Ermordung und Mißhandlung von Kriegsgefangenen.

[255] Artikel 6b des Statuts bestimmt den Begriff des Kriegsverbrechens folgendermaßen:

»Kriegsverbrechen: nämlich Verletzungen der Kriegsrechte oder Gebräuche.

Solche Verletzungen umfassen, ohne darauf beschränkt zu sein, Mord, Mißhandlungen oder Verschleppung der entweder aus einem besetzten Gebiet stammenden oder dort befindlichen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit oder zu irgendeinem anderen Zwecke; Ermordung oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See; Tötung von Geiseln; Raub öffentlichen oder privaten Eigentums; mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten und Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung.«

Im Verlauf des Krieges wurden zahlreiche alliierte Soldaten, die sich den Deutschen ergeben hatten, sofort erschossen; häufig als Folge einer vorsätzlichen, berechneten Politik. Am 18. Oktober 1942 setzte der Angeklagte Keitel eine von Hitler gebilligte Anordnung in Umlauf, die befahl, daß alle Angehörigen von alliierten »Kommando-Trupps«, häufig in Uniform und bewaffnet oder unbewaffnet, bis »zum letzten Mann niedergemacht« werden sollten, selbst wenn sie sich zu ergeben versuchten. Es wurde ferner bestimmt, daß, falls solche alliierte Trupps nach vorheriger Festnahme durch die Ortspolizei, oder auf irgendeine andere Weise, in die Hände der militärischen Behörden fielen, sie sofort dem SD ausgeliefert werden sollten. Dieser Befehl wurde von Zeit zu Zeit ergänzt und war bis zum Ende des Krieges in Kraft, obgleich es nach den alliierten Landungen in der Normandie 1944 klargestellt wurde, daß der Befehl nicht auf die innerhalb des unmittelbaren Gefechtsbereichs gefangenen »Kommandos« anzuwenden sei. Auf Grund der Vorschriften dieses Befehls erlitten alliierte »Kommando-Trupps« und andere, unabhängig operierende militärische Einheiten in Norwegen, Frankreich, in der Tschechoslowakei und in Italien den Tod. Viele von ihnen wurden an Ort und Stelle getötet, und in keinem Falle wurde denen, die später im Konzentrationslager hingerichtet wurden, jemals ein Gerichtsverfahren irgendwelcher Art gewährt. [255] Zum Beispiel wurde eine amerikanische 12 bis 15 Mann starke und Uniform tragende Militärmission, welche im Januar 1945 hinter der deutschen Front im Balkan landete, auf Grund der Bestimmungen dieses Befehls nach Mauthausen gebracht, und nach dem Affidavit von Adolf Zutter, dem Adjutanten des Mauthausener Konzentrationslagers, wurden alle erschossen.

Im März 1944 erließ das OKH den »Kugel-Erlaß«, der verfügte, daß jeder entflohene kriegsgefangene Offizier und Unteroffizier, der nicht zur Arbeit eingesetzt worden war, mit Ausnahme von englischen und amerikanischen Kriegsgefangenen, im Falle seiner Wiederergreifung der Sipo und dem SD ausgeliefert werden sollte. Dieser Befehl wurde von der Sipo und dem SD an ihre örtlichen Dienststellen verteilt. Diese entflohenen Offiziere und Unteroffiziere sollten nach dem Konzentrationslager Mauthausen gebracht werden, um bei der Ankunft durch Genickschuß hingerichtet zu werden.

Im März 1944 wurden auf direkten Befehl Hitlers 50 Offiziere der Königlich-Britischen Luftstreitkräfte, die aus dem Lager Sagan, wo sie in Gefangenschaft waren, flüchteten, bei der Wiedergefangennahme erschossen. Ihre Leichen wurden sofort verbrannt und die Urnen mit ihrer Asche wurden ins Lager zurückgeschickt. Es wurde von den Angeklagten nicht bestritten, daß dies nichts anderes als klarer Mord unter völligem Bruch des Völkerrechts darstellte.

