Das Judentum in der späteren Perserzeit. Die Samaritaner

[196] Durch den Akt vom 24. Tišri (30. Oktober) 445 ist das Judentum begründet worden. Die nationalen Aspirationen, praktisch längst zur Chimäre geworden, sind auf die Wunderzeit des Messias vertagt; für die Gegenwart hat sich eine Kirche und mit ihr zugleich ein Kirchenstaat, oder wie wir mit einem von Josephus (c. Ap. II 165) geprägten Ausdruck zu sagen pflegen, eine Theokratie an ihre Stelle gesetzt. Dieser Kirchenstaat hat die Fremdherrschaft zur Voraussetzung. Die Stelle des weltlichen Oberhaupts der Gemeinde, des »Fürsten«, die noch Ezechiel, wenn auch mit sehr beschränkter Machtbefugnis, in Aussicht nahm, die zu Anfang der persischen Zeit unter Šinbaluṣur und Zerubabel noch halbwegs bestand, ist weggefallen. Die persische Regierung hat der Gemeinde die Sorge um die äußere Politik, um das Heerwesen und die Sicherheit von Leben und Eigentum abgenommen [196] und erhebt dafür den Tribut. Die inneren Verhältnisse, die Rechtsprechung, soweit nicht die Reichsorgane in dieselbe eingreifen, und die Gemeindeverwaltung hat sie der Gemeinde überlassen und ihr die Ausübung ihres Gottesdienstes in den Formen garantiert, die die religiöse Partei oder vielmehr die babylonische Judenschaft gefordert hatte. Dem entspricht es, daß die religiösen Interessen überall voranstehen und rücksichtslos durchgeführt werden. Die Priester, früher die Diener der Volksangehörigen, ein Berufsstand ohne Grundbesitz, ohne wahren Geschlechtsverband, den Schutzbefohlenen näherstehend als den Vollbürgern, werden jetzt der erste Stand, die Elite des Volks, reichlich mit Einkünften ausgestattet – die Theorie, die freilich nicht ausführbar war, weist ihnen sogar zahlreiche Ortschaften als Eigenbesitz zu –; sie erhalten die Führung im Rat der Ältesten, der die Verwaltung und Rechtsprechung ausübt. An ihrer Spitze steht der Hohepriester, dessen Befugnisse der Priesterkodex, in dem er unter der Maske des Aharon erscheint, ins Ungemessene gesteigert hat; er allein tritt in unmittelbare Berührung mit Jahwe und vertritt ihm gegenüber die Gemeinde, er ist ihr geistliches und damit zugleich ihr weltliches Oberhaupt. Das »übrige Volk«, die Laien, ist eigentlich nur dazu da, den Priestern zu zinsen, damit diese den Tempeldienst regelmäßig vollziehen können, der den Mittelpunkt der Weltordnung bildet; sie müssen froh sein, daß ihnen vergönnt ist, dabei zuzuschauen und den Chor zu bilden. Im übrigen haben sie die Verheißung für die Zukunft – wann sie eintreten wird, vermag niemand zu ergründen. Dafür haben sie tagtäglich bei allem, was sie tun und treiben, eine Fülle absurder Vorschriften zu beobachten, nicht weil dieselben einen sittlichen und religiösen Wert hätten, sondern weil so einmal Jahwes Wille ist; nach ihrer inneren Berechtigung auch nur zu fragen, wäre frevelnde Vermessenheit. – Während der nächsten Jahre ist das Gesetz zum Abschluß gebracht, indem man das neue Gesetzbuch mit den älteren Büchern durch eine überarbeitende Redaktion, die sich bemühte, ihre Vorlagen möglichst vollständig aufzunehmen, zu einem einzigen Werk, den fünf Büchern der Tora Moses, zusammenarbeitete und einige Nachträge hinzufügte.

[197] Freilich fehlte viel, daß nun das Leben nach dem Gesetz mit einem Schlage hätte durchgeführt werden können. Alles, was noch naturwüchsig empfand, sträubte sich gegen den furchtbaren Zwang. Als Nehemia nach zwölfjährigem Regiment 433 an den Hof zurückkehrte, kam überall eine laxere Praxis auf, so daß Nehemia sich noch einmal entsenden ließ, um den Mißbräuchen ein Ende zu machen. Die Bauern wollten am Sabbat, dem natürlichen Markttag, ihre Erzeugnisse in Jerusalem zu Markt bringen, tyrische Händler brachten Fische und andere Waren, bis Nehemia einfach den ganzen Tag die Tore sperren ließ. Dagegen konnte auch er die Ehen mit fremden Weibern aus Ašdod, Ammon, Moab nicht völlig beseitigen, und der dadurch herbeigeführte Untergang der hebräischen Sprache, über den er klagt, ist rasch und vollständig eingetreten; hier hat gerade der Aufschwung der Gemeinde und die wachsende Zahl der Proselyten die Entwicklung gefördert. Die Hauptschwierigkeit machte die Priesterschaft: hier wie so oft (vgl. Bd. III2 S. 694) hat der Stand, dem der Gewinn aus der Bewegung zufiel, sie weder hervorgerufen noch gefördert, sondern energisch bekämpft. Der Hohepriester Eljašib hat offenbar nicht geahnt, welcher Zuwachs auch an materieller Macht ihm und seinem Hause zufließen würde; er empfand nur den Druck des unerträglichen Zwanges. Am Mauerbau hatte er sich beteiligen müssen; sonst wird er bei keiner der Maßnahmen dieser Zeit genannt, vielmehr stand er offenbar unter denen, die sie im geheimen bekämpften, in erster Linie. Mit den Häuptern der Samaritaner war er eng liiert: dem Tobia hat er die Einziehung der Gefälle an die Priesterschaft übertragen und eine Kammer im Tempel eingeräumt, bis Nehemia diesem Greuel ein Ende machte; einer seiner Enkel war mit Sinuballiṭs Tochter vermählt und hat sich lieber von Nehemia verjagen lassen, als sein Weib und die Verbindung mit den Samaritanern aufzugeben (u. S. 201f.). Die Einkünfte, welche ihnen das Gesetz zuwies, nahmen die Priester gern; aber sie nahmen auch den Zehnten, den die Lewiten erhalten sollten, und Nehemias Maßregeln dagegen während seiner zweiten Statthalterschaft sind nicht von dauerndem Erfolg gewesen. Beseitigen ließ sich der Hohepriester aus der Theokratie [198] nicht, und heilig blieb er, mochte er noch so arg freveln; aber wie die römischen Päpste hat auch das Hohepriestergeschlecht in der Folgezeit zwar seine Stellung entschieden festgehalten, aber meist nur weltliche Interessen verfolgt. Das Einzige, was wir von der jüdischen Geschichte aus der späteren Perserzeit wissen, ist, daß Eljašîbs Enkel Johannes (Jochanan) seinen Bruder Jesus (Josua) um des Hohenpriestertums willen, das dieser ihm mit persischer Hilfe entreißen wollte, im Tempel ermordete. Dafür hat der Statthalter Bagoas den Juden eine Steuer von 50 Drachmen für jedes beim täglichen Opfer geschlachtete Lamm auferlegt277.

Allmählich gewannen die Verhältnisse festere Gestalt. Die Tora hatte Gesetzeskraft, die Strafen, die sie auf jede Übertretung setzte, wurden rücksichtslos durchgeführt, die strenge Sabbatheiligung, die peinliche Beobachtung der Reinheits- und Opfervorschriften, die Beseitigung alles dessen, was als heidnischer Greuel galt, erzwungen; und allmählich wurde, was Zwang gewesen war, zur Lebensgewohnheit. Das Gesetz gab in den zerfahrenen Verhältnissen der Gegenwart einen festen Halt, ein gesteigertes Vertrauen auf die Zukunft, auf den göttlichen Segen. Vor allem aber schlang es ein unauflösliches Band um alle Gemeindeglieder: von dem zahlreichen Nachwuchs konnte niemand mehr verlorengehen. Zugleich assimilierte es die Elemente, die von außen in die Gemeinde hineinkamen: die Fremden, die unter den Juden lebten, konnten sich ihren Ordnungen nicht entziehen, die geheimnisvolle Verheißung, deren Träger die Gemeinde war, imponierte und wirkte magnetisch: die Metöken wurden Proselyten. [199] Die unvermeidlichen Mischehen waren nicht mehr gefährlich. So begannen die Juden auch in Palästina vorwärtszukommen, trotz der Armut des Landes und der äußeren und inneren Bedrängnisse, an denen es nie gefehlt hat; die Nöte der ersten Einrichtung waren überwunden. Die Bevölkerung vermehrte sich stark, das kleine, von den Persern überwiesene Gebiet wurde voll, die Juden begannen sich auszubreiten, zunächst ins Philisterland, in die Täler nach der Küste hinab, wo alsbald inmitten der Fremden (ἀλλόφυλοι – so wird später die sehr gemischte Bevölkerung dieses Gebiets