Ausbreitung der babylonischen Kultur.

Die Gebirgsstämme

[599] 430. Wir haben bereits gesehen, wie die Kultur von Sinear, unter der Einwirkung der durch die ununterbrochene friedliche und feindliche Berührung mit den Nachbarvölkern geschaffenen geschichtlichen Wechselwirkung, nach allen Seiten hin ausstrahlt und im Steppengebiet Mesopotamiens sowie in Nordsyrien, bei den Stämmen am Tigris und in den östlichen Gebirgen, vor allem aber in Elam feste Wurzeln gefaßt hat, und auch die Wüstenstämme mächtig anlockt. Für dies ganze Gebiet bildet das Tiefland im Mündungsbereich der beiden Ströme kulturell und politisch den Mittelpunkt; zeitweilig ist es, unter Lugalzaggisi, unter Sargon und seinen Nachfolgern, unter den Königen von Ur, in seinem ganzen Umfang oder wenigstens zum Teil von hier aus beherrscht worden. Dagegen lehnt sich der Unabhängigkeitstrieb der Stämme und der Vasallenstaaten immer von neuem auf; und jeder Erfolg führt zu dem Versuch, das Verhältnis umzukehren, selbst die Herrschaft zu gewinnen. Immer wieder lockt die reiche Beute, die hier zu holen ist; wenn eine dauernde Unterwerfung nicht zu erreichen ist, kann man wenigstens die Städte ausplündern und ihre Schätze fortschleppen. Das haben vor allem die Elamiten (und später die Assyrer) getan, da sie eine feste Heimat und einen selbständig organisierten Staat besaßen, den aufzugeben ihnen nicht in den Sinn kommen konnte; die Beduinen der Wüste und die Stämme des Gebirges dagegen versuchen, sich womöglich [599] in dem üppigen Lande selbst festzusetzen. Immer aber erkennen wir daneben den tiefen und dauernden Eindruck, den die Kultur Sinears auf alle diese Völker gemacht hat. Nicht nur ihre materiellen Errungenschaften eignet man sich an, so vor allem die Schrift, sondern auch wenn man ihre Städte und Heiligtümer ausplündert, empfindet man doch unwillkürlich, daß sie etwas Höheres bedeuten, als man daheim besitzt. Die großen Götter, die in ihnen hausen und sie mit allen Gütern des Lebens überschüttet haben, mögen sich einmal im Zorn von ihnen abwenden und sie den Feinden überantworten; aber sie bleiben darum immer gewaltige Mächte, welche auch die Sieger anerkennen und verehren. Daher verbreitet sich der Kult der Götter von Sinear bei allen Nachbarstämmen; und mit ihnen dringen die hier entwickelten religiösen Vorstellungen ein und beeinflussen die heimischen Anschauungen und Kulte, deren Götter vielfach unmittelbar denen von Sinear gleich gesetzt oder geradezu durch sie verdrängt werden.

431. Von der Verbreitung der Kultur Sineary in die östlichen Gebirge geben ein paar vereinzelte Denkmäler, die etwa der Zeit des Reichs von Sumer und Akkad angehören, ein lehrreiches Bild. An einer Felswand bei Seripul, an einem Nebenfluß des Diâla (Gyndes) in den Vorbergen der Zagroskette, befindet sich ein sorgfältig ausgeführtes Relief, das Anubanini den König der Lulubaeer (§ 395) darstellt, dem die Göttin Ištar den Sieg über die feindlichen Nachbarn verliehen hat. Im Stil zeigt das Relief deutlich den Einfluß der akkadischen Kunst. Der König trägt vollen Bart (auch Schnurrbart), aber das Haupthaar kurz geschoren und mit der sumerischen Herrscherkappe bedeckt. Bekleidet ist er mit einem bunten Leibrock und Sandalen, wie Naramsin; auch Armringe trägt er, wie dieser; in der Rechten hält er einen krummen Stab, in der Linken vielleicht einen Bogen. Er setzt seinen Fuß auf einen am Boden liegenden Feind; einen anderen, dem ein Strick durch die Lippe gelegt ist, führt ihm Ištar zu. Der Göttin wachsen drei Mohnblüten aus jeder Schulter, wie sonst der Nisaba (§ 373); sie trägt [600] eine hohe Krone und in der Rechten eine Stange mit ihrem Abzeichen, der Sternscheibe, darauf (§ 371); bekleidet ist sie, wie alle Göttinnen dieser Zeit, mit dem um den Leib gewickelten semitischen Plaid. Es folgen noch sieben weitere Gefangene. Alle Feinde sind nach sumerischer Art nackt dargestellt; wie Anubanini sind sie alle bärtig und haben das Haupthaar geschoren und mit einer Kappe bedeckt; nur einer trägt langes Haar und eine geriefelte cylindrische Kopfbedeckung, wie sie später bei den Persern wiederkehrt. Die semitische Beischrift nennt die Götter Anu und seine Gemahlin Antu, Ellil und Ninil, Hadad und Ištar, Sin und Šamaš (die weiteren Namen sind zerstört). Man sieht, diese erbitterten Gegner Naramsins und Dungis haben deren ganzes Pantheon angenommen. – In der Nachbarschaft, bei Schêchchân, zeigt eine viel rohere Felsskulptur, gleichfalls mit semitischer, fast völlig zerstörter Beischrift, einen anderen Sieger, einen gewaltigen Krieger mit Bogen und Köcher, der auf einen erschlagenen Feind tritt, während ein anderer kniet und um Gnade fleht. Dies Relief unterscheidet sich von dem Anubaninis auch dadurch, daß der Herrscher und die Feinde bartlos sind (die Kappe tragen auch sie) und er nur ein kurzes Lendentuch trägt. Darin zeigt sich vielleicht sumerischer Einfluß; aus allem aber tritt uns das Gewirr der (wenn auch semitisierten) Volksstämme des Gebirges und ihrer verschiedenartigen Sitten anschaulich entgegen.


Die beiden Skulpturen bei DE MORGAN, Mission scientifique en Perse IV 1 p. 161 und pl. X (früher SCHEIL, Rec. 14, 105. BERGER, Rev. d'Assyr. II 115), vgl. Sumerier und Semiten S. 24ff. – Die Inschriften TH.-D. S. 172.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 599-601.
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