Tartessos

[93] Wie überall auf Erden bewahrt auch in der Pyrenäenhalbinsel der Boden zahlreiche, sich stets mehrende Überreste des Hausrats, der Waffen, der Ansiedlungen und Gräber der älteren Bewohner. Auch hier folgt auf die Schichten der Steinzeit das Aufkommen von Kupfer und von Bronze, bis dann um 1000 v. Chr. das Eisen eindringt. In Formen und Ornamentik scheiden sich lokale, von den Prähistorikern gern als »Kulturen« bezeichnete Gruppen, deren wechselnde Grenzen zum Teil auf Verschiebungen der Bevölkerung hinweisen mögen. Daneben geht immer ein Verkehr sowohl zu Lande wie zur See auch zwischen den entfernteren und stammfremden Gebieten und die daraus erwachsenden gegenseitigen Einwirkungen einher; völlig isoliert haben die einzelnen Länder überhaupt niemals nebeneinander gestanden. Hierher gehört seit dem Ausgang der neolithischen Zeit die Ausbreitung der sog. Megalithkultur mit ihren gewaltigen Steingräbern über alle ozeanischen Küsten Europas, darunter auch Portugal, und weiter auf den Küsten und Inseln des Mittelmeers, eine Entwicklung, die sich freilich dem Versuch, sie geschichtlich zu begreifen, noch immer völlig entzieht. In den folgenden Epochen zeigt das Aufkommen der Bronze und dann das des Eisens, wie rasch sich auch in diesen Zeiten eine neue Entdeckung und ebenso nicht selten eine neu aufkommende Mode über alle Völkerscheiden und politischen Grenzen hinweg verbreitet, oft kaum langsamer als in den rein geschichtlichen Zeiten und in der Gegenwart. Ein regerer Verkehr und vor allem ein wirklicher Kultureinfluß auf geistigem Gebiet ist damit freilich noch in keiner Weise gegeben. Vereinzelt mögen z.B. Erzeugnisse der kretisch-mykenischen Kultur auch nach Spanien gekommen und einzelne Seefahrer bis hierher gelangt sein; aber alle Versuche, eine Einwirkung Kretas auf die kulturelle Entwicklung Spaniens oder gar eine von dort ausgegangene Kolonisation nachzuweisen, haben sich als völlig haltlos erwiesen179.

[94] Die Pyrenäenhalbinsel ist reich an Mineralschätzen. Berühmt ist vor allem das Silber der Sierra Morena und der Gruben von Neukarthago und das Zinn in Portugal und Galicien; aber auch Gold, Kupfer, Blei; Eisen sind an vielen Stellen vertreten. Weit verbreitet ist der Glaube, Spanien sei seit alters das Hauptland für die Verbreitung des Silbers und Portugal, neben England, für die des Zinns gewesen. Indessen diese Behauptung ist völlig unerweisbar; vielmehr ist die Frage, woher die seit den ältesten Zeiten überall im Orient vorhandenen Massen Silbers stammen, nach wie vor ebensowenig gelöst, wie die nach der Heimat des seit der Bronzezeit über die ganze Welt verbreiteten Zinns. Daß der Bergbau auch hier früh eingesetzt und daß er Technik und Formen des Handwerks beeinflußt hat, ist nicht zweifelhaft; aber zur Entwicklung einer eigenen, innerlich fortschreitenden Kultur hat er weder jetzt noch später geführt, eine selbständige Stellung im Kulturleben hat Spanien sich nicht zu schaffen vermocht.

In Südspanien, im Gebiet der Sierra Nevada und weiter an der Ostküste bis etwa zum Segura hin, kennen die älteren Quellen das Volk der Mastiener oder Massiener, mit der Stadt Mastia in der Gegend des späteren Neukarthago180; später sind sie in die beiden Stämme der Bastuler im Westen und der Basteta ner im Osten zerfallen. Nördlich von ihnen, in der üppigen Ebene des Baetis (Guadalquivir), liegt die Landschaft Turta181 [95] mit den beiden in derselben Weise durch bei spanischen Volksnamen oft vorkommende Suffixe differenzierten Stämmen der Turdetaner im Westen, der Turduler im Osten. Die Phoeniker nennen das Land Taršîš182, die Griechen Tartessos, mit einer gleichfalls zur Bildung von Volksnamen mehrfach verwendeten Weiterbildung183. Dieser Name bezeichnet bei ihnen zugleich die Hauptstadt und den großen Strom, dessen Mündung damals noch ein Delta bildete. Die Stadt Tartessos lag auf einer großen Insel zwischen den beiden Hauptarmen184. Hier hat sich früh ein reger [96] Seeverkehr mit den benachbarten Küsten entwickelt, durch den ihre Metallschätze in die Hafenstadt gelangten, während die Ausbeute der Silberminen der Sierra Morena ihr auf dem großen Strom zugeführt wurden. So ist Tartessos ein bedeutender Handelsplatz geworden, der die umliegenden Gebiete auch politisch von sich abhängig gemacht hat.

Von der Stellung, die Tartessos um die Mitte des ersten Jahrtausends gewonnen hatte, gewinnen wir ein anschauliches Bild durch eine eingehende Küstenbeschreibung, die bald nach 400 v. Chr. ein griechischer Schriftsteller verfaßt hat. Dies Werk hat dann gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. ein hoher römischer Beamter, Avienus, der sich in seinen Mußestunden mit Verseschmieden beschäftigte, in ein lateinisches Lehrgedicht (»Ora maritima«) umgesetzt, dem er eine aus Sallust entnommene Beschreibung des Schwarzen Meeres angefügt hat. Erhalten ist davon der größte Teil des ersten Buchs, die Küstenbeschreibung vom Ozean bis nach Massalia. Gerade durch die Absurdität, dem Leser völlig zwecklos ein geographisches Bild vorzuführen, das acht Jahrhunderte vorher von den Küsten des Ozeans und des Mittelmeers entworfen war, ist dies Gedicht ein charakteristisches Erzeugnis seiner Epoche; die völlige Erschöpfung und Inhaltlosigkeit des geistigen Lebens kommt darin drastisch zum Ausdruck185. [97] Ergänzt wird das Bild durch die von ihm eingefügte Schilderung der Verödung der alten Ortschaften, die er aus eigener Anschauung kennt (so bei Gades v. 270ff.); darin tritt der furchtbare Rückgang der Bevölkerung und der volle Verfall anschaulich zutage, der damals auch diese von Kriegen niemals heimgesuchte Provinz ergriffen hatte. Im übrigen gibt er seine Vorlage im wesentlichen korrekt wieder, soweit das für jemanden möglich war, dem jede wirkliche Anschauung und jedes über den nackten Wortlaut hinausgehende Verständnis fehlte. Der verhängnisvollste Fehler, den er begangen hat, ist, daß er Tartessos mit Gades gleichsetzte und daher die Schilderung von Gades, die in der Vorlage nicht gefehlt haben kann, bis auf die Angabe, daß die Insel Erytheia phoenikisch war (v. 310), gestrichen hat186.

Diese Vorlage reiht sich an die mit Hekataeos von Milet beginnenden geographischen und geschichtlichen Werke, die im Anschluß an die aus den Bedürfnissen der Schiffahrt erwachsene Küstenbeschreibung und die von dieser gegebenen Angaben der Entfernung von Hafen zu Hafen ein Bild der bekannten Erde und ihrer Bewohner zu entwerfen versuchen und dies Bild seit der Erdkarte Anaximanders von Milet auch kartographisch dargestellt haben. Der Verfasser hat die gesamte bis dahin erschienene Literatur benutzt; die Aufzählung der Namen, die Avien im Eingang seiner Bearbeitung übernommen hat, reicht bis zum Anfang des 4. Jahrhunderts, woraus sich seine Zeit ergibt. Durch diese Quelle ist ihm auch die Kunde von der Entdeckungsfahrt [98] übermittelt, die der karthagische Staatsmann Himilko187 um 450 auf dem Ozean bis zur Bretagne ausgeführt und beschrieben hat. Die eingehende Kunde von den Küsten Spaniens geht in der Hauptsache deutlich auf Angaben massaliotischer Schiffer zurück – woraus freilich noch in keiner Weise folgt, daß hier ein massaliotischer Schriftsteller zugrunde liege188. Der uns erhaltene Teil des Werks faßt den Bestand der geographischen Kenntnisse der Griechen über den Westen Europas in derselben Weise wie vorher Hekataeos noch einmal anschaulich zusammen eben zu einer Zeit, als die Karthager ihre Verbindung mit Südspanien zerstörten und ihnen den Zugang zum Ozean sperrten; schon wenige Jahrzehnte später, in der Küstenbeschreibung des Skylax (um 350) und bei Ephoros, ist daher ihr Wissen über diese Gebiete auf dürftige Reste zusammengeschrumpft189.

[99] Die eingehende Küstenbeschreibung setzt ein beim Kap S. Vincent, dem südwestlichen Endpunkt der portugiesischen Küste, im Lande der Kyneten (Cuneus), die auch für Herodot der am weitesten im Westen sitzende Volksstamm sind, den er [100] in Europa kennt190. Aber die Seefahrten der Tartessier reichen weiter, an der Westküste entlang und durch den Golf von Biscaya bis zu den Oestrymniern in der Bretagne, in denen man wohl mit Recht die Osismier der späteren Zeit erkannt hat. Hier liegen, so erfahren wir, zerstreut mehrere Inseln, die reich sind an Zinn und Blei und deren rührige Bewohner auf Lederkähnen eifrig Handel treiben – die »Zinninseln« (Kassiteriden), wie die Griechen sie nennen191. Von ihnen führt eine Fahrt von zwei Tagen nach der großen Insel Hierne, neben der weiter die Insel Albion liegt192. Von hier aus sind diese Namen in die spätere Literatur gelangt; der Name Britannia ist noch unbekannt. Weitere Angaben über die beiden Inseln werden nicht gemacht, auch der Zinnreichtum Westenglands wird noch nicht erwähnt. Dagegen hat man einige Kunde von der Kanalküste Frankreichs, an der ursprünglich Ligurer saßen, die jetzt in heftigen Kämpfen von den Kelten verdrängt sind – eine der wichtigsten, später noch weiter zu besprechenden Angaben über die Keltenwanderung.

Mit den Oestrymniern, berichtet Avien, standen die Tartessier und dann auch die Karthager in regelmäßigem Handelsverkehr, [101] und Himilko hat die beschwerliche Fahrt dahin in vier Monaten zurückgelegt und beschrieben. Die Annahme, die Inseln hätten nur eine Zwischenstation für den Handel gebildet und das Zinn in Wirklichkeit aus England bezogen, ist schwerlich berechtigt; vielmehr wird es auf diesen Inseln damals wirklich Zinngruben gegeben haben. Die Möglichkeit, daß auch schon Zinn aus England dorthin gekommen ist, kann natürlich nicht widerlegt werden, ist aber völlig unerweisbar. Jedenfalls wird der Zinnreichtum von Tartessos immer neben dem Silber hervorgehoben; man behauptet, daß der »Silberberg« (Ἀργυροῦν ὄρος, Argentarius, in der Sierra Morena) von Zinn glänze und daß der Strom Tartessos, der Guadalquivir, nicht nur Silber, sondern auch Zinnbrocken fortschwemme und der Stadt zuführe193.

Durch diesen Handel und diese Naturschätze war Tartessos offenbar bereits zu Wohlstand und Macht gelangt, als die Tyrier ihre Fahrten bis hierhin ausdehnten. Durch sie ist das Land Taršîš als das fernste Land der Erde dem Orient bekannt und der Ausdruck Taršîš-Schiffe als Bezeichnung der Ozeanfahrer auch ihren Nachbarn in Palaestina geläufig geworden194. Als Salomo mit Chiram I. von Tyros zusammen Schiffe auf dem Arabischen Meerbusen für die Fahrt nach Ophir baut, werden sie in einer der Notizen darüber Taršîšschiffe genannt195 und [102] ebenso, als ein Jahrhundert später Josaphat von Juda den Versuch wiederholt196. Der späteren Literatur ist die Kunde von Taršîš ganz geläufig; Jesaja redet von den Taršîšschiffen und all ihren kostbaren Prunkstücken, Ezechiel von dem Silber, Eisen, Zinn und Blei, das Tyros aus Taršîš erhandelt197. In derselben Weise reden die Griechen, als seit dem Ende des 7. Jahrhunderts die Phokaeer mit Tartessos Handelsbeziehungen anknüpften, von dem Wunderlande im äußersten Westen und seinem auf dem Silberberge entspringenden Strom198.

