Die Entstehung und Gruppierung der Einzelsprachen

[849] 548. Daß die Vorfahren der einzelnen indogermanischen Völker, soweit sie nicht den von den Eroberern assimilierten fremden Elementen entstammen, einmal ein einheitliches Volk gebildet haben, beweist ihre Sprache unwiderleglich. Denn alle Einzelsprachen sind aus einer einheitlichen, voll ausgebildeten Sprache durch Differenzierung und Weiterbildung erwachsen, die sich in weitem Umfang rekonstruieren läßt; und diese indogermanische Sprache setzt ein bestimmtes Volk als ihren Träger voraus. Allerdings ist diese Einheit nicht so aufzufassen, als ob nun alle Angehörigen dieses Volks [849] genau in gleicher Weise gesprochen hätten. In diesem Sinne gibt es eine Einheitssprache überhaupt nicht, selbst nicht bei den fortgeschrittensten Kulturvölkern, die eine durchgebildete Schriftsprache als allgemeine Norm geschaffen haben und bei denen ein reger Verkehr ununterbrochen den lokalen Unterschieden nivellierend entgegentritt, geschweige denn bei Völkern einer primitiven Kulturstufe. Vielmehr zerfällt wie jedes Volk in Stämme und kleinere Gruppen, so auch jede Sprache in zahlreiche lokale Dialekte. Solche Dialekte müßten wir für das Urindogermanische postulieren, auch wenn die Sprachwissenschaft nicht noch ihre Spuren erkennen ließe. So lange diese Unterschiede noch eine Verständigung unter einander zulassen, oder wenigstens diese Verständigung auch zwischen den am weitesten von einander abstehenden Gruppen noch durch eine kontinuierliche Reihe von Mittelgliedern ermöglicht wird und daher die Dialekte sich ununterbrochen gegenseitig beeinflussen, können wir von einer einheitlichen Sprache reden; wenn die engere Berührung aufhört, sei es, daß eine Gruppe sich räumlich von der anderen trennt, sei es, daß politische und geographische Gegensätze eine feste Scheidelinie zwischen Nachbargebieten schaffen, sei es auch nur, daß der Umfang des Gebiets so groß wird, daß der Austausch zwischen ferner stehenden Gruppen zu gering ist, um noch ausgleichend zu wirken, so erwachsen die Dialekte zu Sondersprachen. Dieser sich immer aufs neue wiederholende Prozeß läßt sich bei den germanischen, slawischen, keltischen, italischen, indischen Sprachen im einzelnen verfolgen und ist bei den Griechen, den Deutschen, den Persern und ebenso bei den Arabern u.a. nur durch die Entstehung einer Literatursprache und eines Nationalgefühls gehemmt oder rückgängig gemacht. Von maßgebender Bedeutung sind dabei die politischen Verhältnisse, die Zersplitterung in kleinere Stämme, die unter einander oft in erbitterter Fehde leben, und von denen bald dieser, bald jener zeitweilig zu größerer Macht gelangt und seine Nachbarn unterwirft und vielleicht vorübergehend oder dauernd zu einer größeren Gruppe zusammenfaßt, die alsdann wieder von [850] neuem sich spalten mag. Denn die Einheit des Volkstums ist in der älteren Zeit immer nur latent; sie beruht lediglich auf dem in Sprache und Sitte beschlossenen Schatz kultureller Erwerbungen und gemeinsamer Traditionen und der dadurch geschaffenen Möglichkeit unvermittelten Austausches zwischen den einzelnen Stämmen; zum Bewußtsein gelangt sie nur, wenn man im Verkehr mit Fremden die Scheidewand empfindet (§ 38). Ob sich daraus weiter ein positives Gefühl der Gemeinsamkeit herausbildet, das aktiv wirksam wird, hängt von dem Verlauf der geschichtlichen Entwicklung ab. Daher kann das Volkstum fremde Elemente in sich aufnehmen und sich assimilieren und dadurch sich selbst umwandeln; andrerseits entsteht ein alle oder auch nur die Mehrzahl der sprachlich verwandten Stämme umfassender Volksname immer erst, wenn der Gegensatz gegen die Fremden und damit das Gefühl der Zusammengehörigkeit geschichtlich bedeutsam wird. Daß die Indogermanen bereits einen derartigen einheitlichen Volksnamen besessen hätten, ist höchst unwahrscheinlich; denn der Name Arier, der in diesem Sinne populär geworden ist, gehört lediglich der Sondergruppe der indisch-iranischen Stämme an und darf wissenschaftlich nur für diese verwendet werden.