Wenn alliierte Flieger zur Landung in Deutschland gezwungen waren, wurden sie manchmal sofort von der Zivilbevölkerung getötet. Die Polizei hatte Weisung, sich in diese Tötungen nicht einzumischen, und das Justizministerium wurde benachrichtigt, daß niemand wegen Teilnahme daran unter Anklage zu stellen sei.

Die Behandlung von Sowjet-Kriegsgefangenen war durch ganz besondere Unmenschlichkeit charakterisiert. Nicht allein die Handlungsweise einzelner Wachen oder die Folgen der Zustände im Lager waren schuld an dem Tod so vieler von ihnen. Es war die Folge systematischer Mordpläne. Mehr als einen Monat vor dem deutschen Einfall in die Sowjetunion entwarf das OKW besondere Pläne zur Behandlung politischer, beim Sowjet-Heer diensttuender Vertreter, die in Gefangenschaft geraten sollten. Ein Vorschlag war, »daß politische Kommissare des Heeres nicht als Kriegsgefangene anzuerkennen und spätestens im Durchgangsgefangenenlager zu beseitigen sind«. Der Angeklagte Keitel sagte aus, daß Anweisungen, die diesen Vorschlag enthielten, an die deutsche Armee ausgegeben wurden.

Am 8. September 1941 wurden Vorschriften zur Behandlung von Sowjet-Kriegsgefangenen in allen Kriegsgefangenenlagern erlassen, die von General Reinecke, dem Chef der Abteilung Kriegsgefangene[256] des Oberkommandos, unterzeichnet waren. Diese Befehle führten aus:

»Dadurch hat der bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren.... Rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit, insbesondere gegenüber bolschewistischen Hetzern, ist daher zu befehlen. Widersetzlichkeit, aktiver oder passiver Widerstand muß sofort mit der Waffe (Bajonett, Kolben und Schußwaffe) restlos beseitigt werden... Wer zur Durchsetzung eines gegebenen Befehls nicht, oder nicht energisch genug von der Waffe Gebrauch macht, macht sich strafbar. Auf flüchtige Kriegsgefangene ist sofort ohne vorherigen Haltruf zu schießen. Schreckschüsse dürfen niemals abgegeben werden... Waffengebrauch gegenüber Sowjet-Kriegsgefangenen gilt in der Regel als rechtsmäßig.«

Die Sowjet-Kriegsgefangenen erhielten keine ausreichende Kleidung. Die Verwundeten erhielten keine ärztliche Behandlung; man ließ sie hungern und in vielen Fällen sterben.

Am 17. Juli 1941 erließ die Gestapo einen Befehl, der die Tötung aller Sowjet-Kriegsgefangenen, die dem Nationalsozialismus gefährlich waren oder sein könnten, anordnete. Der Befehl lautete:

»Aufgabe der Kommandos (des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD) ist die politische Überprüfung aller Lagerinsassen und die Aussonderung und weitere Behandlung (a) der in politischer, krimineller oder in sonstiger Hinsicht untragbaren Elemente unter diesen, (b) jener Personen, die für den Wiederaufbau der besetzten Gebiete verwendet werden können... Weiter haben die Kommandos von Anfang an bemüht zu sein, unter den Gefangenen auch die zuverlässig erscheinenden Elemente, und zwar gleichgültig, ob es sich dabei um Kommunisten handelt oder nicht, herauszusuchen, um sie für ihre nachrichtendienstlichen Zwecke innerhalb des Lagers und, wenn vertretbar, später auch in den besetzten Gebieten dienstbar zu machen. Es muß gelingen, durch Einsatz solcher V-Personen und unter Ausnutzung aller sonst vorhandenen Möglichkeiten zunächst unter den Gefangenen alle auszuscheidenden Elemente Zug um Zug zu ermitteln...

