Spanien. Gades

[90] In der Geschichte aller Entdeckungen zur See und der daraus hervorgehenden Kolonisationen tritt als maßgebend hervor, daß sie nicht in einem schrittweise und langsam verlaufenden Vordringen von einer Küste zur nächsten sich vollziehen, sondern [90] daß den Seefahrern immer ein in weiter Ferne gelegenes Ziel vorschwebt, das ihnen durch ihr Weltbild und durch eine unbestimmte, vielleicht ganz phantastisch ausgeschmückte Kunde von wertvollen Produkten und großem Reichtum gewiesen wird. Ist es erreicht, so entstehn hier die ersten Kolonien; erst später folgen dann meist die Zwischenstationen. So bei der chalkidischen Entdeckung Italiens und dann der Erschließung des Westmeers, bei den Fahrten der Normannen ins Polarmeer, bei der Entdeckung des Seewegs nach Indien durch die Portugiesen und bei der Besiedlung Amerikas durch die Spanier mit dem Suchen nach Indien und dem Eldorado. Nicht anders ist auch die phoenikische Kolonisation verlaufen. Als sie, in Fortsetzung der seit der kretisch-mykenischen Zeit bestehenden Wechselverbindung mit den Seevölkern, weiter hinauszufahren begannen, sind sie offenbar sehr bald bis zu der Südküste Spaniens und durch die Meerenge weiter in den Ozean gelangt. Hier haben sie eine durch einen schmalen Meerarm vom Festlande getrennte Insel (Isla de Leon) besetzt und auf einer von dieser weit ins Meer hinausragenden schmalen Landzunge die »Festung« Gadîr erbaut (Γάδειρα, Gades, auf Münzen immer mit Artikel רדגה oder רדגא). Die Ansiedlung lag nicht auf dem etwas breiteren felsigen Ausläufer der Insel im Westen am offenen Ozean, sondern auf dem Isthmus östlich davon auf einem niedrigen Hügel, der eine gegen die See geschützte Hafenbucht beherrscht und auf dem der einzige Quell des Stadtgebiets entspringt. Von da verläuft die lange Landzuge der Insel südwärts; an ihrem Ende am Sunde wurde, 12 römische Meilen (18 Kilometer) von der Stadt entfernt, bei zwei Quellen der Tempel des Melqart erbaut; in zwei 8 Ellen hohen Erztafeln, auf denen die Abrechnung über die Baukosten verzeichnet war, haben dann manche Schriftsteller töricht genug die von dem griechischen Mythus geforderten, überall gesuchten und nirgends zu findenden »Säulen des Herakles« erkennen zu können geglaubt, ebenso wie sie die Insel Erytheia mit den Rinderherden des Geryon in der Insel von Gades wiederfanden – Phantasien, die mit den Phoenikern natürlich garnichts zu tun haben.

[91] Daß die griechische Chronographie die Gründung von Gades in die Zeit des troischen Krieges, um 1100 v. Chr., ansetzt und daß kein Grund vorliegt, das nicht für im wesentlichen zutreffend zu halten, haben wir früher schon gesehn.

Gades trägt in geradezu typischer Gestalt den Charakter einer reinen Handelskolonie: eine kleine Stadtfestung von kaum 2 Kilometer Umfang, an einer dem Festlande zugewandten Einbuchtung des Ausläufers der Landzunge, die einen gegen die Stürme und Brandung des Ozeans geschützten Hafen bot, vom Festlande zu Land weit entfernt und unangreifbar, aber für den Seeverkehr mit den benachbarten Küsten vortrefflich gelegen174. Ganz anschaulich tritt hervor, daß der Gedanke an eine weitergreifende Kolonisation oder gar an eine Unterwerfung der Küstenlandschaften völlig ferngelegen hat.

Von einer solchen ist denn auch in unserer, freilich äußerst [92] dürftigen Überlieferung keine Rede. Dadurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Tyrier auch an einigen anderen Küstenpunkten Faktoreien angelegt haben. Die Phoenikerstädte freilich, die wir später am Fuß der Sierra Nevada finden, Abdera (תרדבע), Sexi (ץכש) und Malaka (אכלמ), scheinen erst im 5. Jahrhundert gegründet zu sein, als die Karthager ihre Herrschaft über diese Küsten ausdehnten und die Massalioten aus dem Westmeer verdrängten175. Für die weitverbreitete Annahme vollends, auch Karteja (Algeciras) und Kalpe (Gibraltar) seien phoenikische Städte gewesen, fehlt in der Überlieferung jeder Anhalt.

Dagegen geht die Ansiedlung an der afrikanischen Küste in Tingis (אגנית oder אגתת, Tanger)176 und vielleicht auch in Abilyx oder Abila (Ceuta) wohl sicher in alte Zeiten zurück, und ebenso weiter draußen am Ozean, etwa 80 Kilometer südlich der Meerstraße, Lix (שכל, Lixos, bei el-'Arîš)177, dessen Heraklestempel noch älter sein soll als der von Gades (o. S. 82, 2). In alter Zeit, so erzählte man, habe es an dieser Küste nicht weniger als 300 tyrische Kolonien gegeben, die freilich alle längst von den Eingeborenen zerstört seien178. Darin wird schwerlich mehr stecken als eine verschollene Kunde von den Versuchen der Karthager, diese Gebiete zu besiedeln.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 90-93.
Lizenz:
Kategorien: