Religion

[485] Über die Religion der italischen Völker sind wir nur ganz unzureichend unterrichtet. Götternamen und Kultusstätten der einzelnen Völker kennen wir in ziemlich großer Zahl, aber zur Erkenntnis ihres ursprünglichen Wesens, des mit ihnen im Volksglauben verbundenen Begriffs, reicht unser Material kaum weiter als bei den Phönikern. Gerade auf religiösem Gebiet sind bei Etruskern und Römern die einheimischen Anschauungen durch die griechischen Einflüsse überwuchert. Bei den Italikern steht überall der Himmelsgott, der Vater Diovis (Juppiter) an der Spitze der Götterwelt und ist wie in Griechenland zugleich der höchste Schutzgott und der Stammvater des Volks. Neben ihm tritt vor allem eine kriegerische Gottheit Mars (Mavors, Mamers) hervor, auf den wie die Römer so auch viele sabellische Stämme ihren Ursprung zurückführen; er offenbart sich als Wolf und als Specht. Ihm zur Seite stehen in Rom Quirinus und Bellona. Bei den [485] Sabinern wird Semo Sancus (mit dem römischen Deus Fidius, dem Schutzgott des Eides, identifiziert), der Vater des Sabus (o. S. 484), als Stammgott verehrt. Am Hausherd waltet Vesta, in der Vorratskammer die Dii Penates; beide werden zusammen auch am Staatsherd verehrt, wo von Jungfrauen der Vesta ein ewiges Feuer unterhalten wird. Zahlreiche weibliche Gottheiten lernen wir kennen, häufig als »Mütter« bezeichnet (so z.B. bei den Umbrern, vgl. Mater Matuta) – es sind vielleicht die großen, in der Natur waltenden Mächte, welche dem Landmann Segen spenden, so die Erdmutter Ops, die Erntegöttin Ceres (osk. Keris), der Vater Liber, der Gott des Weinbaus, Venus (osk. Herentas), die Spenderin aller Fruchtbarkeit und Zeugung. Gleichartig ist z.B. in Präneste Fortuna, die erstgeborene Tochter Juppiters. Dem Juppiter steht die Königin Juno zur Seite, die Schirmherrin der Stadt (auch in den Latinerstädten und Falerii) und der Kurien, in den Wäldern haust Diana, die Göttin der Jäger, im Meer Neptunus, im Feuer Volcanus, der Gott der Schmiede, daneben stehen die göttlichen Mächte, die in Wald und Quellen wohnen, wie Faunus, Silvanus, die Casmenen u.a. In der Erde ist das Reich des Dispater und anderer finsterer Mächte, denen in Notlagen Menschenopfer dargebracht werden. Bei andern Gottheiten, wie Janus und Saturnus, ist das eigentliche Wesen noch völlig dunkel. Offenbar hat auch die Religion der italischen Stämme dieselbe Entwicklung durchgemacht wie die der Griechen, die einzelnen Seiten der menschlichen Tätigkeit haben jede ihre göttliche Schutzmacht gefordert und erhalten, auch von uraltem Tier- und Baumdienst sind uns Spuren begegnet; aber zu klarer Erkenntnis der fortschreitenden religiösen Entwicklung vermögen wir hier nicht vorzudringen, die alten Göttergestalten sind durch die fortschreitende Kultur und das Eindringen der griechischen Religion verschoben und verblaßt. Nicht wesentlich anders als das ältere römische und italische Pantheon scheint auch das etruskische ausgesehen zu haben. Auch hier finden wir den Himmelsgott Tin, dem eine Gemahlin (Juno) zur Seite steht. An sie schließt sich als dritte Hauptgottheit Menerva, deren Kult auch die Falisker und Römer angenommen haben. Weitere [486] etruskische Gottheiten sind der Gott des Feuers und der Schmiede (Sethlans?), der Gott des Weinbaus Fufluns, Vertumnus, Voltumna, Nortia (in Volsinii) u.a., deren Funktionen noch nicht genauer erkannt sind. Etruskischen Ursprungs ist auch der Kultus der Laren, der Schutzgeister, welche in Haus und Hof, in Kreuzwegen und Ansiedlungen hausen und die Familien beschützen. Verwandt, aber nicht identisch damit ist der römische und wohl allgemein italische Glaube an den Genius, den Geist, der wie die Psyche in jedem Menschen lebt, und an die Di Manes, die Totengeister.

Im allgemeinen unterscheidet sich die italische Religion von der der meisten anderen indogermanischen Völker durch die stark entwickelte Neigung zum Formalismus. Das Ritual wird sorgfältig ausgebildet, die Vorzeichen des Vogelflugs und die sonstigen Omina streng beobachtet, jede Abweichung von der Regel gilt als unheilvoll. Die Phantasie und das warme Gefühl, welche die Entwicklung der griechischen Religion durchdringen, treten in Italien dem rechnenden Verstande gegenüber durchaus in den Hintergrund. Wie dem Semiten ist auch dem Italiker die Gottheit eine feste und greifbare Größe, mit der er rechnen kann. Daher hat jede Gottheit ihren bestimmten Machtbezirk, ihre scharf umgrenzten Kompetenzen. Das hat dazu geführt, daß der auch in der griechischen Religion vorhandene Trieb, jede menschliche Tätigkeit und jede Naturerscheinung einer bestimmten göttlichen Macht zuzuweisen, in Rom bis ins kleinste Detail durchgeführt wurde und immer neue Götter erzeugt hat, daß aber dadurch schließlich selbst die höchsten Götter ihres eigentlichen Wesens entkleidet und in schematische Abstraktionen umgesetzt werden. Vom Staat wie vom Einzelnen erhält jede Gottheit genau, was ihr gebührt, aber nicht mehr; und wenn es möglich ist, sie in den Formen des Rechts zu betrügen und dadurch weiteren Gewinn zu erzielen, so nimmt niemand daran Anstoß. Die ganze Augurallehre ist darauf gebaut. So finden wir in Italien wohl einen reich ausgestatteten und mit ostentativer Gemessenheit zur Schau getragenen Kultus, aber wenig tiefempfundenes religiöses Leben. – Noch stärker ausgeprägt ist diese Eigenart bei den Etruskern. [487] In ihren heiligen Büchern sind die Götter in ein festes System gebracht, ist genau festgestellt, wie man ihren Willen erforschen kann; hier ist die Lehre von der Vogel-, Blitz- und Eingeweideschau, von der Abgrenzung und Einteilung des heiligen Bezirkes (templum), in den die Götter gebannt und gezwungen werden können, von den Zeremonien der Stadtgründung (o. S. 483) u.ä. bis ins kleinste Detail durchgeführt. Die etruskischen Lehren haben auf die römische und umbrische Religion und vermutlich auch auf die der Sabeller den tiefgreifendsten Einfluß ausgeübt, erst durch sie ist die formalistische Neigung der Religion der Italiker zu voller Entwicklung gelangt. – Auch in Italien ist die Religion typisch für die gesamte Geistesrichtung des Volkes. Der kühle Verstand, die formelle Rechtlichkeit, die Unterordnung unter die überkommene Ordnung, das genaue Abwägen dessen, was dem anderen zusteht und was der eigene Vorteil erheischt, das sind die maßgebenden Charaktereigentümlichkeiten der Italiker. Die Phantasie, die schöpferische Kraft und die warme Empfindung sind dadurch fast erdrückt. So war Italien wohl imstande, auf staatlichem und rechtlichem Gebiete Tüchtiges zu leisten und im politischen Leben die größten Erfolge zu erringen; aber ihm war die Fähigkeit versagt, sich eine eigene Kultur zu schaffen, auf den Gebieten der Kunst, der Dichtung, der Religion, der Wissenschaft selbständig und schöpferisch zu wirken.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 485-488.
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