Die indogermanischen Völker

und ihre geschichtliche Stellung

[846] 546. Zwischen die älteren Völker Europas (§ 528f.) sind überall Stämme getreten, die nach Sprache und Eigenart eng verwandt sind; wir fassen sie unter dem Namen der Indogermanen zusammen. Bekanntlich haben sie sich auch in Asien weithin ausgedehnt; einerseits die Arier in Indien und Iran, andrerseits in Kleinasien die Phryger und Armenier und ihre Verwandten sind Indogermanen. Überall, wo sie mit fremden Stämmen zusammengestoßen sind, haben sie sich als überlegen erwiesen und diese entweder absorbiert oder in abgelegene Gebiete zurückgedrängt; so die Inder gegen die ältere dravidische Bevölkerung, die Iranier gegen die vorderasiatischen Stämme, die Phryger und ihre Verwandten in weitem Umfang in Kleinasien, die Kelten gegen die Iberer, Ligurer, Etrusker, Pikten, die Griechen und dann die Römer gegen die gesamte Mittelmeerwelt. Freilich ist nie zu vergessen, daß manche indogermanische Völker gar keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle in der geschichtlichen Entwicklung gespielt haben, so die Thraker, Illyrier, Skythen, Litauer und Letten, und daß andere erst sehr spät durch den Gang der weltgeschichtlichen Entwicklung, nicht durch eigene Initiative, zu historischem Leben und selbständiger Bedeutung gelangt sind, so die Kelten, die Germanen, die Slawen. Im geschichtlichen Leben wirken eben immer die verschiedensten Faktoren zusammen, und die Unterschiede, welche sich zwischen [846] den einzelnen indogermanischen Völkern herausgebildet haben, die Gestaltung der Kultur, der Gegensatz zwischen europaeischer und asiatischer Art sind weit wichtiger geworden als die Urverwandtschaft. Nicht einmal als psychischer Faktor konnte diese nachwirken, da sie erst im neunzehnten Jahrhundert entdeckt ist; alsdann hat sie allerdings die bis dahin herrschenden Vorstellungen über die Stellung der Völker zu einander vollkommen umgewandelt. Trotzdem ist es eine Tatsache, daß gegenwärtig nicht nur die Kulturwelt des Abendlandes, sondern die der gesamten Erde überhaupt im wesentlichen indogermanisches Gepräge trägt. Selbst die Ostasiaten, so selbständig sie ihre Eigenart zu behaupten suchen-wie das offene und latente Ringen zwischen ihnen und den Europaeern, das sich in der Gegenwart angebahnt hat, einmal ausgehen wird, vermag keine Geschichtstheorie vorauszusagen –, haben sich weder dem starken Einfluß der Indogermanen Indiens, noch dem Europas zu entziehen vermocht. Behauptet haben sich auch die Semiten, und mit den indogermanischen Völkern zusammen den tiefgreifendsten Einfluß auf die Gestaltung der Kultur sowohl des Abendlandes wie des Orients ausgeübt; aber die führende Stellung in der Weltkultur, welche die Semiten in den ersten Jahrhunderten des Islams eingenommen haben, ist längst dahin. Neben diesen beiden großen Volksstämmen haben sich im Bereich des europaeisch-vorderasiatischen Kulturkreises andere Völker auf die Dauer nicht zu behaupten vermocht; soweit sie nicht absorbiert sind, erhält sich ihre Nationalität nur in engster geistiger und auch äußerlicher Anlehnung an Indogermanen und Semiten, so in der christlichen Welt die Basken, Magyaren, Finnen, Georgier, Kopten, im Bereich der islamischen Kultur die Türken und Mauren, in Indien die Dravidavölker und die Singhalesen.

547. Diese Tatsachen liegen klar vor Augen; um so schwerer ist es, sie historisch zu erfassen und genetisch zu erklären. Schon die sprachliche Verwandtschaft so vieler, trotz aller Gemeinsamkeit stark von einander geschiedenen Völker ist ohne Parallele.[847] Denn die Ausbreitung der semitischen und die der türkischen Stämme, die ihnen zunächst stehen, reicht weder dem Umfang, noch vollends der Intensität nach auch nur annähernd an sie heran, und hat andrerseits bei weitem nicht zu einer so starken Differenzierung geführt als bei den Indogermanen; sie läßt sich viel eher der ihrer am weitesten verzweigten Untergruppen, der arischen, der romanischen, der germanischen, der slawischen Völker vergleichen als der des gesamten Volksstamms. Doch bieten diese Vorgänge, die sich zum Teil im vollen Licht der Geschichte vollzogen haben, Analogien, nach denen wir versuchen können, den Verlauf der Ausbreitung der Indogermanen in einer Zeit, aus der historische Kunde nicht vorliegt, zu rekonstruieren. Die Scheidung der Einzelvölker hat sich nicht nur auf sprachlichem Gebiet vollzogen, sondern tritt ebensogut und noch weit stärker in der äußeren Erscheinung, in Sitte und Religion und nicht am wenigsten in der geistigen Veranlagung und Denkweise hervor: von Anfang an zeigen die einzelnen indogermanischen Völker, trotz aller Spuren der ursprünglichen Gemeinschaft, starke und unverwischbare Unterschiede, körperlich wie geistig; sie haben, ganz anders als die einzelnen semitischen oder türkischen Völker, eine ausgeprägte Sonderindividualität, einen eigenen Volkstypus, der neben den äußeren Ereignissen ihre weitere Entwicklung und ihre Schicksale bestimmt. Wir werden annehmen müssen, daß derselbe durch eine Mischung erobernd eindringender Indogermanen mit verschiedenartigen Völkern entstanden ist, die vor ihnen die einzelnen Gebiete bewohnten, in derselben Weise wie z.B. die einzelnen romanischen Völker aus der Mischung des Römertums mit den von diesem unterworfenen Völkern erwachsen sind; Verschiebungen der Grenzen, neue Differenzierungen und Abzweigungen sind dabei natürlich nicht ausgeschlossen. Der Zahl nach sind diese fremden Elemente in den Einzelvölkern vermutlich weit größer als die erobernd eingedrungenen Indogermanen; aber diese haben die Kraft besessen, jenen ihre Sprache und wenigstens zum Teil auch ihre Eigenart aufzuzwängen. Umgekehrt [848] haben die Fremden offenbar auf die Gestaltung des Wortschatzes und der Grammatik sowie der Lautformen der Einzelsprachen stark eingewirkt und die völlige Zersprengung des ursprünglichen Zusammenhangs befördert; aber die indogermanischen Bestandteile haben die dominierende Stellung bei der Neugestaltung gewahrt. Gerade diese Verschmelzung verschiedener Elemente zu einer inneren Einheit hat die Entstehung neuer, lebenskräftiger Völker erst ermöglicht (vgl. § 39). Bei den Indern ist diese Entwicklung, die Mischung der vordringenden Arier mit der einer ganz anderen Rasse angehörigen Urbevölkerung des Landes, noch deutlich erkennbar; bei den Griechen, den Slawen, den Kelten usw. wird der Hergang nicht anders gewesen sein, und in Italien kennen wir die teils indogermanischen, teils fremden Völker, die durch Rom zu dem neuen Volkstum der Italiker verschmolzen sind. Die weiteren Fragen aber nach der ursprünglichen Heimat der Indogermanen, nach dem Hergang ihres Eintritts in die ältere Völkerwelt und der Art ihrer Verzweigung bilden eins der allerschwierigsten und verwickeltsten Probleme, welche die historische Forschung kennt. Wir wollen versuchen zu ermitteln, wie weit sich zur Zeit auf diese Fragen eine Antwort gewinnen läßt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 846-849.
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