Das für den gemeinsamen Plan oder die Verschwörung geltende Recht.

[250] Aus der vorangehenden Darstellung der auf den Angriffskrieg bezüglichen Tatsachen geht deutlich hervor, daß die Planung und die Vorbereitung in jedem Stadium der Entwicklung auf höchst systematische Weise durchgeführt worden sind.

Planung und Vorbereitung sind wesentliche Erfordernisse der Kriegführung. Nach Ansicht des Gerichtshofes ist der Angriffskrieg nach Völkerrecht ein Verbrechen. Die Begriffsbestimmung dieses Verbrechens im Statut lautet: »Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen«. Die Anklage schließt sich dieser Unterscheidung an. Anklagepunkt eins erhebt die Beschuldigung des gemeinsamen Planes oder der Verschwörung. Anklagepunkt zwei erhebt die Beschuldigung des Kriegsplanes und der Kriegführung. Zur Unterstützung dieser beiden Anklagepunkte ist dasselbe Beweismaterial vorgelegt worden. Wir werden deshalb die beiden Anklagepunkte gemeinsam behandeln, da sie ihrem Wesen nach gleich sind. Die Angeklagten sind nach beiden Anklagepunkten beschuldigt worden und ihre Schuld muß zu jedem Anklagepunkt bestimmt werden.

[250] Der »gemeinsame Plan oder die Verschwörung« der Anklageschrift erstreckt sich über einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren, von der Begründung der Nazi-Partei im Jahre 1919 bis zum Ende des Krieges im Jahre 1945. Die Partei wird als »Bindeglied zwischen den Angeklagten« zur Durchführung der Zwecke der Verschwörung bezeichnet, nämlich: Die Beseitigung des Versailler Vertrages; der Erwerb des von Deutschland im letzten Krieg verlorenen Gebietes und des »Lebensraums« in Europa, und zwar, wenn nötig mit Waffengewalt, durch einen Angriffskrieg. Die Machtergreifung durch die Nazis, die Anwendung des Terrors, die Vernichtung der Gewerkschaften, der Feldzug gegen den christlichen Unterricht und die Kirchen, die Verfolgung von Juden, die Militarisierung der Jugend – das alles wird als eine Reihe wohlerwogener Schritte zur Durchführung des gemeinsamen Planes bezeichnet. Das kam zum Ausdruck, wie behauptet wird: In geheimer Aufrüstung, in dem Ausscheiden Deutschlands aus der Abrüstungskonferenz und dem Völkerbund, in der allgemeinen Wehrpflicht und in der Besetzung des Rheinlandes. Schließlich wurden nach der Anklageschrift Angriffshandlungen gegen Österreich und die Tschechoslowakei in den Jahren 1936 bis 1938 geplant und durchgeführt; dar auf folgten die Kriegsplanung und die Kriegsführung gegen Polen und dann nacheinander gegen zehn andere Länder.

Die Anklagebehörde sagt dem Sinne nach, daß jede bedeutsame Beteiligung an den Angelegenheiten der Nazipartei oder der Regierung einen Beweis für die Beteiligung an einer an und für sich schon verbrecherischen Verschwörung darstelle. Der Begriff der Verschwörung ist im Statut nicht definiert. Doch muß nach Ansicht des Gerichtshofes die Verschwörung in Bezug auf ihre verbrecherischen Absichten deutlich gekennzeichnet sein. Sie darf vom Entschluß und von der Tat zeitlich nicht zu weit entfernt sein. Soll das Planen als verbrecherisch bezeichnet werden, so kann das nicht allein von den in einem Parteiprogramm enthaltenen Erklärungen abhängen, wie sie in den im Jahre 1920 verkündeten 25 Punkten der Nazi-Partei zu finden sind, und auch nicht von den in späteren Jahren in »Mein Kampf« enthaltenen politischen Meinungsäußerungen. Der Gerichtshof muß untersuchen, ob ein konkreter Plan zur Kriegführung bestand, und bestimmen, wer an diesem konkreten Plan teilgenommen hat.

Es ist nicht notwendig zu entscheiden, ob durch das Beweismaterial das Bestehen einer einzigen Hauptverschwörung unter den Angeklagten erwiesen worden ist. Die Machtergreifung durch die Nazi-Partei und die darauffolgende Beherrschung aller Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens durch den Nazi-Staat muß selbstverständlich bei der Prüfung der späteren Kriegspläne in Betracht gezogen werden.