bezeichnet) zahlreiche Judengemeinden entstanden; dann in der griechischen Zeit auch in das Land östlich vom Jordan (Peräa) und nördlich von Samaria (Galiläa). Damit verschob sich zugleich der innere Aufbau der Gemeinde. Im Jahr 445 hatte sich das nach Geschlechtern organisierte Volk als Gemeinde Jahwes konstituiert, die abhängigen Leute und die Proselyten, »die, welche sich von den Landbewohnern getrennt hatten zum Gesetze Gottes«, hatten sich dem angeschlossen. Doch dieser Unterschied war nicht mehr zu halten. Der Vorrang, den die Geburt aus Abrahams Samen gewährte, war zwar unaustilgbar, aber er ließ sich auf die Dauer nicht mehr feststellen. Schon der Priesterkodex hat die unter den Juden wohnenden Kalibbiter, Jerachme'eliter usw. durch Korrektur ihres Stammbaums zu echten Juden gemacht, und die Praxis ist ihm bald gefolgt. Ein paar Generationen später sind die Geschlechter verschollen: Gemeindemitglied ist nicht mehr, wer einer der alten Blutsgenossenschaften angehört, sondern wer als Jude geboren ist. Der Satz des Deuteronomiums, daß Edomiter und Ägypter im dritten Gliede Gemeindemitglieder werden können (23, 8), gilt für alle, »die sich von der Unreinheit der Heidenvölker zu den Juden abgesondert haben«. Die danebenstehende, aus dem alten Nationalhaß hervorgegangene Bestimmung, daß kein Ammoniter oder Moabiter je der Gemeinde angehören dürfe, ist, wenn dem Bericht Neh. 13, 1 zu trauen ist, im Jahr 445 noch beobachtet und auf alle »Araber« (Beduinen) ausgedehnt worden (o. S. 133); später hat man sie mit Recht für antiquiert erklärt, ebenso wie die Bestimmung über den Ausschluß der Bastarde und Verschnittenen schon von Tritojesaja [200] (56,3) aufgehoben ist. – Die Folge der Ausbreitung der Gemeinde ist, daß eine Volksversammlung nicht mehr berufen wird, sondern das Regiment ganz in die Hände des aus der geistlichen und weltlichen Aristokratie in Jerusalem gebildeten Rats unter Leitung des Hohenpriesters übergeht278.

Die eigenartigste Wirkung hat die Einführung des Gesetzes auf die Rivalen der Juden, die Samaritaner, ausgeübt. Zwar von Jerusalem und der aus dem Exil zurückgekehrten Judenschaft wollten sie nichts wissen; aber Jahwes Diener waren auch sie, und dem Eindruck des Gesetzes und seiner folgerichtigen Durchführung konnten sie sich nicht entziehen; das geschriebene Wort, das uralte Offenbarung bringen will, ist eine gewaltige Macht. Aus Eigenem vermochten sie ihm nichts entgegenzustellen: sie waren nur die Trümmer eines zertretenen Volks, ohne selbständiges Leben. So entschlossen sie sich, um sich selbständig zu behaupten, das jüdische Gesetzbuch zu übernehmen und nach ihm dem Jahwe Tempel und Kultus auf dem Garizim einzurichten: nannte doch das Gesetz den Namen Jerusalems nicht und ließ sich daher ebensogut auf den heiligen Berg von Sichem beziehen. Gerade die Priester, welche jetzt aus Jerusalem weichen mußten, ihre alten Verbündeten, halfen ihnen bei der Einrichtung. »Einer von den Söhnen Jojadas, des Sohnes des Hohenpriesters Eljašîb, war Schwiegersohn des Choroniters Sinuballiṭ«, erzählt Nehemia am Schluß seiner Schrift; »den verjagte ich von mir [201] weg (während der zweiten Statthalterschaft). Gedenke ihnen, mein Gott, die Befleckungen des Priestertums und der Ordnungen des Priestertums und der Lewiten!« Der Mann, dessen Namen Nehemia verschweigt, dessen Frevel, die er mit anderen Genossen zusammen verübt hat, er nur andeutet, war nach der jüdischen Tradition, die den Zusammenhang ganz legendarisch ausmalt, aber in diesem Punkte völlig glaubwürdig ist, Manasse, der erste Hohepriester von Sichem. Vielleicht hat schon er den Samaritanern die Tora gebracht. Mit ihr übernahmen sie auch ihre notwendige Ergänzung, die Messiashoffnung. So trat neben die orthodoxe Kirche sofort auch die rivalisierende Ketzergemeinde; beide in Glauben und Kultus vollständig übereinstimmend, aber eben darum nur um so grimmiger miteinander verfeindet. Gerade das Fehlen jedes Differenzpunktes mit Ausnahme des völlig gleichgültigen, wo der wahre heilige Berg zu suchen sei, zeigt, daß der durch eine jahrhundertelange Geschichte geschaffene Gegensatz unüberbrückbar war. Genützt hat den Samaritanern ihr Unternehmen nicht viel: die Macht der Idee hatte sie unterworfen, aber sie blieben sklavische Nachahmer, und sie konnten über die Halbheit nicht hinaus, Träger des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Verheißung und doch keine Juden sein zu wollen279.