Die Taršîšschiffe sind offenbar Schiffe, die dem Verkehr auf dem Ozean angepaßt und befähigt sind, die so lebendig geschilderten Gefahren der Küstenfahrt mit dem Wechsel von Ebbe und Flut, den Sandbänken und dem Seetang zu bestehen; die Bauart, mit flachem, leicht über die Untiefen hinweggleitendem Boden und daher ohne Kielbalken, hat man von den Lederkähnen der Anwohner des Ozeans übernommen199.

Mit den Tartessiern sind die Tyrier von Gades aus in regen Handelsverkehr getreten, und die Griechen wissen, ähnlich den Erzählungen über die von den Konquistadoren in Amerika gewonnenen Schätze, Wunderdinge zu berichten über die Silbermassen, die sie für Öl und allerhand Tand einhandelten und heimführten200. Daß sie nicht daran denken konnten, etwa von Gades aus dies Festland, zu unterwerfen, ist schon dargelegt; auch scheint es nicht, daß sie den Tartessiern wirklich Konkurrenz gemacht und versucht haben, die Bezugsquellen ihrer Waren auch selbst aufzusuchen. So hat die Macht der Tartessier[103] sich weithin ausgedehnt. Bei Avien erstreckt sich ihr Gebiet vom Anas (Guadiana), der die Grenze gegen die Kyneten in Algarve bildet, bis zum terminus Tartessiorum, der Tartessiergrenze bei den Inseln nördlich von der Mündung der Segura (bei Avien Theodorus)201; die Völkerschaften Andalusiens sind offenbar von ihnen abhängig oder verbündet202. An der Südküste haben sie eine Niederlassung auf einer der Mondgöttin geweihten Insel bei Mainaka (Veiez bei Malaga)203, und hierher führt durch das Binnenland eine Straße in fünf Tagen, die sich weiter in vier Tagen bis zur Bucht der Tajomündung fortsetzt204.

Über die Gestaltung des Staats wissen wir weiter nichts, als daß die Griechen von einem König reden. Unter der Einwirkung des Verkehrs haben sich bei ihnen kultiviertere Zustände entwickelt, die sich bis in die römische Zeit erhalten haben: »Die Turdetaner«, lautet die auf Posidonios zurückgehende Schilderung Strabos, »erweisen sich von allen Iberern als die gebildetsten (σοφώτατοι); sie verwenden die Schrift und bewahren Schriften über die alten Traditionen, Gedichte und metrisch abgefaßte Gesetze, wie sie behaupten, von sechstausend Jahren«205. Indessen muß man sich hüten, die Bedeutung dieser Entwicklung zu überschätzen. Die Schrift haben die Tartessier vielleicht schon von den Phoenikern übernommen, obwohl es keineswegs sicher ist, ob sie nicht hierher und weiter ins übrige Spanien doch erst durch die Griechen gekommen ist206. [104] Im übrigen ist von älterem phoenikischen Einfluß auf Spanien und seine Geräte und Kunstformen bisher nirgends etwas nachzuweisen; was derart in vereinzelten Funden vorliegt, gehört wohl alles erst der karthagischen Zeit an207 und zeigt im übrigen dieselbe Mischung und Stillosigkeit, wie wir sie auf Cypern kennengelernt haben. Ansätze zu einer reicheren und nach eigener Gestaltung strebenden Entwicklung finden sich erst, als der griechische Einfluß maßgebend wird. Zur Schöpfung einer selbständigen Kultur sind jedoch die spanischen Völkerschaften niemals gelangt; in allem wesentlichen ist ihre Geschichte im Altertum immer nur passiv verlaufen.

So wird auch die Schilderung, die Strabo von der Kultur der Turdetaner bewahrt hat, erst für die letzte Zeit ihrer nationalen Existenz bis zur Romanisierung hinab Geltung haben, wenn auch die Tartessier bereits zur Zeit der Gründung von Gades über die Zustände ihrer Nachbarn hinausgewachsen waren208.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 93-105.
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