Daß die Angabe der Epitome des Steph. Byz. Θρᾴκη ... ἐκαλεῖτο καὶ Ἀρία mit dem Ariernamen nichts zu tun hat, sondern das Land als Heimat des Ares bezeichnet, ist allgemein anerkannt. Dagegen kommt das Element arjo- auch in keltischen Eigennamen vor, vgl. KRETSCHMER, Einl. in die Gesch. der griech. Sprache S. 130f.: und »irisch aire, gen. airech (Gutturalstamm) ist wohl aus arjaks entstanden und mit indisch arja, ârja zu vergleichen. Es bedeutet einen Edlen, Herrn; in der Anrede [wie KRETSCHMER angibt] kommt es übrigens nicht vor. Das Wort dient mit Zusätzen zur Bezeichnung der verschiedenen Klassen des Adels, z.B. aire désa 'Edler des Landes, Landherr' (nicht Landesherr)« (Mitteilung meines Bruders KUNO MEYER). Hier ist also das Wort nicht Volksname, wie ârja bei den Ariern, sondern hat noch die ältere rein appellative Bedeutung, die ja auch das indische arja (mit kurzem a) bewahrt. Wie mir mein Bruder weiter mitteilt, ist die von PICTET und ZIMMER aufgestellte Deutung des Namens Irland, irisch Êriu, gen. Êrenn (daher Ἰέρνη) von ârja nicht haltbar: »die offenbare Verwandtschaft [851] des Wortes mit dem kymrischen Iwerddon [dd aus j entstanden] schließt das ohne weiteres aus.«


549. Auf diesen Tatsachen beruhen die Schwierigkeiten, welche sich dem Versuch einer Gruppierung der indogermanischen Sprachen und der Ermittlung der ursprünglichen Verteilung der Stämme entgegenstellen. Als man die Verwandtschaft der indogermanischen Völker entdeckte, hat man sich ihre Verzweigung zunächst in Form eines Stammbaums vorgestellt: das Urvolk habe sich zunächst in mehrere (nach SCHLEICHER zwei) Hauptgruppen gespalten, diese hätten sich weiter, wieder durch mehrere Mittelglieder, in die Einzelvölker geschieden. Dieser Anschauung ist im Jahre 1872 JOH. SCHMIDT entgegengetreten: von den Einzelvölkern sei jedes mit seinen Nachbarn durch bestimmte sprachliche Sonderbildungen verbunden, eine entscheidende Spaltung sei nicht vorhanden, sondern überall nur Übergänge innerhalb des kontinuierlichen Sprachgebiets, in dem sich die einzelnen sprachlichen Vorgänge wellenförmig über einen größeren oder kleineren Kreis ausbreiten. Die weitere Diskussion hat gelehrt, daß beide Auffassungen neben einander zu Recht bestehen und keine die Alleinherrschaft beanspruchen darf. Innerhalb eines Gebiets, das in dem oben besprochenen Sinn noch als eine sprachliche Einheit und daher als ein Volk betrachtet werden kann, verlaufen die sprachlichen Wandlungen in der Lautgestalt, der Grammatik und dem Wortschatz in der Regel wellenförmig. Eine neue Erscheinung tritt zuerst in einem kleinen Gebiet auf und greift von hier aus auf die Nachbargebiete über, ältere Scheidelinien durchkreuzend und verwischend; und diese Bewegung kann sich wieder mit einer anderen kreuzen, die von einem anderen Mittelpunkt ausgegangen ist. In dieser Gestalt verläuft in der Regel die Dialektgeschichte innerhalb der einzelnen Sprachgebiete, z.B. bei der Gesamtheit der Germanen und dann bei den Deutschen und ebenso bei den Griechen und bei den Semiten und weiter bei den modernen arabischen Dialekten. Daher ist die sprachliche Gruppierung alle paar Jahrhunderte eine andere; [852] für die Klassifikation handelt es sich um die Frage, welche Spracherscheinung man als die maßgebende betrachten soll. Darauf beruht es, daß die wissenschaftliche Auffassung und die populäre, im Volksbewußtsein lebende Empfindung häufig so weit aus einander gehen. Jene geht von den ältesten erkennbaren Zuständen aus und gruppiert z.B. die germanischen Dialekte nach den Sprachverhältnissen der Völkerwanderungszeit; für die populäre Auffassung dagegen sind die hochdeutsche Lautverschiebung und die unmittelbaren Eindrücke der modernen Dialekte maßgebend, in denen weit spätere, wesentlich auf politischen und kulturellen Verhältnissen beruhende Momente, Lehnwörter, Sprachgewohnheiten in den Vordergrund treten und die älteren Unterschiede zurückdrängen. Dieselben Momente, die in den geschichtlichen Zeiten erkennbar sind, haben aber auch vorhergewirkt; auch bei den Indogermanen würden, wenn uns ihre Sprache und deren Dialekte aus den Zeiten der Einheit Jahrhunderte hindurch überliefert wären, in den einzelnen Zeiträumen ganz verschiedene Gruppierungen hervortreten. Jetzt kennen wir die Ursprache nur so weit, wie sie sich aus Rückschlüssen aus den Einzelsprachen rekonstruieren läßt; in dieser Rekonstruktion aber liegt Älteres und Späteres, allen Dialekten Gemeinsames und Sondergut einzelner größerer Gruppen neben einander; daher muß sie in den Einzelheiten immer problematisch bleiben. – Aber neben der »Wellentheorie« besteht auch die ältere Auffassung zu Recht. Denn wenn die Entstehung der Einzelsprachen vielfach lediglich auf einem Auseinanderfallen der Gruppen des einheitlichen Sprachgebiets in selbständige Zweige beruhen wird, bei dem die ehemalige gegenseitige Beeinflussung über die Grenze hinaus zwar schwächer wird, aber die Trennung überdauert-so bei dem Zerfall der Letto-Slawen in Letten (Litauer) und Slawen und bei der Auflösung der Germanen in einzelne Sprachen und ebenso bei der Scheidung der Iranier und Inder –, so haben sich andrerseits auch wiederholt einzelne Gruppen von dem gemeinsamen Grundstock losgerissen, zunächst vielleicht noch in den alten Wohnsitzen, [853] dann durch Wanderungen und weite räumliche Trennung, und sind dadurch zu einer völlig isolierten Sonderentwicklung gelangt, so vor allem die Arier. Hier kann man also wirklich von einer Filiation und einem Stammbaum reden; der sich absondernde Stamm hat sich in einem bestimmten Moment definitiv von dem Grundstock getrennt. Das hindert nicht, daß später geschichtliche Vorgänge eine neue Berührung und Beeinflussung zwischen den zu selbständigen Völkern, mit gesonderter Sprache, erwachsenen Stammverwandten schaffen können, wie sie z.B. die von Osten nach Südrußland vordringenden iranischen Skythen auf die Slawen (§ 566 A.) und ebenso die iranischen Meder und Perser auf die Armenier oder die Germanen auf die Letto-Slawen geübt haben. Das ist dann nicht anders aufzufassen, als wenn z.B. das Türkische in derselben Weise auf das Slawische und auf das Armenische, sowie auf das Neugriechische und Albanesische eingewirkt hat.


Der bedeutendste Vertreter der Stammbaumtheorie ist A. SCHLEICHER gewesen; dagegen JOH. SCHMIDT, Die Verwandtschaftsverhältnisse der indog. Sprachen, 1872. Die Geschichte der verschiedenen Theorien gibt ausführlich O. SCHRADER, Sprachvergleichung und Urgeschichte I, 3. Aufl. 1906 (vgl. § 553 A.). Weitaus die beste Einführung in die Probleme gibt P. KRETSCHMER, Einleitung in die Geschichte der griech. Sprache, 1896. Oberflächlich ist H. HIRT, Die Indogermanen, 2 Bde., 1905. Ein Eingehen auf Einzelfragen gehört natürlich nicht hierher.


550. Diesen allgemeinen Erwägungen entspricht der Befund, der sich aus einer Vergleichung der Einzelsprachen gewinnen läßt. Frühzeitig abgesondert von der übrigen Masse haben sich die Arier in Asien; sprachlich wie geschichtlich gehen sie ihre gesonderten Wege und haben ein Volkstum ausgebildet, das sich von dem aller anderen Indogermanen charakteristisch scheidet. Von den übrigen Sprachen sind sie namentlich durch ihren Lautbestand geschieden, vor allem durch die Ausbildung der Palatalen und durch eine tiefeingreifende Umwandlung des Vokalismus, den Zusammenfall der Vokale a, e und o zu einem einzigen Laut, ferner durch [854] zahlreiche Neubildungen in Grammatik und Wortschatz. Daneben haben sie allerdings sehr viel uraltes Gut bewahrt, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wird, daß uns diese Sprachen schon in sehr früher Zeit bekannt werden. So stehen die arischen Sprachen allen anderen, die ihnen gegenüber unter dem Namen der europaeischen zusammengefaßt werden können, als eine scharf geschiedene Sondergruppe gegenüber. Aber daneben finden sich andere Erscheinungen, welche sie mit einem Teil der europaeischen Sprachen verbinden. Als die wichtigste derselben betrachtet man gegenwärtig die Tatsache, daß ein bestimmter Gutturallaut im Arischen, im Letto-Slawischen, im Thrakischen nebst Phrygisch und Armenisch, und im Albanesischen als ein palatales s (ś), in den übrigen Sprachen (Griechisch, Italisch, Keltisch, Germanisch und vielleicht auch Illyrisch) als k erscheint. Man scheidet daher nach dem Wort für »Hundert« Centum- (spr. Kentum)- und Satemsprachen, und nimmt meist an, daß jene den ursprünglichen Laut wenigstens annähernd bewahrt haben, während bei diesen ein Lautwandel eingetreten sei, sie also einmal eine einheitliche Gruppe gebildet haben müßten, der die übrigen gleichfalls als geschlossene Gruppe gegenüber gestanden hätten. Nach der späteren geographischen Verteilung, die man auf die Urzeit überträgt, bezeichnet man die Centumvölker oft auch als Westindogermanen, die Satemvölker als Ostindogermanen. Enge Berührungen liegen hier zweifellos vor; aber ob diese Folgerungen auch nur annähernd richtig sind, ist um so fraglicher, da die in Rede stehende Lauterscheinung im einzelnen sehr komplizierter Natur und in ihrem Verlauf keineswegs völlig aufgeklärt ist. Überdies stehen dieser Gruppierung andere gegenüber; so zeigt das Keltische viele charakteristische Übereinstimmungen mit den italischen Sprachen, und diese kelto-italische Gruppe wieder mit dem Arischen. Ähnliche, wenn auch vielleicht nicht so bedeutsame Übereinstimmungen finden sich zwischen Griechisch und Arisch u.ä., während die vielfachen Berührungen des Germanischen mit dem Letto-Slawischen vielleicht nur auf [855] ihre ununterbrochene Nachbarschaft in geschichtlicher Zeit zurückgehen. Hier würde Klarheit nur zu gewinnen sein, wenn uns die Geschichte des Urvolks und die innerhalb desselben eingetretenen Verschiebungen der einzelnen Stämme bekannt wären; zu einer wirklichen, geschichtlich verwertbaren Rekonstruktion dieser Vorgänge werden die Ergebnisse, welche die Sprachwissenschaft zu gewinnen vermag, schwerlich jemals ausreichen.


Ich bemerke gleich hier, daß während man das Albanesische sonst immer für einen Nachkommen des Illyrischen gehalten hat, H. HIRT (Die sprachl. Stellung des Albanesischen, in der Festschrift für KIEPERT 181ff. Die Indogermanen I 140ff.) diesen Zusammenhang bestreitet: das Venetische und das Messapische seien nach Ausweis der Inschriften Centumsprachen, und dazu stimmten einige illyrische Eigennamen, das Albanesische dagegen ist eine Satemsprache; er sieht daher in ihm einen Nachkommen des Thrakischen. Sicher erwiesen ist diese Annahme indessen, wie mich W. SCHULZE belehrt, keineswegs und die Identität des Illyrischen und Albanesischen doch wohl wahrscheinlich. – Über die neuen Probleme, welche das Tocharische stellt, s. § 569.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 849-856.
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