[202] Die Gemeinde von Jerusalem ist nicht die Judenschaft; um sie herum legt sich in immer weiterer Ausdehnung die Diaspora. Ihr Ausgangspunkt war die kompakte Judengemeinde in Babylonien. Von hier aus verbreitet sie sich nach Susa, nach Medien und bald auch in die westlichen Provinzen. Zu vielen Tausenden denkt sich die Estherlegende die Judenschaft durch das ganze Perserreich verbreitet: »es gibt ein Volk, das zerstreut und abgesondert unter den Völkern in allen Provinzen Deines Reiches lebt«, sagt Haman zu Xerxes; »ihre Gesetze sind von denen jedes anderen Volks verschieden, und die Gesetze des Königs befolgen sie nicht.« Das ist spätestens um 200 v. Chr. niedergeschrieben. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen weit hinauf; die Psalmen setzen sie überall voraus. Das Gesetz hat sie vorgesehen und ermöglicht. Durch die Loslösung der Bekenner der nationalen Religion von der Heimat und dem Opferkult, durch die schroffe Absonderung gegen alle Nichtjuden ist es möglich geworden, jedes Glied festzuhalten, wohin es auch versprengt sein mochte. Dadurch ist zugleich den Juden die Fähigkeit gegeben, sich in alle Verhältnisse zu schicken und aus ihnen Gewinn zu ziehen; das war der legitime Vorteil, den Jahwe schon jetzt seinem Volke gegen die Heiden gewährte. Überall erwiesen die Juden sich als gewandte Leute, die es verstanden, in der Welt vorwärtszukommen; namentlich im Hofdienst waren sie sehr brauchbar. Wenn man sie in ihrer Religionsübung und Lebensweise nicht behelligte, waren sie anstellig zu jedem Werk und auch zuverlässig, da sie von den übrigen Untertanen durch einen scharfen Gegensatz geschieden waren und ihr Interesse mit dem der Regierenden zusammenging. So ist es nur natürlich, daß mit dem Judentum sofort sein notwendiges Korrelat, der Judenhaß, in die Welt trat. Es ist eine grundfalsche Behauptung unserer Zeit, daß er ein Erzeugnis der Neuzeit oder des Christentums sei: er ist so alt wie das Judentum selbst. Bereits in den Psalmen ist überall von ihm die Rede. Nicht ihr Gott und ihre Religion an sich ist es, was Spott und Hohn und Verfolgung der Heiden hervorruft, sondern die hochmütige Überlegenheit, mit der sie als alleinige Bekenner des wahren Gottes allen anderen Völkern entgegentreten, [203] jede Berührung mit ihnen als befleckend zurückweisen, den Anspruch erheben, mehr und besser zu sein als sie und berufen zu sein, über sie zu herrschen. Wer nicht durch das Geheimnis der Offenbarung zum Proselyten gewonnen wird, dem sind die Juden ebenso unrein und abstoßend wie er ihnen. Die Juden empfanden den Gegensatz um so bitterer, da er ihnen eine Umkehrung der wahren Weltordnung war: daher die fortwährende Forderung des Gerichts, der Abrechnung mit den Heiden, das Herbeisehnen des Tages Jahwes. Der Rachedurst ist hier das treibende Moment, nicht etwa die Sehnsucht nach dem göttlichen Geheimnis. Der Haß gegen die Heiden ist die Kehrseite des Strebens, sie zu bekehren, sie dem Judentum anzugliedern. Daher schwelgt man, bei der Ohnmacht der Gegenwart, wenigstens in der Phantasie in der Vernichtung der Heiden: so im deuteronomistischen Josua, so im Estherbuch, einer Legende, welche ein zunächst von der jüdischen Diaspora übernommenes heidnisches Fest dadurch zu legitimieren und weiter zu verbreiten sucht, daß sie es für ein Erinnerungsfest an eine von Xerxes