Symbolen, die von realen Erscheinungen entlehnt sind, und auch im praktischen Leben verwandt werden; so haben z.B. bestimmte Kronen und Scepter des Fürsten oder bestimmte Zeremonien des Königs, des Priesters, des Opfernden (wie das Begießen von in einen Topf gesetzten Zweigen, Blüten, Früchten in Babylonien) eine feststehende Bedeutung, bestimmte Symbole, wie die Verschlingung von zwei Pflanzen als Darstellung der Herrschaft über die beiden aegyptischen Reiche, werden am Thron angebracht u.ä. Diese Symbole haben an sich, als Naturobjekte, gar keinen Sinn, sondern nur als Andeutungen bestimmter Begriffe, die man in dem Beschauer erzeugen [214] will, und die sich dann auch zu geistigen (dämonischen) Mächten verdichten können. Analog ist es, wenn Knoten und Striche zur Bezeichnung von Zahlen verwendet werden u.ä.

122. Mit diesen Symbolen ist bereits die Vorstufe der Schrift erreicht. Die weitere Entwicklung besteht in der systematischen Ausbildung dieser Elemente. Einerseits werden die Symbole vermehrt und in ihrer Bedeutung konventionell festgelegt, so daß z.B. das Bild eines Sterns den Himmel oder die Gottheit, das der Sonne oder die Kombination von Sonne und Mond den Glanz, das Bild eines schlagenden Mannes den Begriff des Schlagens oder der Gewalt überhaupt reproduziert; andrerseits wird die Zeichnung von Gegenständen zur Bezeichnung nicht nur der diesen entsprechenden Worte, sondern lediglich ihres Lautwertes verwendet, so daß es diese Laute überall bezeichnet, wo sie in der Sprache vorkommen, ohne Rücksicht auf die sinnliche Bedeutung des Bildes. Der letzte und entscheidende Schritt besteht darin, daß man diese einzelnen Symbole ohne jede Rücksicht auf ein Gesamtbild aneinander reiht, um dadurch die menschliche Rede in ihrem Wortlaut wiederzugeben: damit sind sie zu wirklichen Schriftzeichen geworden. Dieser Schritt, der ein gewaltig gesteigertes Abstraktionsvermögen verrät, kann, auch wenn er sich in mehreren Stufen vollzogen und wiederholte Verbesserungen und Ergänzungen erfahren hat, immer nur der bewußte Akt einzelner schöpferischer Individuen gewesen sein, so gut wie der viel kleinere Schritt vom Holzschnitt zur Erfindung beweglicher Typen und damit des Buchdrucks. Er ist, soweit unsere Kenntnis reicht, abgesehen von den Ansätzen der Mexikaner auf Erden dreimal geschehen, in Aegypten, in Babylonien und in China. Zwischen China und den beiden westlichen Gebieten ist ein historischer Zusammenhang undenkbar, wenn auch die über alle Realitäten des geschichtlichen Lebens sich unbedenklich hinwegsetzende Phantasie von Träumern mehrfach Vermittlungsversuche aufgestellt hat und voraussichtlich immer von neuem wiederholen wird. Aber [215] auch zwischen Aegypten und Babylonien, so viel näher sie sich geographisch stehen und so zweifellos Berührungen zwischen beiden Gebieten schon in und vor den ältesten geschichtlich erkennbaren Zeiten bestanden haben, ist ein Zusammenhang der Schrift nicht erwiesen; vielmehr haben sich die scheinbaren Übereinstimmungen bisher durchweg entweder als neckische Zufälle erwiesen, die sich bei genauerer Untersuchung in nichts verflüchtigen, oder es sind Wirkungen des aller Schriftbildung zu Grunde liegenden Prinzips, die für einen geschichtlichen Zusammenhang nichts beweisen können. Zwischen beiden Gebieten treten uns noch mehrere andere Schriftsysteme entgegen, die kleinasiatische, die kretischen, die chetitische, die cyprische Schrift, die mit Ausnahme der letzten noch nicht entziffert sind, und über deren Wesen und Ursprung daher ein sicheres Urteil noch nicht möglich ist: aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie, wenn nicht aus direkter Entlehnung, so doch unter der Einwirkung der aegyptischen und der babylonischen Schrift entstanden, d.h. ihren Erfindern war der Begriff der Schrift und ihrer Übung bereits bekannt, und sie haben nur für ihre eigene Sprache nach diesem fremden Muster ein selbständiges Schriftsystem erfunden, ein Vorgang, der sich auch später oft wiederholt hat, vor allem bei mongolischen Völkern.

123. Während das Prinzip der Schriftbildung bei allen Schriftsystemen das gleiche ist, ist die Einzelgestaltung und die Stufe, welche die Entwicklung erreicht hat, bei jedem eine andere. Die chinesische Schrift schafft für jedes Wort ein bestimmtes Zeichen und hat deren so viel als sie Worte besitzt; wenn also auch das Zeichen ein Symbol für einen Lautkomplex ist, so ist sie doch keine Lautschrift. Die babylonische Schrift besitzt zwar auch solche Wortzeichen (und daneben reine Deutezeichen, Ideogramme), aber fügt ihnen reine Lautzeichen bei, die jedoch immer nur Lautkomplexe, einfache und zusammengesetzte Silben, bezeichnen; und je weiter sie sich ausbildet, desto mehr wird dieses Element dominierend. Am weitesten fortgeschritten ist die älteste von [216] allen, die aegyptische. Sie verwertet zwar auch Ideogramme, Wortzeichen, Silbenzeichen; aber daneben ist es ihr gelungen, die wenigen einfachen Bestandteile zu entdecken, aus denen sich alle Rede zusammensetzt, die Sprachlaute. Für diese hat sie besondere Bildzeichen erfunden, die Buchstaben, mit denen sie allerdings wenigstens ursprünglich nur die Konsonanten, nicht auch die Vokale bezeichnet. Aber sie bringt diese Buchstaben in systematischen Zusammenhang mit den übrigen Schriftzeichen und hat dadurch ein sehr kompliziertes Schriftsystem geschaffen. Erst sehr viel später, um das Jahr 1000 v. Chr., hat ein Phoeniker es gewagt, die Schrift allein auf diese Buchstaben (Konsonantenzeichen) zu beschränken. Ob er die Zeichen, die er dafür verwendete, etwa der aegyptischen, babylonischen, chetitischen, cyprischen Schrift entlehnt hat, ist nicht zu erkennen und geschichtlich ziemlich irrelevant; das Entscheidende ist, daß das Element des Einzellautes und seine Bezeichnung durch den Buchstaben bereits seit mehr als zwei Jahrtausenden von den Aegyptern entdeckt war und von dem Phoeniker für seine Erfindung benutzt wurde. Die phoenikische Schrift erschwert allerdings das Verständnis, das Lesen, im Gegensatz zu der aegyptischen und babylonischen Schrift ganz außerordentlich, zumal das ursprünglich beibehaltene Prinzip der Worttrennung alsbald aufgegeben wurde; erst die Hinzufügung von Vokalzeichen in den aus dem phoenikischen abgeleiteten Alphabeten hat diesen Übelstand beseitigt. Dafür aber gewährt die phoenikische Schrift eine so außerordentliche Erleichterung des Lernens und des praktischen Gebrauchs, daß sie alsbald ihren Siegeszug von einem Volk zum andern angetreten hat; mit Ausnahme des Chinesischen und der daraus abgeleiteten Systeme sind alle jetzt auf Erden gebräuchlichen Schriften aus ihr hervorgegangen.


Auf einer ähnlichen wenn auch nicht so konsequent durchgeführten Vereinfachung des Schriftsystems, wie die phoenikische Schrift, beruht die persische Keilschrift, die aber wegen der Unbeholfenheit ihrer nur auf Stein oder Ton verwendbaren Zeichen keine weitere Entwicklung gehabt hat, sondern sehr rasch auch bei den Persern selbst durch die aramaeische Schrift verdrängt worden ist.


[217] 124. Mit der Erfindung des Schriftsystems ist die innere Entwicklung einer Schrift im wesentlichen vollendet; was hier hinzukommt, sind immer nur unwesentliche Modifikationen. Wohl aber unterliegt es äußerlich, wie alles Menschliche, einem fortwährenden Wandel. Durch die Schrifterfindung ist eine einmalige Verknüpfung zwischen Laut und Zeichen geschaffen, in derselben Art, wie in der Sprache selbst zwischen Laut und Bedeutung; von diesem Moment an entwickeln sich, ebenso wie in der Sprache, die beiden Elemente völlig selbständig, und nur die Verbindung selbst bleibt unauflösbar bestehen, solange diese Schrift überhaupt verwendet wird. Die äußere Umgestaltung der Schriftformen ist wesentlich von dem Material abhängig, mit dem und auf dem geschrieben wird. Daraus entsteht, gleich mit der Erfindung der Schrift selbst, eine Kursive, welche die Zeichen zum praktischen Gebrauch vereinfacht und dann Schritt für Schritt weiter umwandelt, bis das ursprüngliche Bild völlig verschwindet und sich in eine, scheinbar willkürliche, Kombination von Strichen umsetzt. Nur die Aegypter haben für die monumentale Schrift die ursprünglichen Bilder (Hieroglyphen) um ihres künstlerischen Wertes willen neben der Kursive beibehalten, ja sie unter besonderen Umständen selbst für literarische Zwecke, beim Schreiben auf Papier, verwendet.

125. Mit dem Momente, wo die Schrift erfunden ist, beginnt ihre Verwendung für alle Zwecke des praktischen Lebens, die sofort außerordentlich große Dimensionen annimmt. Sie schafft einen Berufsstand der Gelehrten, der Schreiber, deren Hilfe bei aller über die rein mechanischen Beschäftigungen hinausreichenden Tätigkeit unentbehrlich wird und die daher auf die Gestaltung des Lebens, vor allem des Staats, des Rechts und der Religion, entscheidend einwirken. Die Schrift ermöglicht, einen momentanen Vorgang dauernd festzuhalten und für die Zukunft zu fixieren: sie wird daher bei jedem Rechtsgeschäft und bei jeder staatlichen Aktion angewandt, aber auch im privaten Leben, sobald es in größeren Dimensionen sich bewegt und daher mit größeren Zeiträumen [218] rechnen muß, z.B. bei der Ermittlung der Einkünfte eines Guts, der Lieferungen der Arbeiter und Hörigen u.s.w. Dazu kommen dann Briefe, schriftliche Anordnungen u.ä. Ferner legt man z.B. die Bräuche und Formeln eines Rituals, religiöse Hymnen, Rechtssätze, praktische Regeln der Medizin und anderer Künste schriftlich fest – die Anfänge einer traditionellen Literatur. Von allen derartigen Aufzeichnungen kann sich, je nach den äußeren Umständen, dem verwendeten Material, der Beschaffenheit des Bodens, der Geschichte der Überlieferung, ein Teil bis auf uns erhalten haben und dadurch zu einer Geschichtsquelle werden. Wir fassen sie alle unter dem Namen von Urkunden zusammen, zu denen im Sinne dieser Betrachtung auch die Literaturwerke gehören. Ihr Wesen besteht darin, daß sie gar nicht die Absicht haben, die Nachwelt aus theoretischem Interesse zu belehren, sondern daß sie aus praktischen Bedürfnissen des Moments heraus einen Vorgang der Gegenwart schriftlich festlegen und dadurch der Zukunft erkennbar machen. Darauf beruht ihr außerordentlicher Wert für die Geschichtsforschung. Ihre Angaben können an sich richtig oder falsch sein – das zu ermitteln ist Aufgabe der historischen Kritik, so gut wie die Prüfung ihrer Echtheit –, aber sie sind, wie die monumentalen Denkmäler, Erzeugnisse der Vergangenheit, in denen diese noch unmittelbar zu uns redet, ungetrübt durch irgendwelche späteren Einflüsse. In ihnen faßt sich eine Gruppe von Vorgängen in einen Akt zusammen, den wir noch selbst greifen können, und der uns wieder die Voraussetzungen erkennen läßt, unter denen er entstanden ist, und durch richtige Interpretation über eine Fülle gleichzeitiger Vorgänge und Intentionen und vor allem allgemein herrschender Zustände und Anschauungen authentischen Aufschluß gewährt. Diese Interpretation, die richtige Erkenntnis der Tragweite einer Urkunde, ist wieder die Aufgabe der historischen Kritik und des historischen Taktes. Die Gefahr, hier auf Irrwege zu geraten und falsche Schlüsse zu ziehen, ist oft sehr groß; trotzdem bleiben die Urkunden das wichtigste Mittel zur [219] Kontrolle aller anderen Überlieferung, und vor einer richtig interpretierten Urkunde stürzen alle ihr widersprechenden Angaben einer Tradition, mochte sie sonst noch so zuverlässig erscheinen, rettungslos zusammen. Denn in ihnen redet die Vergangenheit unmittelbar, nicht durch Vermittlung Fremder, zu uns: die weitere Aufgabe der Kritik ist alsdann, den Ursprung dieser entstellten Tradition aus den Bedingungen und Tendenzen, unter denen sie entstanden ist, aufzuhellen. – Eben in diesem Charakter des urkundlichen Materials liegt aber auch seine Einseitigkeit und Unzulänglichkeit. Es gibt immer nur Augenblicksbilder, die den bestehenden Zustand und höchstens einzelne in ihm festgehaltene Momente des Werdens reflektieren; zu einer Erkenntnis dieses Werdens in seinem Zusammenhang, der Entwicklung als einer großen Einheit, reicht es daher niemals aus, selbst wenn die Urkunden noch so zahlreich sind. Wir können daher auf sie niemals eine vollständige Darstellung aufbauen, welche die entscheidenden Momente klar erkennen und verstehen lehrte – das zeigt sich am deutlichsten da, wo wir fast ausschließlich auf solches Material angewiesen sind, wie in Aegypten und Babylonien. Um das historische Leben und Werden wirklich zu erfassen, bedürfen wir vielmehr einer zuverlässigen Ueberlieferung, welche eben diese Vorgänge, die sich der urkundlichen Festlegung entziehen, beobachtet und festhält, und die dann in ihren einzelnen Angaben durch das urkundliche Material kontrolliert und eventuell korrigiert oder ergänzt werden kann.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 211-220.
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