Die Dorier auf Kreta und an der Südküste Kleinasiens

[247] Über den Hergang der dorischen Ausbreitung war (wie bei den Israeliten) in der Zeit, als die Sage von der Rückkehr der Herakliden gestaltet wurde, jede Erinnerung geschwunden (vgl. Bd. II 1, 571). So bleiben wir Auf Vermutungen angewiesen. GROTE [247] hat die – vielfach adoptierte – Ansicht aufgestellt, die Dorier seien zur See vom Malischen Meerbusen aus in den Peloponnes gekommen. Das ist im höchsten Grade wahrscheinlich. Sowohl in Lakonien wie in Argolis – über Messenien haben wir weiter keine Kunde – sind die Dorier von der Küste des Golfs aus nach Norden vorgedrungen, in Lakonien im Eurotastal und von hier aus sowohl gegen Arkadien wie gegen die kynurische Küste397, in Argolis von der Inachosebene aus gegen die Akte und den Isthmus, wo sie schließlich noch über die Geraneia vordringen und den Ioniern von Athen Megara und Salamis entreißen (Bd. II 1, 571).

Neben der Festsetzung im Peloponnes steht die Ausbreitung über See, im Süden des Ägäischen Meeres (s.u. S. 250f.). Im Mittelpunkt steht Kreta, und diese Insel ist mit Ausnahme des äußersten Ostens so völlig dorisiert worden, daß nicht nur die achäische Epoche der Insel eine verschollene Episode geworden ist, sondern auch die Sagengestalt des Minos von den Doriern übernommen wird und sie unbedenklich auf ihn, den Genossen des Zeus, ihre sozialen und rechtlichen Ordnungen zurückführen (Bd. II 1, 214. 572)398. So liegt die Vermutung nahe, daß Kreta der Ausgangspunkt auch für die Besetzung der sich nach der Insel zu öffnenden Küstenlandschaften des Peloponnes gewesen ist. Darauf weist denn auch sonst gar manches hin: so daß die Spartaner den Ursprung ihrer mit den kretischen übereinstimmenden Institutionen von Kreta und damit (durch Vermittlung des Lykurgos) von Minos ableiten399, und vor allem, daß die Dorier auch hier den Kult des auf Kreta weit verbreiteten Apollon (Pythaeus) übernommen und mit dem Bauerngott in Widdergestalt (Karneios) gleichgesetzt haben, dem alle peloponnesischen Dorier ein großes Fest feiern, bei dem allgemein Waffenruhe herrscht. In den kretischen [248] Gemeinden bildeten sich ganz ähnliche Zustände, wie sie uns dann in Argos und Lakonien begegnen. Die dorischen Phylen sind in mehreren Städten nachweisbar, zu ihnen sind andere hinzugetreten, die vielleicht aus der einheimischen Bevölkerung hervorgingen. Die Masse der Landbevölkerung sind Leibeigene, die teils der Gemeinde gehören (Mnoiten), teils einzelnen Grundbesitzern (Aphamioten), und zu festen Abgaben an die Herren verpflichtet sind. Auch einen den Periöken entsprechenden Stand hat es gegeben400.

In den fruchtbaren Tälern und kleinen Ebenen sowie auf den Hochflächen der langgestreckten, von hohen Gebirgsketten durchzogenen Insel finden wir in dorischer Zeit zahlreiche selbständige Gemeinden. Neunzig Städte schreibt ihr die Odyssee zu, hundert die Ilias401; durchweg erkennt man aus den homerischen Angaben, daß die Insel sich damals eines Wohlstands und Volksreichtums erfreute, wie kaum ein anderes Gebiet der griechischen Welt. Wie später werden auch damals schon die einzelnen Gemeinden fortwährend in Fehde miteinander gelegen haben. Immer aufs neue streben die mächtigeren Städte nach der Suprematie über die Nachbarn oder gar über die ganze Insel, ohne ihr Ziel je auf die Dauer erreichen zu können. Am bedeutendsten sind die Städte des Zentrums, in einer fruchtbaren Ebene der Nordküste Knossos, im Flußtal des Lethäos auf der Südseite Gortyn und an der [249] Mündung desselben Phästos, nach Ephoros älter als Gortyn402, im Gebirge Lyktos; neben ihnen steht im Osten namentlich Hierapytna, im Westen Kydonia, der Sitz einer älteren Bevölkerung (Bd. II 1, 236, 1). Die Grundlage des kretischen Lebens ist immer der Ackerbau geblieben; daneben aber hat die Insel ähnlich wie Cypern in der älteren Zeit für die Seefahrt eine weit größere Bedeutung gehabt als später. Da Kreta das Ägäische Meer seiner ganzen Ausdehnung nach im Süden abschließt und wie keine andere Insel die Brücke von Europa nach Asien bildet, waren seine Häfen für die Küstenschiffahrt Stationen von der größten Wichtigkeit. In Sage und Dichtung spricht sich die Stellung Kretas in alter Zeit aus, am deutlichsten tritt sie darin hervor, daß die kretische Sage von der Geburt des Zeus und von seiner Mutter Rhea in der ganzen griechischen Welt rezipiert worden ist. In erster Linie steht hier auch jetzt Knossos, mit dem die durch die Dorier übernommene Sage von dem seemächtigen König Minos, dem Sohne des Zeus, eng verknüpft bleibt (Bd. II 1, 212.). Er hat für die kretischen Dorier eine ähnliche Bedeutung wie Ägimios für die Dorier des Festlandes: seinem Umgang mit Zeus, den er in einer Höhle des Ida aufsucht, verdanken die Kreter die geheiligten Satzungen und staatlichen Ordnungen, nach denen sie leben.

Wie Kreta sind auch die südlichsten der Kykladen von Doriern besetzt worden; Melos und Thera gelten später für Kolonien Spartas403. Von Kreta aus sind die Dorier in die bunte Welt von Inseln, Buchten und weit vorspringenden Landzungen an der Südecke Kleinasiens vorgedrungen. Auch hier haben die Dorier schließlich durchweg die Herrschaft gewonnen; die dorischen Phylen sind fast überall nachweisbar. Die wichtigsten Ansiedlungen sind Rhodos und Kos404. Auf Rhodos entstanden nach den drei [250] Phylen (Il. B 655. 668) die drei Gemeinden Lindos, Ialysos und Kameiros, die beiden letzteren an Stellen, die schon früher besiedelt waren; hier sollen sich phönikische Elemente noch lange erhalten haben (vgl. Bd. II 2, 116, 6. 129). Auf dem Festlande gelang nur die Besetzung der vorgeschobensten Spitzen, der langen Knidischen Landzunge und der Halbinsel von Halikarnaß. Weitere Ansiedlungen haben die Karer erfolgreich abgewehrt, und auch Halikarnaß405 selbst ist wohl von Anfang an eine halbkarische Stadt geblieben; in der unmittelbar benachbarten Burg Salmakis haben die Karer sich immer behauptet.

Die Kolonien an der kleinasiatischen Küste haben sich zu einem Bunde zusammengeschlossen, dessen Mittelpunkt das Heiligtum des triopischen Apollo auf dem »dreiseitigen« Vorgebirge, dem Endpunkt der Knidischen Halbinsel, bildet. Ihm gehören die rhodischen Städte, Knidos, Halikarnaß, Kos und die kleineren umliegenden Inseln an406. Für diese Hexapolis ist der Doriername die Bezeichnung der landschaftlichen und politischen Einheit geworden, wie der der Äoler und Ionier im Norden. Diese Gründungen werden meist auf die argivischen Städte, nur Knidos auf Sparta (Herod. I 174) zurückgeführt.

Neben den Karern haben nach Osten die Lykier dem weiteren Vordringen der Dorier ein Ziel gesetzt. In zahlreichen Sagen erscheinen dieselben in enger Verbindung mit den dorischen Gebieten, ihr Heros Sarpedon (vgl. Bd. II 1, 301), der Sohn des Zeus, gilt[251] für einen Bruder des Minos und soll aus Kreta ausgewandert sein, von dem Korinther Glaukos, dem Sohne des Sisyphos von Korinth, stammen die lykischen Könige. Nach Norden grenzen die dorischen Gebiete unmittelbar an Ionien. Auch hier wird es an vielfachen Berührungen und Vermischungen nicht gefehlt haben, wie als Bewohner von Samos Epidaurier genannt werden und umgekehrt in Halikarnaß in historischer Zeit nicht Dorisch, sondern Ionisch gesprochen wurde.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 247-252.
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