geplante allgemeine Verfolgung der Juden ausgibt, statt deren der König den Juden schließlich gestattet habe, durch das ganze Reich ein gewaltiges Blutbad unter den Heiden anzurichten. Die Legende ist die Umwandlung eines babylonischen Mythus, aber für den Geist des Judentums nicht weniger charakteristisch als die in anderen Schriften vertretene universelle Anschauung, welche, an Deuterojesaja anknüpfend, alle Menschen in der reinen Gotteserkenntnis ausgleicht und z.B. im Hiob einen Nichtjuden zum Träger der tiefsten Gedanken über das Verhältnis des Menschen zur Gottheit macht, oder in Volksbüchern David von einer moabitischen Ahnfrau ableitet (Ruth) und das Ausbleiben des Gerichts damit erklärt, daß Jahwe Mitleid mit den armen Heiden hat und ihnen Zeit gönnt, sich zu bekehren (Jona)280.

[204] Denn das ist überhaupt das Wesen des Judentums: die höchsten und die abstoßendsten Gedanken, das Großartige und das Gemeine liegen unmittelbar nebeneinander, untrennbar verbunden, das eine immer die Kehrseite des anderen. Die höchste Idee will man verwirklichen: nur den Gott, der Himmel und Erde geschaffen, will man verehren, in reiner Gestalt, ohne menschliche Zutat, sich ganz ihm hingeben und seinem Willen leben. Allen Völkern will man ihn verkünden, sie sollen dereinst der reinen Offenbarung gewonnen werden – denn auch sie ahnen den Höchsten: der Himmelsgott, der überall auf der Welt verehrt wird, ist kein anderer als Jahwe von Jerusalem (o. S. 161), wenn auch nur in schwachem Abglanz.281 So scheint die alte Exklusivität überwunden, [205] wo Gott gegen Gott stand und Volk gegen Volk. Aber indem sie diesen Gott für sich nehmen, als den, der sie allein ausgewählt hat aus allen Völkern und ihnen die Verheißung gegeben, die sie über alle anderen erheben soll, indem sie ihn unlösbar verknüpfen mit dem einen Tempel von Jerusalem und das Wesen seiner Verehrung in absurdem Regelwerk suchen, richten sie die Schranke nicht als nationale, natürliche, sondern als eine künstliche religiöse doppelt und dreifach wieder auf. Das Judentum ist wie die konsequenteste und folgenschwerste, so vielleicht auch die bizarrste Bildung, welche die religiös-politische Entwicklung Asiens geschaffen hat. Die alte Frage, ob die Juden ein Volk sind oder eine Religionsgenossenschaft, ist schief gestellt: vielmehr ist gerade das das Wesen dieser Bildungen, daß sie das Volkstum in Religion umsetzen und dadurch imstande sind, weit über die Grenzen des ehemaligen Volks hinauszugreifen. Das ist, außer etwa im späteren Parsismus, nirgends in so umfassendem Maße geschehen wie im Judentum. Das Erbteil des Volkstums bleibt der Gemeinde: die Hoffnungen, welche das Volk aufrechterhielten, sind zu Verheißungen für die Gläubigen geworden, diese leben in den Formen der ehemaligen Nation. Dadurch werden Zustände und Anschauungen einer längst vergangenen Zeit für alle Zukunft konserviert, Sitten und Bräuche, die ehemals naturwüchsig waren, aber längst widersinnig geworden sind, den Nachkommen bis in die fernsten Geschlechter aufgezwängt. Die Juden schleppen sich an ihnen bis auf den heutigen Tag. Der göttliche Segen, den sie von der Übernahme des Gesetzes erwarteten, ist ihr Verhängnis, ist der schwerste Fluch geworden.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 196-206.
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