Der Text

[190] Der Text des Alten Testaments hat eine lange Geschichte hinter sich. Bei der Begründung des Judentums im Jahre 445 hat Ezra das von ihm aus Babylonien mitgebrachte Gesetzbuch eingeführt, das wir Priesterkodex nennen (den Hauptbestandteil bilden die Gesetze Exod. 25-31. 35-40. Levit. 1 bis Num. 10, 28. 15-19). In den nächsten Jahrzehnten ist dies Buch, nach Einfügung weiterer, zum Teil ziemlich umfangreicher Zusatzbestimmungen, mit dem. Deuteronomium und der mit diesem verbundenen Darstellung der Sagengeschichte zusammengearbeitet worden. Dabei sind die fünf Bücher des Gesetzes, der sog. Pentateuch, abschließend mit dem Tode des Moses, von ihrer [190] Fortsetzung, den daran anschließenden Geschichtswerken, losgelöst worden und haben als Tora Mosis kanonische Geltung erhalten. In dieser Gestalt hat sie im Laufe des 4. Jahrhunderts auch die Ketzergemeinde der Samaritaner von Sichem übernommen. Allmählich ist die Heiligkeit dann auch auf die übrige Literatur übergegangen, zunächst auf das bis zum babylonischen Exil hinabreichende Geschichtswerk (bezeichnet als »frühere Propheten«, weil für das Judentum die darin enthaltenen Angaben über Propheten die Hauptsache waren) und daneben, was von Schriften der Propheten erhalten und als göttlich inspiriert anerkannt wurde, zum Teil, wie bei Ezechiel, nicht ohne Widerspruch. Hineingekommen sind in diese Sammlung, den Schriften älterer Propheten angehängt, noch Stücke, die erst in frühhellenistischer Zeit entstanden sind, wie Jes. 24-27 und Zacharja 9-14; dagegen hat das im Jahre 164 v. Chr. geschriebene Buch Daniel hier nicht mehr Aufnahme gefunden. In derselben Weise haben dann auch andere Bücher kanonische Autorität erhalten, vor allem die Psalmen. Der Bestand dieses dritten Teils des AT., der »Schriften«, ist noch lange schwankend geblieben, und die griechische Judenschaft hat noch Bücher in sie aufgenommen, die erst in nachchristlicher Zeit entstanden sind. In der Kirche von Jerusalem dagegen ist, etwa um den Beginn unserer Ära445, der Kanon geschlossen worden. Bei der Auswahl haben mehrfach die wunderlichsten Zufälle gespielt; so hat eine Sammlung von bäuerlichen Hochzeitsliedern Aufnahme gefunden, weil sie durch den Namen Salomos gedeckt war, und ebenso ein so problematisches, ganz von weltlicher Skepsis beherrschtes Buch wie der Qohelet, während das erste Makkabaeerbuch und die Sprüche Sirachs ausgeschieden wurden, obwohl sie hebraeisch abgefaßt und streng orthodox waren. Wenigstens das Buch Sirachs ist jetzt großenteils auch im Original wieder aufgetaucht.

Etwa zu Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. ist dann auch [191] der Text endgültig festgestellt worden. Zugrunde gelegt ist eine beliebige Handschrift, deren Konsonantentext mit allen Zufälligkeiten, Schreibfehlern, Korrekturen und Lücken fortan in allen Handschriften und dann auch in den Drucken sorgfältig kopiert worden ist446, so daß Varianten von irgendwelcher Bedeutung überhaupt nicht vorkommen. Daß der Zustand des Textes vorher sehr anders und viel schwankender gewesen ist, beweisen die zahlreichen, oft recht tiefgreifenden Varianten in den Stücken, die zweimal in unseren Text aufgenommen sind, wie Jes. 36-39 und Jerem. 52 = Reg. II 18, 13-20, 19 und 25, und ebenso die abweichenden Lesungen und Namensformen in der Chronik, wo diese das ältere Geschichtswerk ausschreibt. Auf einer älteren Textgestalt beruht auch die griechische Übersetzung, die wir auf Grund der Legende, daß sie von 70 (genauer 72) Dolmetschern im Auftrage König Ptolemaeos II. verfaßt sei, als Septuaginta (LXX) bezeichnen. Diese in einem Schreiben, dessen Verfasser Aristeas genannt wird, ausführlich berichtete Erzählung ist ein jüdisches Machwerk ohne geschichtlichen Wert; in Wirklichkeit ist die Übersetzung der einzelnen Bücher im Laufe der Zeit aus dem Bedürfnis der Judenschaft in Ägypten in derselben Weise hervorgegangen wie aus dem der palaestinensischen Synagogen, in denen das Hebraeische auch nicht mehr verstanden wurde, die Übersetzungen ins Aramaeische (die Targume); nur sind diese erst beträchtlich später aufgezeichnet worden und für die Textkritik von weit geringerer Bedeutung. Die Septuaginta dagegen hat vielfach ältere und bessere Lesungen bewahrt447. [192] Allerdings fehlt es auch hier nicht an Mißgriffen und Entstellungen; und überdies ist der griechische Text in ständigem Fluß geblieben und seine Gestaltung immer stärker von dem Bestreben beeinflußt worden, ihn auf Grund der »hebraeischen Wahrheit« zu korrigieren.448 So ist der Kritik ein weites Gebiet eröffnet, das in jedem Einzelfalle eine sorgfältige Prüfung und Abwägung des Materials erfordert. An Mißgriffen und Übereilungen hat es auch hier nicht gefehlt; aber das Verständnis des Textes ist durch intensive Arbeit eines Jahrhunderts ganz wesentlich gefördert und vertieft worden. Daß dabei an schwierigen Stellen immer ein subjektives Element bleibt, ist unvermeidlich, und nicht selten ist der Text nur in so korrupter Form überliefert, daß eine Heilung nicht möglich ist; aber auch diese Erkenntnis ist schon ein Fortschritt. Ein wissenschaftliches Verständnis des Alten Testaments und ein Urteil über die israelitische Geschichte und Religion ist für den unmöglich, der dieses ganze Material nicht übersieht, sondern sich lediglich an den hebraeischen Text oder etwa die nur auf diesem beruhenden älteren Übersetzungen hält449.

Daß wir den hebraeischen Konsonantentext richtig lesen und verstehn können, verdanken wir der in der Synagoge lebendig erhaltenen Tradition. Auf ihr beruht die griechische Übersetzung; dann hat sie Hieronymus für seine lateinische Übersetzung (die Vulgata) herangezogen. Im frühen Mittelalter ist sie durch Einführung der Zeichen für Vokale (nach dem Muster der Syrer und Araber) und weiterer Lesezeichen auch schriftlich fixiert worden. Diese Tradition hat das Bild der Sprache, wie sie damals gelesen wurde, vortrefflich fixiert und ist dann, als sich unter arabischem Einfluß auch bei den Juden Grammatik und [193] Lexikographie entwickelte, von den Masoreten weiter ausgebildet worden. Ohne diesen Leitfaden würden wir dem Texte eben so unsicher tastend gegenüberstehn, wie etwa den phoenikischen und in geringerem Maße auch den südarabischen Inschriften450. Indessen die Lesung ist immer nur eine aus lebendiger Kenntnis der Sprache hervorgegangene Interpretation des Konsonantentextes, wirklich maßgebend kann nur dieser sein. Es kommt hinzu, daß im Text in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten die ältere phoenikische Schrift in die aramaeische umgesetzt worden ist, und vor allem, daß sich in dem Jahrtausend, das zwischen den ältesten und den jüngsten Bestandteilen des Textes liegt, die Sprache nicht unwesentlich geändert hat. Wie ein Stück wie das Deboralied ursprünglich gesprochen worden ist, werden wir im einzelnen nie ermitteln können451.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 190-194.
Lizenz:
Kategorien: