Der Trojanische Krieg

[296] Den Stoff der griechischen Heldensagen bilden die Sagen vom Kampf um Theben und vom Krieg gegen Troja574. Die [296] ältesten Stücke, die in die Ilias Aufnahme gefunden haben, ragen jedenfalls bis ins 9., wenn nicht ins 10. Jahrhundert hinauf – und bei den thebanischen Epen wird es ebenso liegen –; der Abschluß reicht bis ins 7. und 6. Jahrhundert hinab.

Auch hier sehn wir, wie der Sagenstoff immer mehr anschwillt und immer neue Gestalten in den älteren Kreis hineingezogen werden, teils freie Schöpfungen der Dichtung, wie wahrscheinlich Hektor, Aias u.a., teils ursprünglich völlig selbständig dastehende Heroen, wie Odysseus u.a. Die Gestalten der thebanischen Sage werden auch in den troischen Krieg eingeführt, Herakles mit ihm verknüpft, allmählich nahezu alle Völkerschaften, die der Sänger kennt, griechische wie thrakische und asiatische, an ihm beteiligt. Manche Figuren mögen auch einer wesentlich jüngeren Zeit angehören und geschichtlichen Ursprungs sein, so wenig wir das im einzelnen nachweisen können.

Dahinter liegt dann die Urgestalt der Sage. Auch sie ist in beiden Fällen, wie in der Nibelungensage, geschaffen durch die Umgestaltung eines geschichtlichen Hergangs in der Verknüpfung mit einem Mythos; erst dadurch erhält sie ihr inneres Leben und die Fähigkeit zu einer weiteren Entwicklung. Bei der thebanischen Sage, die oben schon kurz besprochen ist, läßt sich das Wesen dieses Mythus nicht genauer erkennen; bei der troischen ist es die Erzählung, daß die große Göttin Helena (vgl. S. 197), die in Therapne bei Sparta ihren Kult hat, von einem Räuber entführt und von einem Brüderpaar befreit und zurückgebracht wird. Diese Sage ist uns in zwei parallelen Fassungen überliefert. Das eine Mal ist der Räuber Theseus, die Retter sind ihre Brüder, die Tyndariden [297] (Dioskuren), die großen Nothelfer, die immer die Hauptgötter von Sparta geblieben sind. In der anderen Fassung ist der Räuber Alexandros575, die Retter das Brüderpaar Agamemnon und Menelaos. Auch sie werden später – oder vielleicht schon seit Urzeiten576 – in Sparta als Götter verehrt, sowohl Zeus Agamemnon (in Lapersai), wie vor allem Menelaos, der Gemahl der Helena, der dann, als er zum Heros geworden ist, mit Helena zusammen von Zeus mit der Unsterblichkeit beschenkt und ins Elysion entrückt wird.

Diese lakonische Sage ist nun mit der Erzählung vom Kriegszug eines Königs von Mykene gegen Troja verschmolzen. Helena, nebst dem Schatz ihres Gemahls Menelaos, wird von dem Trojaner Paris geraubt, der mit Alexandros identifiziert wird – in der Doppelnamigkeit liegt die Kontamination noch deut lich vor –, ihr Schwager Agamemnon, der den Zug zu ihrer Befreiung führt, ist König von Mykene, der weithin über Griechenland gebietet.

[298] Dazu ist aber noch ein zweiter Mythus getreten, der von dem Heldenjüngling Achilleus, dem Sohn der Meergöttin Thetis, dem vom Geschick nach herrlichen Taten ein früher Tod bestimmt ist. Diese Sage stammt aus Thessalien und ist, wie so vieles thessalische Gut (so auch der Götterberg Olympos, die Kentauren, die Argonautensage u.a.), von den Aeolern mit der troischen Sage verschmolzen worden, als bei ihnen der Heldengesang zu reicher Entwicklung gelangte. Daher werden dem Achilleus vor allem Kämpfe in den Gebieten zugeschrieben, in denen sie sich angesiedelt haben oder festzusetzen suchten, auf Lesbos (von wo die Gestalt der Briseis stammt), auf Tenedos577, gegen Teuthranien und gegen die Ebene von Thebe am Adramyttischen Golf. Das ist die erste große Erweiterung der Sage; durch sie werden die nordgriechischen Stämme in den Kampf hineingezogen. Das hat zur Folge, daß der Hafen von Aulis im innersten Euripos, der den Aeolern als Ausgangspunkt ihrer Kolonisation gilt, nun auch, widersinnig genug, der Sammelplatz der Flotte Agamemnons geworden ist.

