Die Wanderung der Nordweststämme

[244] Die Realität der Dorischen Wanderung ist neuerdings bestritten worden390. Weil bei Homer die Bevölkerung und die Herrscherhäuser des Peloponnes andere Namen tragen als in geschichtlicher Zeit, habe man gefolgert, daß das Epos vorgeschichtliche Zustände schildere, und eine große Umwälzung als Abschluß der Sagengeschichte konstruiert. Wie wir gesehen haben, ist die traditionelle Geschichte der Dorischen Wanderung historisch vollständig wertlos; sie ist vom Epos geschaffen und den Peloponnesiern [244] oktroyiert (o. S. 243). Aber so gut wie die traditionelle Geschichte der Eroberung Palästinas durch die Hebräer reine Fiktion ist und doch niemand die Tatsache selbst bestreiten wird, kann auch die Eroberung des östlichen und südlichen Peloponnes durch die Dorier historisch sein, wenn wir auch über den Hergang selbst gar nichts wissen. Nun tritt uns bei den Doriern des Peloponnes das Bewußtsein, daß sie Eroberer und in ihren Wohnsitzen nicht von Anfang anheimisch sind, immer lebendig entgegen – ganz anders als etwa bei den Böotern oder den Römern, die ja auch nach der Sagengeschichte aus der Fremde gekommen sein sollen. Unser ältester Zeuge, Tyrtäos, redet davon als von einer allen seinen Hörern zweifellosen Tatsache: »Zeus selbst hat den Herakliden diese Stadt geschenkt, mit denen zusammen wir den windigen Erineos (in Doris) verlassen haben und in die weite Pelopsinsel gekommen sind«; und nie hat man bezweifelt, daß der dorische Urkönig Ägimios weit im Norden, in Thessalien oder am Öta, geherrscht hat391. Die Ausmalung der Eroberungsgeschichte vermochte man wohl aus der Fremde zu rezipieren, aber die Tatsache selbst konnte nicht so vollständig ins Bewußtsein übergehen, wenn sie nicht auf geschichtlicher Erinnerung beruhte, die fortwährend durch ihre Nachwirkung in den Zuständen der Gegenwart wachgehalten wurde. Ebensowenig läßt es sich erklären, daß das Epos die dorische Herrschaft im Peloponnes geflissentlich ignoriert und an Stelle der Dorier Achäer (Danaer, Argeier) als seine Bewohner nennt, wenn dem nicht eine historische Tatsache zugrunde lag. Denn der Doriername ist nicht etwa wie der der Äoler und Ionier erst bei den kleinasiatischen Kolonisten entstanden: er ist im Quellgebiet des Kephissos heimisch, und eine alte Stelle der Odyssee kennt ihn auf Kreta (τ 176 – hier lag kein Grund vor, die alten Verhältnisse künstlich von denen der Gegenwart zu scheiden392). Auch ist der Doriername bei den Argivern und Spartanern und ihren Kolonisten immer in ganz anderer Weise lebendig gewesen als etwa der ionische in Attika oder gar der der Äoler in Böotien und Thessalien; mit Stolz haben sie sich jederzeit [245] Dorier genannt393. Die Anschauung, daß die Dorier im Peloponnes Eindringlinge sind, gehört also zu den Voraussetzungen des Epos, sie ist nicht erst von ihm geschaffen. Schließlich fehlt es auch nicht an positiven Beweisen dafür, daß der Peloponnes einmal eine nichtdorische Bevölkerung gehabt hat. Die Griechen Cyperns und Pamphyliens sprechen einen Dialekt, der mit dem Arkadischen eng verwandt ist. Mithin muß an den Küsten des Peloponnes einmal nicht Dorisch, sondern ein dem Arkadischen ähnlicher Dialekt gesprochen sein. Der Gott, den die Spartaner am Tänaron verehren, heißt Pohoidan. Das ist eine korrekte lakonische Weiterbildung der arkadischen Form Posoidan; dorisch dagegen heißt der Gott Poteidan (Poti dan). Also haben die dorischen Spartaner mit dem Kult auch den Namen des Gottes von einer älteren, den Arkadern verwandten Bevölkerung übernommen394. Wir können daher die Dorische Wanderung als eine der wenigen zweifellos feststehenden Tatsachen der älteren griechischen Geschichte betrachten395.

Der Sage nach haben die Dorier ursprünglich im nördlichen Thessalien gesessen, nach Herodot, der sie daher ein makedonisches Volk nennt (I 56. VIII 43. Vgl. Bd. II 1, 273, 2), zuerst in Hestiäotis, dann im Pindos, dem Grenzgebirge gegen Epirus. Hier kennt sie die Ägimiossage, die sie mit den Lapithen, den Bewohnern der thessalischen Ebene, kämpfen läßt (o. S. 233). Von hier aus besetzen sie die Ötalandschaft, den Ausgangspunkt des Zuges in den Peloponnes. Was an diesen Wandersagen geschichtlich [246] ist, läßt sich nicht mehr ermitteln. In den Tälern zwischen Parnaß und Öta, dem Quellgebiet mehrerer zum Kephissos strömender Bäche, ist der Doriername immer lebendig geblieben; das Gebiet des kleinen Stammes, der sich rühmte, das Mutterland der mächtigen peloponnesischen Staaten zu sein, umfaßte die drei Landgemeinden Kytinion, Erineos und Boion. Daß die Dorier des Peloponnes der nordwestlichen Gruppe der griechischen Stämme angehören, lehrt ihre Sprache; die Ätoler, Lokrer, Phoker sind ihre Verwandten. So ist es sehr wohl möglich, daß sie in der Tat ursprünglich im Pindosgebiet zu Hause waren. Schon früher wurde hervorgehoben (Bd. II 1, 570), daß die Gebirgsstämme sich in früher Zeit zwischen die Kulturvölker des östlichen Griechenlands gedrängt haben: die phthiotischen Achäer, die Lokrer und Phoker durchbrechen den Zusammenhang zwischen Thessalern und Böotern. Auch darin, daß ein Teil der Lokrer in den westlichen Gebirgen sitzengeblieben, ein anderer an das Euböische Meer vorgeschoben ist, läßt sich dies Vordringen erkennen. Man wird nicht nur die Festsetzung der Dorier am Öta, sondern auch die Eroberung Kretas und des Peloponnes mit diesem Vordringen der Nordwestgriechen verbinden dürfen. Die Eroberung des Peloponnes kann ja nicht, wie die Alten es auffassen, von der Bevölkerung der kleinen Landschaft Doris ausgegangen sein, sondern hier hat sich ein Rest des weitergezogenen Stammes behauptet, diesem aber haben sich, wie in ähnlichen Fällen, so vermutlich auch hier zahlreiche, ursprünglich stammfremde Elemente angeschlossen396.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 244-247.
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