Die politische Lage nach der Vernichtung des attischen Reichs

[1] Dreimal haben die Gegner Athens sich gegen seine Übermacht erhoben. Das erste Mal, in den Jahren 460-446, haben sie die Unabhängigkeit des Festlandes erstritten und Athen auf die Seeherrschaft beschränkt. Der Versuch, in einem zweiten Kampf, 431-421, auch diese Seeherrschaft zu brechen und die Festsetzung Athens im Ionischen Meer zu vereiteln, welche den Peloponnes zu umklammern drohte, ist gescheitert. Als dann aber Athen, statt die Wunden des Kampfes zu heilen, getragen von seinem Siege und getrieben von dem leidenschaftlichen Ehrgeiz eines Staatsmanns, der sich die Krone von Hellas erobern wollte, in verblendeter Überschätzung seiner Mittel die Hand nach der Herrschaft über die ganze Hellenenwelt ausstreckte, ist seine Macht zusammengebrochen. Da die Demokratie und ihre Führer die Fähigkeit vollständig verloren hatten, die Lage zu überschauen und die Kräfte ihres Staats richtig zu schätzen, fand der Kampf nicht eher ein Ende, als bis das Reich gänzlich vernichtet war. Daß Athen selbst nicht vom Erdboden vertilgt wurde, wie ehemals das Assyrervolk oder wie Sybaris, sondern als ohnmächtiger Vasall Spartas fortbestehen durfte, verdankte es nicht seinem verzweifelten Widerstande, sondern lediglich der Großmut des Siegers.

Im Namen der Freiheit der Hellenen und der alten von den Vätern begründeten Ordnung, welche die Nation groß und glücklich gemacht hatte, war der Kampf gegen den Staat geführt worden, der ganz Hellas seiner Zwingherrschaft zu unterwerfen strebte. Aus eigener Kraft freilich hatte der Partikularismus nichts vermocht gegen den mit allen Mitteln der modernen Großmacht ausgerüsteten Einheitsstaat; jeder Insurrektionsversuch der schon [1] unterworfenen Gemeinden scheiterte hoffnungslos, und auch die stärksten der noch selbständigen Griechenstaaten, wie Theben und Korinth im Mutterlande, Syrakus und die übrigen Gemeinden Siziliens und Italiens im Westen, waren nicht stark genug, um selbst vereinigt dem energischen Vordringen Athens zu widerstehen, ganz abgesehen von der Zerrissenheit und ungenügenden Anspannung der Mittel, welche mit dem Prinzip des Partikularismus unvermeidlich verbunden ist. So hatten sie alle sich, gern oder ungern, um den Militärstaat geschart, der allein, weil er in seinen Anfängen, wenn auch nicht in seiner Ausgestaltung, denselben Tendenzen entsprungen war wie Athen, diesem einen kaum zu überwältigenden Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Dem Wesen des spartanischen Staats lag an sich der partikularistische Gedanke ganz fern, im Gegenteil, er wollte herrschen so gut wie Athen. Hätte dieses ihm innerhalb der zwar theoretisch weit umfassenderen, aber tatsächlich viel bescheideneren Grenzen, auf die sich Spartas Ansprüche erstreckten, Anerkennung und Unterstützung zu gewähren vermocht, so hätte eine dauernde Allianz beider Staaten und die Aufrichtung ihrer gemeinsamen Herrschaft über ganz Hellas das Ergebnis sein können. Aber alle Versuche, die wieder und wieder von beiden Seiten gemacht wurden, sind gescheitert und mußten scheitern, nicht nur weil die radikale Demokratie Athens und der ständige Fortschritt seiner kommerziellen und maritimen Macht einen ernsthaften Verzicht auf einen Teil des in seiner Machtsphäre liegenden Gebiets ausschloß, sondern vor allem, weil die Macht ihrem Wesen nach unteilbar ist und jedes dualistische System, in welcher Form immer es auftreten möge, den Entscheidungskampf nicht aufhebt, sondern nur vertagt. So blieb Sparta, wollte es nicht freiwillig auf die Macht verzichten, nichts übrig, als dem Drängen seiner Verbündeten nachzugeben und den Kampf zu beginnen. Es akzeptierte das Programm des Partikularismus und der Reaktion, um unter dieser Fahne seine eigene Herrschaft aufzurichten. Über die Gefahren für den Bestand seines Staatswesens, denen man dadurch sich aussetzte, machte man sich keine Illusionen; wieder und wieder hat der Eurotasstaat gezögert, den letzten entscheidenden Schritt zu [2] tun. Aber auch hier waren die Verhältnisse mächtiger als der Wille der Staatsmänner; auch Sparta hatte keine Wahl mehr, sondern sah sich gezwungen, den Kampf bis zum letzten Ende durchzukämpfen. Jetzt lag die Entscheidung über die zukünftige Gestaltung von Hellas in seinen Händen. Daß damit Sparta vor Aufgaben gestellt war, vor denen es bisher immer zurückgescheut war, wußte es sehr wohl. Nach dem Programm des Partikularismus sollte man jetzt einfach die Weltgeschichte um ein Jahrhundert zurückschrauben und jeden Staat, ob groß oder klein, sich selbst überlassen. Das war eine Utopie, die ins Werk zu setzen Sparta weder versuchen durfte noch wollte; denn seine Vorherrschaft wollte es unter allen Umständen behaupten und damit zugleich die Pflichten erfüllen, die ihm gegen ganz Hellas auferlegt waren. Nun mußte sich zeigen, ob es seine Ehre wahren könne, indem es seine Suprematie behauptete, ohne das Programm mit Füßen zu treten, in dessen Namen es das Schwert gezogen und die Verbündeten sowie die Untertanen Athens um sich geschart hatte2.

Aber in dem Moment, wo der Entscheidungskampf in Griechenland begann, stand die Hellenenwelt nicht mehr allein. Die Nationalfeinde, die beiden großen orientalischen Staaten im Osten und im Westen, die auf den Schlachtfeldern von Salamis, Himera, Platää definitiv abgewehrt schienen, die dann siebzig Jahre lang keinen Angriff, ja selbst kaum eine Abwehr gewagt hatten, sie erschienen in dem Moment, wo die griechische Großmacht, die bisher Hellas beschirmt hatte, dem Untergang entgegenging, von [3] neuem auf dem Plan. Die alte Allianz zwischen beiden Mächten war längst inhaltlos geworden; indem sie jetzt ihren Anteil an der Beute in Sicherheit zu bringen suchten, wirkten sie auf die Weltlage in entgegengesetzter Richtung. Karthago streckte die Hände aufs neue nach Sizilien aus, zog dadurch die sizilischen Griechen vom Kriege gegen Athen ab und befreite dies von einem sehr energischen Gegner. Persien dagegen war durch das Streben, zunächst die asiatischen Küstenlande wieder zu erhalten, womöglich aber die Suprematie auch über die griechische Halbinsel zu gewinnen, auf den Bund mit Sparta und dem Partikularismus angewiesen. Erst dadurch kam der griechische Krieg zur Entscheidung: solange Persien, um Sparta nicht zu mächtig werden zu lassen, ihn nur lau betrieb, konnte Athen sich immer noch gegen die Alliierten behaupten; als es diesen seine Geldmittel in reicher Fülle zur Verfügung stellte, brach Athens Widerstandskraft zusammen. So fiel der Hauptgewinn des Krieges nicht Sparta und seinen griechischen Verbündeten zu, sondern dem Perserreich, so gering die Anstrengungen waren, die dies gemacht hatte. Denn das Reich war tatsächlich überhaupt nicht ernstlich in Aktion getreten; lediglich die Satrapen der Küstenprovinzen hatten den Krieg geführt, der König hatte nur Geld hergegeben. Athen war, das mußten auch seine Feinde anerkennen, so sehr sie die von ihm ergriffenen Mittel verdammen mochten, das Bollwerk von Hellas gegen Persien gewesen. Dies Bollwerk hatte Sparta niedergerissen; es war der dunkelste Flecken auf seiner Politik, daß es zu dem Zweck nicht nur den Bund mit dem Nationalfeind geschlossen, sondern auch seinen Anspruch auf die Herrschaft über die Griechen in Asien anerkannt hatte. Sollte es jetzt, wie Alkibiades und Tissaphernes vorausgesagt hatten, sein Wort brechen und zu den fast unlösbaren Aufgaben, die ihm in Griechenland gestellt waren, noch die weit größere Aufgabe auf seine Schultern nehmen, deren Lösung die Nation von der führenden Macht fordern durfte? Aber auch wenn es sich dazu nicht entschließen wollte, mußte, da die Ansprüche sich nun einmal kreuzten, das Verhältnis zu Persien alsbald zu Verwickelungen führen, denen man in Sparta nur mit schwerer Sorge entgegensehen konnte.

[4] Indessen wie die Dinge im Moment des Sieges sich gestaltet hatten, lag die Entscheidung über die spartanische Politik tatsächlich überhaupt nicht in Sparta. Übermächtig hatte sich dem siegreichen Staat der Mann zur Seite gestellt, der es weniger durch seine Feldherrntüchtigkeit als durch sein diplomatisches Geschick verstanden hatte, ihm den Sieg zu verschaffen. Indem der spartanische Staat gezwungen war, neue politische Bahnen einzuschlagen, wurde auch er dem dominierenden Element der modernen Welt und der modernen Politik untertan. Wie in Athen Alkibiades dem Staate als selbständige Macht gegenüberstand, wie auf Sizilien eben jetzt Dionysios Aufgaben löste, welche die Republiken zu lösen nicht vermochten, so gelangte auch in Sparta durch Lysander die Persönlichkeit mit ihren Sonderinteressen zu maßgebender Bedeutung. Es war die nächste Frage, welche die weitere Entwicklung beantworten mußte, ob die siegreiche Bürgerschaft wirklich den Gewinn aus dem Siege werde davontragen können, oder ob sie sich werde begnügen müssen, den Namen herzugeben für die Aufrichtung der Herrschaft Lysanders über Hellas.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 1-5.
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