Streichen wir diese mythischen Elemente und die dann hinzugekommenen Erweiterungen hinweg, so bleibt als Kern der Heerzug eines mächtigen Königs von Mykene gegen die Stadt in der Skamanderebene unfern des Hellesponts. Dieser Kern muß geschichtlichen Ursprungs sein so gut wie der Kern der Burgundersage; den geschichtlichen Hergang zu rekonstruieren, ist freilich hier ebensowenig möglich, wie es bei dieser möglich sein würde, wenn wir nicht die gleichzeitige historische Überlieferung besäßen. Immerhin läßt sich jedoch wenigstens einiges erkennen. Daß Seezüge von Mykene nach Asien vorgekommen sind, beweist die oben besprochene Silbervase aus dem vierten Schachtgrabe, so wenig auch Anlaß ist, diese etwa auf den Krieg gegen Troja zu [299] deuten. Andrerseits ist Troja in dieser Epoche eine ansehnliche Königsburg, deren mächtige, aus regelrecht behauenen Quadern aufgeführte Ringmauer eine größere Zahl von Steinhäusern der gleichen Bauart umschließt; und in dieser Stadt haben sich, neben einheimischer Keramik, Scherben mykenischer Gefäße in großer Zahl gefunden. Dadurch ist die Zeit, 14. und 13. Jahrhundert, festgelegt und zugleich ein lebhafter Handelsverkehr mit dem Reich von Mykene erwiesen. Bei dem regen Export mykenischer Waren, der durch die weite Verbreitung ihrer Keramik bezeugt wird, ist es begreiflich, daß hier Handelsinteressen auch für die Politik maßgebende Bedeutung gewannen; denn daß der Expansionstrieb und das Streben nach Beute gerade zu einem Zuge nach Troja geführt hat, kann nur aus dem Streben hervorgegangen sein, sich der großen Seestraße nach dem Schwarzen Meer zu bemächtigen. Daß die Sage von diesen Zusammenhängen nichts mehr weiß und sie durch das mythische Motiv des Frauenraubes ersetzt, ist nur natürlich. Zu einer Festsetzung der Griechen in der troischen Landschaft ist es allerdings nicht gekommen; aber die Stadt ist, wie die Ruinen in Übereinstimmung mit der Sage zeigen, zerstört und niedergebrannt worden und lag seitdem in Trümmern, bis Thraker und Kimmerier und dann weit später die Aeoler von Lesbos sich hier festsetzten578.

Das Volk, das die Achaeer bekämpfen, führt den Namen Troer, die Stadt heißt Ilios (Vilios)579, die Burg führt mehrfach [300] den Sondernamen Pergamos. Diese Namen werden einheimisch sein, so gut wie die der Flüsse Skamandros und Simoeis. Die Troer sind ein kleinasiatischer Volksstamm. Daneben erscheint nicht selten der Volksname Dardaner, der sich in dem Namen der Stadt Dardanos am Hellespont, unweit von Ilion, erhalten hat, aber zugleich bei einem thrakischen Volk oberhalb Makedoniens wiederkehrt; ob sich darin eine Einwirkung von Wanderungen und Völkermischungen erhalten hat, läßt sich nicht entscheiden, und ebensowenig, ob sie mit den Dardani identisch sind, die Ramses II. unter den Völkerschaften im Chetiterheer nennt. In weit späterer Zeit, seit dem 7. Jahrhundert580, ist dann noch der Name Teukrer hinzugekommen; das ist offenbar ein bei den großen Völkerverschiebungen der Folgezeit eingedrungener Stamm, der die alte Bevölkerung aufgesogen und sich im Binnenlande (Gergis) bis in die Perserzeit erhalten hat581.

Geschichtlich, oder mindestens kleinasiatischen Ursprungs, sind auch die Namen Priamos und Paris. Daß auch unter den Namen auf griechischer Seite einzelne, wie z.B. Atreus von Mykene, geschichtlich sind, ist möglich; die meisten sind jedoch entweder mythischen Ursprungs oder freie Schöpfungen der Dichter.

Eng verbunden mit den Troern erscheinen die Lykier. Ein lykischer Heros Sarpedon spielt in der Ilias eine Hauptrolle582, der Bogenschütze Pandaros, der in Pinara in Lykien seinen Kult hat583, wird mit dem Namen der Landschaft und ihrem Gotte Apollon λυκηγενής in den Norden der Troas nach Zeleia versetzt, der Name des lykischen Flusses Xanthos auf den Skamander übertragen. Das kann nicht erst eine Neuerung der ionischen Schicht sein, etwa ein Reflex von Kämpfen zwischen Ioniern und Lykiern, von denen wir [301] sonst nichts wissen, sondern muß bereits einer weit älteren Sagengestaltung angehören. Etwas mehr Licht fällt darauf, seit wir einige Kunde von den lykischen Stämmen im südlichen Kleinasien erhalten haben (den Lugga, s.u. Abschnitt XII), die weithin Seeraub trieben. So mag es auch in mykenischer Zeit schon mehrfach zu Zusammenstößen zwischen ihnen und den Achaeern gekommen sein, als diese sich im Süden Kleinasiens festzusetzen suchten. Ihre Hineinziehung in den troischen Krieg wäre dann die übliche Sagenkontamination; nicht undenkbar ist es freilich auch, daß sie wirklich an diesem Kriege teilgenommen, ja daß sie sich in der Tat hier in Zeleia festgesetzt haben.

Mit diesen wenigen Ergebnissen müssen wir uns begnügen; so unzulänglich sie sind, so tragen sie doch dazu bei, das Bild zu beleben, das wir von den Zuständen und Vorgängen der mykenischen Epoche gewinnen können584.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 296-303.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon