Die Überlieferung

[102] 192. Nach aegyptischer Überlieferung ist wie die Welt und ihre Ordnungen so auch der aegyptische Staat von den Göttern geschaffen. Sie haben zu Anfang in der Reihenfolge, wie sie der Götterstammbaum feststellt (§ 193), in mehreren Dynastien über Aegypten regiert. Aber auf die Götter folgt nicht sogleich die Liste der mit Menes beginnenden Dynastien der Pharaonen, sondern vor diesem stehen mehrere Dynastien anderer, menschlicher Könige. Das ist nicht etwa erst eine spätere Konstruktion, sondern uralte Überlieferung. In der nur fragmentarisch erhaltenen Liste des Turiner Königspapyrus (§ 162) folgt auf die Götter zuerst, wie es scheint, eine Dynastie mit über 1000 Jahren, dann 20 Könige mit 1110 Jahren, weiter 10, deren Jahreszahl verloren ist, und andere, von denen nur die Jahreszahl 330 erhalten ist; dann 10 Könige mit über 1000 Jahren, darauf 19 Herrscher von Memphis mit nur 11 Jahren 4 Monaten 22 Tagen, und 19 Könige des Nordlands mit über 2100 Jahren, zum Schluß die Dynastie der »Horusverehrer« mit über 13420 Jahren. Bei Manetho folgte auf die dritte Dynastie der Götter oder vielmehr Halbgötter zuerst eine Anzahl Herrscher mit 1817 Jahren, dann 30 Könige von Memphis mit 1790 Jahren, 10 Könige aus Thinis mit 350 Jahren, schließlich die den Horusverehrern entsprechenden »Totengeister« (νέκυες ἡμίϑεοι; dieser Übersetzung liegt ein Mißverständnis zu Grunde) mit [102] 5813 Jahren. Trotz der Abweichungen im einzelnen ist, wie man sieht, das allgemeine Schema das gleiche. Von besonderer Bedeutung ist, daß bei beiden den Horusverehrern, die auch sonst in den aegyptischen Denkmälern als Könige der Urzeit und Vorgänger des Menes nicht selten genannt werden, mehrere andere Dynastien menschlicher Herrscher vorangehen, unter denen am Schluß Könige aus Memphis und dem Nordland besonders hervortreten. Von diesen unteraegyptischen Königen (erkennbar an der »roten« Krone, die sie tragen) sind in der ersten Zeile der Chronik des Palermosteins (§ 206), wo die Könige vor Menes einzeln aufgezählt waren, 9 Namen erhalten. Somit hat das Alte Reich über diese Zeit noch eine viel eingehendere Kunde besessen, als im Turiner Papyrus und bei Manetho erhalten ist. Die von diesen gegebenen Zahlen sind deutlich unhistorisch und setzen zum Teil eine Lebensdauer der Urmenschen von weit über 100 Jahren voraus; und auch in der Folge der Dynastien mag schon in der Überlieferung des Palermosteins willkürliche Konstruktion, verbunden mit mythischen Vorstellungen, eingedrungen sein. Aber das allgemeine Bild, welches diese Nachrichten von der ältesten Geschichte Aegyptens geben, stimmt vortrefflich zu den Tatsachen, die wir aus anderen Zeugnissen erschließen können; und die auf dem Palermostein erhaltenen Namen unteraegyptischer Könige sehen nicht nach Erfindung aus. Offenbar hat man im Alten Reich nicht nur eine Tradition, sondern auch Denkmäler und Geschichten aus einer weit über Menes hinausreichenden Zeit besessen, wie ja auch uns noch die Ausgrabungen manches derartige gebracht haben; und auf dies Material, wenn auch vermischt mit Sagen und mythischen Anschauungen, geht die Überlieferung über die Urzeit zurück.


Über die Angaben des Tur. Pap. und die nur bei Eusebius Chron. I 134 erhaltenen Manethos s. meine Chronologie 118ff. 203f. Über die »Horusverehrer« Šemsu Ḥôr hat SETHE, Beitr. zur ältesten Gesch. Aegyptens (Unters, zur Gesch. Aeg. III, 1903) Klarheit geschaffen. In den Totentexten werden sie oft als selige Tote erwähnt, d.h. als Geister [103] der verstorbenen Könige der Urzeit, bei denen die historische Beziehung ganz in den Hintergrund getreten ist; daher Manethos Wiedergabe durch νέκυες ἡμίϑεοι. – Die auf dem Palermostein erhaltenen Namen lassen sich kaum transkribieren (etwa Ska, Tju, Zeš, Uaẕ'anẕ u.a.); Regierungszahlen werden nicht gegeben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 102-104.
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