Die Gegensätze im Judentum. Das Gesetz und die echte Religiosität. Das individuelle Problem und das ethische Postulat. Hiob

[206] Die Grundgedanken der jüdischen Religion sind von gewaltigen Persönlichkeiten erzeugt; aber das Judentum selbst ist keine geniale Schöpfung, sondern das Werk kleiner Geister, welche die großen Ideen der Vergangenheit in ein System gebracht haben. Selbst warme und tiefe religiöse Empfindung, wie sie im Deuteronomium noch hervorbricht, sucht man im Priesterkodex oder bei Ezra und Nehemia vergebens; das Schema und die äußere Korrektheit sind an ihre Stelle getreten. Das einzige, was, wenn nicht Bewunderung, so doch Achtung hervorruft, ist die Konsequenz der Durchführung, die rücksichtslos alle natürlichen Verhältnisse meistert und unter die unerbittliche Logik der gesetzlichen Ordnung zwängt. Es ist ein Werk von Epigonen, bestimmt, das nie endende Intervall auszufüllen zwischen der für immer entschwundenen Vergangenheit und dem Traumbild der Zukunft, dessen Erfüllung man von Tag zu Tag erwartet und das doch niemals zur Wirklichkeit werden kann. Aber eins gibt das Gesetz, eine feste Weltanschauung, eine unverbrüchliche Norm, nach der alle Lebensverhältnisse zu behandeln sind. Es ist der stärkste Gegensatz gegen die gleichzeitig sich ausbildende griechische Kultur, der denkbar ist. Hier die stets weitergreifende Bewegung zur Freiheit, die mit allen überkommenen Anschauungen bricht und vor keiner Autorität haltmacht, der Menschengeist, der durch eigene Kraft die Welt und das innere Leben des Geistes zu begreifen und zu beherrschen versucht: dort die absolute Gebundenheit, der Individuum und Volk und Menschheit und alle Erscheinungen der Natur wie der Geschichte nichts sind, nur der Wille des Einen absoluten weltbeherrschenden Gottes. Daher kann das Judentum eine Wissenschaft nicht erzeugen: alle Betrachtungen über Naturerscheinungen, über Pflanzen und Tiere, alle Spekulationen über den Ursprung der Welt dienen nur, die Erkenntnis der Allmacht Gottes und damit die Furcht vor Gott und die unbedingte Unterordnung unter seinen Willen zu wahren. Die Geschichtsbetrachtung [207] artet vollends aus in die wüsteste supranaturalistische Pragmatik, die alle geschichtlichen Vorgänge auf ein unmittelbares wunderbares Eingreifen Gottes zurückführt und keinen anderen geschichtlichen Faktor anerkennt als das Verhalten des Menschen zu Gott. Daraus folgt, daß der Ausgang der alleinige Wertmesser wird, diejenigen gut und fromm sind, denen es gut ergangen ist, und umgekehrt – oder daß, wo dies unmöglich ist, die Überlieferung nach den Forderungen der Vergeltung korrigiert wird. Darin hat der Chronist, der zu Anfang des 2. Jahrhunderts die israelitische Geschichte neu bearbeitet hat, die deuteronomistische Geschichtsschreibung noch weit überboten: eine Zeit, in der das Gesetz nicht die alleinige Norm der Geschichte gewesen wäre, ist ihm undenkbar. Kunst und Poesie und überhaupt Literatur in anderen als religiösen Formen ist für das Judentum nicht vorhanden – eine Anzahl profaner Hochzeitslieder, die in griechischer Zeit im Hohenlied gesammelt wurden, sind nur deshalb auf uns gekommen, weil sie auf Salomo zurückgeführt und allegorisch gedeutet wurden. So liegt dem echten Judentum, da es den Menschen nicht auf sich selbst zu stellen vermag, auch der Begriff der Menschenwürde, der freien Entfaltung des Individuums und damit eine wahre Sittlichkeit zunächst ganz fern. Die alte Zeit stand darin weit höher: sie kannte wenigstens in den Propheten selbständige Persönlichkeiten, die in unmittelbarem Verkehr mit der Gottheit standen, die mit ihrer Überzeugung rückhaltlos hervortraten, unbekümmert um alle Konvention und Tradition, sie kannte eine innere sittliche Verantwortung, die höher stand als jedes Gesetz. Aber das Judentum will davon nichts mehr wissen: wir haben gesehen, wie die Prophetie zuerst innerlich ihres Wesens sich entkleidet und dann auch äußerlich abstirbt. Die Makkabäerzeit kennt keine Propheten mehr (Makk. I 4, 46. 9, 27). »In jener Zeit«, heißt es in einem pseudonymen eschatologischen Pamphlet aus griechischer Zeit (Zacharja 13), »schaffe ich die Propheten und den unreinen Geist aus dem Lande; und sollte noch jemand als Prophet auftreten wollen, so werden seine Eltern zu ihm sagen: Du darfst nicht leben bleiben, denn Lüge hast du geredet im Namen Jahwes ... Und jeder Prophet wird sich seiner prophetischen Gesichte [208] schämen und nicht mehr den härenen Mantel anlegen, um zu betrügen, sondern er wird sagen: ich bin kein Prophet, sondern ein Ackersmann.« Wenn ein Zeitgenosse, der Prophet Joel, die Ausgießung des prophetischen Geistes auf alles Fleisch, Männer wie Frauen, erwartet (3, 1), so ist das kaum etwas anderes: die Gesetzesherrschaft kann nur allgemeine Gleichheit dulden, aber keine überragenden Persönlichkeiten. So steht denn auch die jüdische Moral keineswegs hoch: hier hat sich die altsemitische Denkweise in voller Nacktheit erhalten. Das Vergeltungsrecht herrscht durchaus, die Sehnsucht nach Rache, nach Bestrafung der Heiden und der Gottlosen und Abtrünnigen in der Gemeinde bricht in den Zukunftshoffnungen überall hervor. Das irdische Wohlergehen ist nach der allgemeinen Anschauung der Maßstab für das sittliche Urteil über den Einzelnen; die Furcht vor Jahwe ist der Weisheit Anfang und Schluß. Besonders bezeichnend ist die Auffassung des Weibes. In einfachen Verhältnissen, in strenger Unterordnung unter die Sitte vermag sie, wie in der Ruthidylle, ein Beispiel rührender Pflichterfüllung zu geben, in der Judithsage tritt sie wie ehemals Debora ein für ihr Volk, wo die Männer verzagen: aber das Problem der sittlichen Persönlichkeit der Frau, zu dem die griechische Kultur sich, wenn auch schwer genug, durchgerungen hat, ist dem Judentum nie aufgegangen. Auch dem Weisen und dem Frommen ist das Weib nur die Leiterin seines Hausstandes und das höchste Objekt des Sinnengenusses, der Harem ein Lohn der Frömmigkeit (vgl. Hiob). Wer den Abstand der jüdischen von der griechischen Kultur ermessen will, vergleiche die Geschichte von Vašti und Esther mit der etwa gleichzeitigen Erzählung von der jüngeren Aspasia (Älian, var. hist. XII, 1, wohl aus Deinon282. Auch hier ist die jüdische Auffassung nicht allgemein orientalisch, sondern in dieser Schroffheit spezifisch semitisch; die Perser und nun gar die Inder haben anders empfunden.

Trotz alles äußeren und inneren Zwanges hat jedoch das Gesetz die Judenschaft nicht vollständig unterwerfen können. In [209] weiten Kreisen wurde es nur so weit befolgt, wie unumgänglich war; im übrigen gingen sie ihren Interessen ungescheut nach und machten aus ihrem Skeptizismus gegen die göttliche Gerechtigkeit und den Nutzen der Frömmigkeit kein Hehl. Sie werden nicht alle Frevler gewesen sein, wie die Gegner behaupten; aber es waren lässige und lebenslustige Weltkinder. Die menschliche Natur läßt sich eben nicht völlig ausrotten, sowenig wie man dem Boden nach dem siebten Sabbatjahr noch ein Jubeljahr, eine zweite Brache, aufzwängen konnte, sondern hier das Gesetz wohl oder übel schlafen lassen mußte. Auch innerhalb des Gesetzes gab es noch einen weiten Spielraum. Die Weisen, welche ihre Lebensklugheit in poetischen Sprüchen niederlegen, fürchten Jahwe und wissen, daß man sich seinem Willen fügen muß, aber sie verschmähen das Leben nicht, wenn sie auch vor seinen Versuchungen, vor übermäßigem Genuß, vor den von Gott abführenden Verlockungen warnen. Aber neben ihnen stehen die Gelehrten, die »Schreiber« oder Schriftgelehrten – der Chronist kennt schon eine geschlechtsartige Gilde derselben kalibbitischen Ursprungs in Ja'bes (I 2, 55, vgl. 4, 9) –, die ihr ganzes Leben dem Studium des Gesetzes widmen und in seiner peinlichen Erfüllung sich nicht genugtun können, immer neue Sätze und Folgerungen aufstellen, die sich aus seinen Vorschriften ergeben, und so eine stets wachsende Kasuistik der Gesetzlichkeit ausbilden. Über ihnen allen stehen die eigentlichen »Frommen«, denen die Furcht vor Jahwe und die Befolgung der Gebote in Fleisch und Blut übergegangen ist, so daß sie gar nicht anders können als danach leben. Für diese Kreise wird das Gesetzeswerk etwas Selbstverständliches, die natürliche Ordnung des Lebens, von der man daher gar nicht weiter zu reden braucht. Sie durchschauen die Heuchelei derer, die mit ihrer Werkgerechtigkeit prunken und dabei Erpressung üben, den Nächsten lästern und ihren Lüsten nachgehen. Hier und hier allein ist daher auch eine wahre Religiosität, ein unmittelbares Verhältnis zu Gott möglich: für sie ist die Gesetzeserfüllung nicht Selbstzweck, sondern nur die Voraussetzung des wahren religiösen Lebens. Es sind die Kreise, in denen die Psalmen und der Hiob gedichtet sind. In ihnen zeigt sich, daß die großen Männer der Vergangenheit[210] nicht umsonst gelebt haben, ein Jesaja, ein Jeremia, ein Deuterojesaja. Ihren Ideen ist der Spielraum beschränkt, aber erstickt sind sie noch nicht in dem äußeren Werk; sie können es durchdringen und dadurch sich über ihm frei entfalten. Auch hier waren die Individualitäten und die Stimmungen verschieden genug: vielfach überwiegt durchaus der Gegensatz gegen die Heiden und Feinde, der Rachedurst, das Gefühl für das Elend der Gegenwart, in der die Aspirationen der Gemeinde sich noch immer nicht erfüllen wollen, mit einem Worte, der jüdische Geist; in anderen, wie im Hiob oder im 73. Psalm, ist er nahezu oder völlig überwunden. Zum Bewußtsein kommt der Gegensatz noch nicht, in den man dadurch zum Gesetz tritt, so wenig wie die Urheber des Gesetzes, Ezechiel und Ezra, oder seine Ausleger, die Schriftgelehrten, geahnt haben, daß sie mit ihrer Werktätigkeit und ihrem Formelkram im schroffsten Gegensatz standen zu den alten Propheten, daß ein Jeremia sie als Götzendiener, als Abtrünnige vom lebendigen Gott bekämpft haben würde. Aber in Wirklichkeit vermögen die Frommen der Psalmen das Gesetz nur zu ertragen, weil sie es innerlich überwunden und aufgehoben haben.

Hier ist denn auch der Boden gefunden, auf dem nicht der Kultus, aber die Religion weitergebildet und vertieft werden kann, auf dem endlich der Individualismus sich voll entfaltet, der, wenn auch zunächst latent, in allen den neuen religiösen Bildungen darin steckt und zusammen mit seiner Kehrseite, dem Universalismus, ihr entscheidendes Merkmal ist. Es ist erstaunlich, wie schwer und wie spät das individuelle Problem in der jüdischen Entwicklung zum Durchbruch gelangt ist. Hervorgewachsen ist dasselbe auch noch aus dem alten nationalen Problem, der Forderung der Wiederherstellung des Volks in neuer Herrlichkeit. Weil die Voraussetzung dafür die Heiligung des Volks, die unbedingte Durchführung des göttlichen Willens ist, weil zugleich eine politische Wiederherstellung durch menschliche Mittel vollkommen ausgeschlossen und lediglich durch ein freies göttliches Wunder zu erhoffen ist, ist das Volk zur Gemeinde geworden. Damit ist schließlich doch die entscheidende menschliche Aktion aus der Gesamtheit in den Einzelnen verlegt: das wahre Israel ist weniger und [211] mehr als das alte Volk, es umfaßt alle »die hinzittern zum Worte Jahwes«, mögen sie aus Abrahams Samen geboren sein oder aus den Völkern sich anschließen. Aber die Forderung an den Einzelnen wird nur gestellt um der Gesamtheit willen: ihr gilt die Verheißung, nicht ihm; der Lohn des Frommen ist, daß er zur Gemeinde gehört, daß er am Tage des Gerichts vor Jahwe bestehen kann und an dem Segen Anteil erhält, der Israel beschert wird. Fährt er vorher in die Grube, so geht das die Gemeinde nichts an: seine Nachkommen werden die Erfüllung sehen. Der Gedanke einer Ausgleichung im Jenseits, einer überirdischen Vergeltung mußte einer derartigen Religion völlig fernliegen: dadurch wäre ihr Ziel, das ein rein irdisches ist, aufgehoben worden. Das einzige, was den Frevlern angedroht werden kann, ist, daß dereinst ihre Gebeine geschändet werden sollen. Das mochte dem Spötter ganz gleichgültig sein, da er nichts mehr empfindet, wenn er tot ist; aber den lebenden Menschen erfüllt der Gedanke doch mit Grauen, so gut wie der, daß er ohne Nachkommen sterben soll. – Dennoch hat das Individuum jetzt eine andere Stellung erhalten. Sein Verdienst ist es, wenn die Gemeinde überhaupt besteht und das Gesetz befolgt wird; freiwillig halten die Juden in der Zerstreuung an Jahwe fest, freiwillig, wenigstens der Form nach, hat die Gemeinde in Palästina seine Gebote auf sich genommen. Männer wie Ezra – falls seine Schrift wirklich ein Memoirenwerk war – und jedenfalls Nehemia zeichnen die Taten auf, die sie für Jahwe und seine Gemeinde getan haben, gewissermaßen als Schuldforderung, die sie an Gott haben: »Gedenke mir, mein Gott, alles zum Besten, was ich für das Volk getan habe!« schreibt Nehemia, »gedenke mir dessen und tilge die Wohltaten nicht aus, die ich dem Tempel meines Gottes und seinem Dienste erwiesen habe!« Und als Kehrseite dazu: »Höre, unser Gott, wie wir verachtet worden sind, und vergilt ihnen ihren Hohn und gib sie einem fremden Land zur Beute; decke ihre Verschuldung nicht zu und laß ihre Sünde nicht vor dir ausgelöscht werden!« Wenn der Tag der Rache und des Heils noch immer ausbleibt, so kann die Schuld dafür nur in dem unfrommen Verhalten einzelner Gemeindemitglieder gesucht werden. So ist tatsächlich jetzt doch nicht mehr die Gemeinde, sondern[212] der Einzelne der Träger der Religion. Der Gedanke, der bei Ezechiel auftauchte, aber von ihm beiseite geschoben wurde, daß es auf die einzelne Seele ankommt, nicht mehr auf das Volk, ist jetzt zur Wirklichkeit geworden.

Je mehr die Erfüllung der Hoffnungen sich hinausschob, desto mehr mußte sich die Bedeutung des Individuums heben. Für die Diaspora trat die Zukunftsidee von Anfang an zurück; hier hält der Einzelne an Jahwe fest, weil er von ihm Schutz und Halt im Leben erhofft. Aber auch die kompakte Volksmasse in Palästina konnte von der Hoffnung allein nicht leben. Je vollständiger alle größeren gemeinsamen Aufgaben, alle politischen Fragen weggefallen waren, desto mehr trat die Stellung des Einzelnen, sein persönliches Schicksal in den Vordergrund. Die Gesetzeserfüllung wurde aus einer Vorbereitung für die Zukunft zum Inhalt des Lebens. Sollte man sich abmühen, Jahwes Gebote zu erfüllen, so mußte man doch einen Gewinn davon haben. Daher wird gerade jetzt der Glaube an eine mechanische Vergeltung so allgemein und unausrottbar. Wie er in der Geschichtsbetrachtung durchgeführt wird (o. S. 208), so im Leben. Er ist eine Forderung an Gott: die der Gesamtheit gewährte Verheißung, die sich nicht erfüllt, setzt sich um in einen Anspruch des Einzelnen. Der Fromme und Gerechte muß belohnt werden, dem Gottlosen und Bösen muß es schlecht gehen, wenn Jahwe in Wahrheit der Gott Israels ist; was nützte sonst die Gesetzeserfüllung? Und doch schlägt diese Voraussetzung den Tatsachen ins Gesicht, trotz allem, was die Weisen anführen, sie zu erhärten und nachzuweisen, daß wenigstens am Ende den Guten der Lohn und den Bösen die Strafe ereilt. So ist es natürlich, daß die Lässigen und Ungläubigen, wie schon zur Zeit Zacharjas und Maleachis, so jetzt erst recht hier ihr Hauptargument entnehmen, daß sie mit Fingern auf die Gerechten hinweisen, die trotz aller Frömmigkeit im Elend verkommen sind, auf die Sünder, denen alles geglückt ist. Der wahrhaft Fromme vermag sie nicht zu widerlegen. Den populären Glauben, daß der Unglückliche für geheime Sünden büßt, überwindet er; viele Psalmendichter beruhigen sich bei dem Trost, daß den Sünder schließlich doch die Strafe ereilt und dem Frommen zuletzt alles zum Besten ausschlägt. [213] »Erhitze Dich nicht über die Bösewichter, ereifere Dich nicht über die Übeltäter; denn wie Kraut werden sie rasch abgeschnitten, und wie grünes Gras verwelken sie. Vertraue auf Jahwe und handle gut, wohne im Lande und übe Redlichkeit: dann wirst Du an Jahwe dich ergötzen und er wird Dir geben, was dein Herz wünscht. Überlaß Jahwe Deinen Pfad und trau auf ihn, so wird er es machen, und wird Deine Gerechtigkeit hervortreten lassen wie das Licht und Dein Recht wie den Mittag.« Doch auch dieser Trost versagte denen, welche es wagten, der unverhüllten Wirklichkeit ins Auge zu schauen. Aber wer das kann und den Glauben an Jahwe im Herzen trägt, der vermag auch alle Anfechtungen zu überwinden; der weiß, daß aller äußere Gewinn nichtig und überflüssig ist, daß es einen inneren Gottesfrieden gibt, der höher ist als alle irdischen Güter, den kein Unglück zu rauben vermag. »Außer Dir begehre ich nichts im Himmel und nichts auf Erden. Wäre mir Leib und Seele hingerafft, der Fels meines Herzens und mein Anteil bliebe Gott in Ewigkeit«, heißt es im 73. Psalm – freilich bricht hier dann doch sofort der Gedanke wieder durch, daß, während den Frommen die Nähe Jahwes genügt, die Bösen zuletzt doch ein Ende mit Schrecken nehmen. Aber nirgends auf der Welt ist mit dem ethischen Postulat so ernsthaft gerungen, ist der Konflikt zwischen der Idee der Gerechtigkeit des allmächtigen Weltenherrschers und dem absoluten Elend des Menschenloses so schwer empfunden und so tief durchdacht worden, wie in der jüdischen Literatur des 4. und 3. Jahrhunderts. Das Problem nicht zu lösen, aber aufzuheben, indem es bis auf den letzten Grund verfolgt wird, ist die Aufgabe, welche die größte Schöpfung dieser Epoche sich gestellt hat, das Gedicht von Hiob.

In aller Schärfe stellt der Dichter des Hiob das Problem: der Fromme trägt schuldlos das schwerste Leid, es ist der furchtbarste Hohn, wenn ihm sein Schicksal als von der göttlichen Gerechtigkeit verhängte Strafe für geheime Sünden oder für kleine Vergehungen hingestellt wird. Die Tatsache, daß den Frevlern das Glück treu bleibt und daß der Unschuldige leiden muß bis an den Tod ohne Hoffnung auf eine Wendung zum Bessern, ja ohne irgendwelche äußere Rechtfertigung – und mit dem Tode ist es [214] mit dem Menschen vorbei, was nachher geschehen könnte, geht ihn nichts mehr an (7, 9f. 14, 10ff. 16, 22) –, wird über allen Zweifel erwiesen, so daß die Gegner verstummen müssen. So ist es das allgemein furchtbare Menschengeschick, als dessen Träger Hiob sich fühlt; als Anwalt der gequälten Menschheit tritt er Gott gegenüber und fordert ihn zum Rechtsstreit heraus. Einen Richter über ihnen beiden gibt es nicht; Gottes Allmacht kann ihn vernichten. Aber Gott weiß, daß er recht hat; Gott selbst ruft er an, daß er Schiedsrichter sei zwischen Mensch und Gott, Gott selbst soll und muß die Prozeßführung für Hiob übernehmen, sein Anwalt werden, da kein anderer dazu imstande ist (16, 20f. 17, 3; vgl. 19, 7ff. 23ff.). Die Antwort, die Jahwe aus der Wetterwolke erteilt, ist keine andere, als die Hiob selbst schon ausgesprochen hat: Jahwe ist der allmächtige Schöpfer und Regierer der Welt: wer ist's, der ihn zur Verantwortung ziehen, der sich ein Urteil anmaßen könnte über sein Tun? Die Frage nach der Berechtigung des Leidens bleibt unbeantwortet und muß es bleiben; aber das Problem ist aufgehoben. Hiob bereut seine Vermessenheit, Gott herauszufordern, mit Recht: denn im Leben vermag der Mensch nicht, wie in der Dichtung, Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Aber er behält recht; seinen Freunden, die ihn für einen Sünder erklärt haben, legt Gott eine Buße auf, »denn ihr habt nicht richtig von mir geredet, wie mein Knecht Hiob«. Der Fromme leidet unschuldig, weil es Gott so gefällt; die Behauptung, daß des Menschen Schicksal eine gerechte Vergeltung seiner Taten sei, ist eine Lüge. Aber das göttliche Weltregiment bleibt darum unangefochten bestehen. Die Versöhnung gibt einzig das innere Bewußtsein der Unschuld und der Gottesergebenheit, das eigene Gewissen, das die äußere Rechtfertigung nicht fordern darf und nicht braucht283. – Der Dichter des Hiob hat es gewagt, das Problem [215] bis zum letzten Ende durchzudenken, mit einer Kühnheit und Wahrheit, die vor keiner Konsequenz zurückschrickt. Er ist einer der größten Denker aller Zeiten, sein Werk zwar nicht in allen rhetorischen Einzelheiten, aber als Ganzes von überwältigender Wirkung. Daher ist es den alten und modernen Auslegern meist unverständlich geblieben; in der Tat liegt seine Auffassung von dem gewöhnlichen Gottesbegriff himmelweit ab. Seine Lösung steht hoch über der der folgenden Zeit, die in dem Unsterblichkeitsglauben und der Vergeltung im Jenseits einen bequemen Ausweg gefunden hat. – Mit dem Hiob und einigen verwandten Psalmen, namentlich dem 73., ist die religiöse Emanzipation des Individuums erreicht. Die Aufgabe, die ursprünglich dem Volk, dann der Gemeinde gestellt war, hier ist sie ausschließlich ins Innere des einzelnen Menschen verlegt – mit voller Absicht macht daher der Hiob isolierte Individuen, und zwar Nichtjuden (s.S. 134), zu Trägern der Diskussion. Damit ist das Judentum [216] auf eine Entwicklungsstufe gelangt, die trotz aller fundamentalen Unterschiede doch nicht bloß äußerlich mit der griechischen Kultur sich berührt. Das Problem des Individuums ist es gewesen, das nach Jahrhunderten beide Entwicklungen zusammenzuführen und zu verschmelzen vermocht hat.

In dem letzten Jahrhundert der persischen und dem ersten der griechischen Herrschaft haben die verschiedenen Strömungen sich ausgebildet, die wir kurz zu skizzieren versucht haben. Die Gegensätze standen hart nebeneinander; in zahlreichen Schriften, von denen nicht weniges auf uns gekommen ist, haben sie Ausdruck gefunden. Bitter genug empfanden die Strengen und die Frommen den Gegensatz gegen die Heiden draußen und die Ungläubigen, Lauen, Scheinheiligen innerhalb der Gemeinde. Aber es fehlte an einer großen Bewegung, welche die Juden mit sich fortgerissen hätte. Die äußeren Erschütterungen, welche nicht selten als Zeichen des kommenden Gerichts gedeutet wurden und eschatologische Grübeleien hervorriefen, haben doch das Stilleben der Gemeinde höchstens vorübergehend gestört; eine Heuschreckenplage der griechischen Zeit, welche in Joel noch ein mal einen Propheten erweckte – er sah auch in ihr einen Vorboten des Gerichts –, vermochte noch weniger eine andauernde Erregung hervorzurufen. So kam es zu keinem gewaltsamen Zusammenstoß der Gegensätze; sie behielten Zeit, sich auszuwachsen. Dann allerdings haben sie eine um so schwerere Erschütterung hervorgerufen; die die Gemeinde noch einmal wieder auf die Weltbühne geführt, ja sogar vorübergehend in einen Staat umgewandelt hat. Verursacht wurde sie durch die weltlich Gesinnten, welchen das Gesetz zuletzt zu einer unerträglichen Fessel wurde; im Kampf mit ihnen und mit der fremden Obrigkeit, auf die sie sich stützten, errangen die Frommen und Gesetzestreuen den Sieg. Erst damals hat die Gesetzlichkeit die unumschränkte Herrschaft gewonnen und versucht, jede Lebensregung sich zu unterwerfen. Das führte nicht nur nach außen zu neuen Gegensätzen, zu einem Konflikt mit der Staatsgewalt, an dem der neugebildete Staat dahinsiechte, sondern auch nach innen. Für die tiefere und reinere Frömmigkeit, die Deuterojesaja, die Psalmen, den Hiob geschaffen hatte, war [217] kein Platz mehr innerhalb des echten Judentums; der Gegensatz zwischen dem Geist der Prophetie und dem Geist des Gesetzes, der bisher latent gewesen war, wurde akut. Aus ihm ist das Christentum geboren.

Gleichzeitig hat sich in der Tiefe ein fundamentaler Wandel der Anschauungen von Gott und der Welt vollzogen, unbemerkt und unbewußt, aber um so tiefgreifender. Die Gemeinvorstellungen, welche überall auftauchen, sind auch in das Judentum eingedrungen. Nur ihre ersten schwachen Ansätze begegnen uns in der Literatur der persischen und nachpersischen Zeit: die Vorstellung, daß Gott zahlreiche Diener, »Boten« (Engel), zur Seite stehen, unter ihnen der »Ankläger« (Satan), der die Menschen vor Jahwes Richterstuhl verklagt (Zach. 3. Hiob 2. Chron. I 21, 1. Psalm 109, 6), die Ausbildung einer Gott feindlichen Dämonenwelt, der die Bocksdämonen (Lev. 17, 7, vgl. Jes. 13, 21. 34, 14 u.a.) und der 'Aza'zel (Lev. 16) des Priesterkodex angehören, die Übernahme babylonischer und sonstiger Mythen und Symbole (namentlich bei Zacharja); ferner die Ausbildung der Gerichtsvorstellung, der Glaube, daß Jahwe vorher einen Boten senden werde, ihm den Weg zu bahnen (Maleachi 3, 1), daß vorher Elia, der gen Himmel gefahren und daher noch am Leben ist, auf die Erde zurückkehren werde, Frieden unter den Gläubigen zu stiften (Maleachi 3, 23). Aber in ganz anderer Intensität, völlig ausgewachsen, treten uns diese Anschauungen in dem Volksglauben der makkabäischen Zeit entgegen, und mit ihnen verbinden sich der Auferstehungsglaube und die Vorstellungen von Paradies und Hölle.

Dieser Entwicklung nachzugehen wird erst dann möglich sein, wenn wir uns der Zeit nähern, wo die neuen Ideen in Wirksamkeit treten284. Es ist dieselbe Zeit, in der das bis dahin auf einen engen Kreis beschränkte Judentum sich zu einer welthistorischen Wirkung erhoben hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 206-219.
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