[251] Daß bereits am 5. November 1937 und wahrscheinlich noch früher, Kriegspläne geschmiedet wurden, liegt klar zutage. Und daran anschließend wurden solche Vorbereitungen nach vielen Richtungen hin fortgesetzt, und zwar gegen viele friedliche Länder. In der Tat bildete die Kriegsdrohung – und nötigenfalls der Krieg selbst – einen wesentlichen Bestandteil der Nazi-Politik. Aus der Beweisführung geht jedoch mit Bestimmtheit eher das Bestehen vieler einzelner Pläne hervor, als eine einzige alle solche Pläne umfassende Verschwörung. Daß Deutschland von dem Augenblick an, da die Nazis die Macht ergriffen, der vollständigen Diktatur entgegeneilte, und sich ständig in Richtung auf den Krieg zu bewegte, geht überwältigend aus der systematischen Reihenfolge von Angriffshandlungen und Kriegen hervor, die in diesem Urteil bereits angeführt worden sind.

Nach Ansicht des Gerichtshofes ist das gemeinsame Planen zur Kriegsvorbereitung und zur Kriegsführung in Bezug auf bestimmte Angeklagte durch die Beweisführung erwiesen. Es erübrigt sich zu erwägen, ob eine einzige Verschwörung in dem Ausmaße und während des Zeitraumes, wie sie die Anklageschrift darlegt, schlüssig bewiesen worden ist. Ein fortgesetztes Planen, das den Angriffskrieg zum Ziel hatte, ist über jeden Zweifel hinaus erwiesen worden. Die wahre Lage wurde von Paul Schmidt, dem amtlichen Dolmetscher des deutschen Auswärtigen Amtes, wie folgt treffend geschildert:

»Die allgemeinen Ziele der Nazi-Führung waren von Anfang an augenscheinlich, nämlich die Beherrschung des europäischen Festlandes. Dies sollte erreicht werden, erstens durch die Einverleibung aller deutschsprechenden Gruppen ins Reich, und zweitens durch territoriale Ausdehnung unter dem Schlagwort 'Lebensraum'. Die Durchführung dieser grundlegenden Ziele machte jedoch den Eindruck einer Improvisation. Jeder Schritt erfolgte, wie es den Anschein hatte, jeweils beim Auftauchen einer neuen Sachlage; aber sie waren alle im Einklang mit dem oben erwähnten Endziel.«

Das Argument, daß ein solch gemeinsames Planen in einer vollständigen Diktatur unmöglich sei, ist nicht stichhaltig. Ein Plan, an dessen Durchführung eine Anzahl von Personen teilnimmt, bleibt ein Plan, auch wenn er im Gehirn nur einer dieser Personen entstanden ist; und diejenigen, die den Plan ausführen, können ihrer Verantwortlichkeit nicht dadurch entgehen, daß sie nachweisen, sie hätten unter der Leitung des Mannes gehandelt, der den Plan entwarf. Hitler konnte keinen Angriffskrieg allein führen. Er benötigte die Mitarbeit von Staatsmännern, militärischen Führern, Diplomaten und Geschäftsleuten. Wenn diese seine Ziele kannten [252] und ihm ihre Mitarbeit gewährten, so machten sie sich zu Teilnehmern an dem von ihm ins Leben gerufenen Plan. Wenn sie wußten was sie taten, so können sie nicht als unschuldig erachtet werden, weil Hitler sie benutzte. Daß ihnen ihre Aufgaben von einem Diktator zugewiesen wurden, spricht sie von der Verantwortlichkeit für ihre Handlungen nicht frei. Das Verhältnis zwischen Führer und Geführten schließt Verantwortlichkeit ebensowenig aus, wie bei dem vergleichbaren Tyrannen Verhältnis, wenn es sich um organisierte innerstaatliche Verbrechen handelt.

Unter Anklagepunkt eins fällt jedoch nicht nur die Verschwörung zum Zwecke der Vornahme von Angriffskriegen, sondern auch die Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Abgesehen jedoch von der Verschwörung zur Durchführung von Angriffskriegen, bezeichnet das Statut keinerlei Verschwörung als besonderes Verbrechen. Artikel 6 des Statuts sieht vor:

»Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teil genommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.«

Nach Ansicht des Gerichtshofes fügen diese Worte den bereits aufgezählten Verbrechen kein neues, besonderes Verbrechen hinzu. Die Worte sind dazu bestimmt, die Verantwortlichkeit derjenigen Personen zu bezeichnen, die an einem gemeinsamen Plan teilnehmen. Der Gerichtshof wird daher die im Anklagepunkt eins enthaltenen Anschuldigungen, daß die Angeklagten an einer Verschwörung beteiligt waren, um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität zu begehen, außer Acht lassen und lediglich den gemeinsamen Plan, Angriffskriege vorzubereiten, einzuleiten und durchzuführen, in Betracht ziehen.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 250-253.
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