Vor allem gilt es ausfindig zu machen: alle bedeutenden Funktionäre des Staates und der Partei, insbesondere Berufsrevolutionäre... Alle ehemaligen Polit-Kommissare in der Roten Armee, die leitenden Persönlichkeiten der Zentral- und Mittelinstanzen bei den staatlichen Behörden.... die sowjetischen Intelligenzler, alle Juden, alle Personen, die als Aufwiegler oder fanatische Kommunisten festgestellt werden.... Exekutionen [257] dürfen nicht im Lager oder unmittelbarer Umgebung des Lagers durchgeführt werden...... So sind die Gefangenen zur Sonderbehandlung möglichst auf ehemals sowjetisches Gebiet zu verbringen.«

Das Affidavit von Warlimont, dem stellvertretenden Stabschef der Wehrmacht, und das Zeugnis von Ohlendorf, dem früheren Chef vom Amt III des RSHA, und von Lahousen, dem Leiter einer der Abteilungen der Abwehr, dem Spionagedienst der Wehrmacht, alle bezeugen die Gründlichkeit, mit der dieser Befehl ausgeführt wurde.

Das Affidavit von Kurt Lindow, einem früheren Gestapo-Beamten, besagt:

».... In den Kriegsgefangenenlagern der Ostfront bestanden kleinere Einsatzkommandos, die von Angehörigen (Unterbeamten) der Geheimen Staatspolizei geleitet wurden. Diese Kommandos waren den Lagerkommandanten zugeteilt und hatten die Aufgabe, die Kriegsgefangenen, die für eine Exekution gemäß den ergangenen Befehlen in Frage kamen, auszusondern und dem Geheimen Staatspolizeiamt zu melden.«

Am 23. Oktober 1941 sandte der Lagerkommandant des Konzentrationslagers Groß-Rosen an Müller, den Chef der Gestapo, ein Verzeichnis der dort am vorhergehenden Tag hingerichteten Sowjet-Kriegsgefangenen.

Ein Bericht über die allgemeinen Lebensbedingungen und die Behandlung von Sowjet-Kriegsgefangenen während der ersten acht Monate nach dem deutschen Angriff auf Rußland war in einem Schreiben enthalten, das der Angeklagte Rosenberg am 28. Februar 1942 an den Angeklagten Keitel richtete:

»Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland ist im Gegenteil eine Tragödie größten Ausmaßes... Ein großer Teil von ihnen ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen. Tausende sind auch dem Fleckfieber erlegen...

In der Mehrzahl der Fälle haben jedoch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und sie lieber dem Hungertode ausgeliefert...

In vielen Fällen, in denen Kriegsgefangene auf dem Marsch vor Hunger und Erschöpfung nicht mehr mitkommen konnten, wurden sie vor den Augen der entsetzten Zivilbevölkerung erschossen und die Leichen liegen gelassen.

In zahlreichen Lagern wurde für eine Unterkunft der Kriegsgefangenen überhaupt nicht gesorgt. Bei Regen und Schnee lagen sie unter freiem Himmel. Ja, es wurde ihnen nicht einmal [258] »das Gerät zur Verfügung gestellt, um sich Erdlöcher oder Höhlen zu graben.«

In einigen Fällen wurden Sowjet-Kriegsgefangene mit einem besonderen dauerhaften Merkmal gebrandmarkt. Der OKW-Befehl vom 20. Juli 1942 wurde als Beweis vorgelegt; derselbe ordnet an:

»Das Merkmal besteht in einem nach unten geöffneten spitzen Winkel von etwa 45 Grad und ein Zentimeter Schenkellänge auf der linken Gesäßhälfte... Es ist mit Lanzetten, wie sie bei jeder Truppe vorhanden sind, auszuführen. Als Farbstoff ist chinesische Tusche zu verwenden.«

Die Militärbehörden waren für die Durchführung dieses Befehls verantwortlich, obwohl er in weitem Maße vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD an deutsche Polizeibeamte zwecks Kenntnisnahme verteilt wurde.

Außerdem wurden Sowjet-Kriegsgefangene zum Gegenstand medizinischer Versuche grausamster und unmenschlichster Art gemacht. Im Juli 1943 wurden Versuche zur Vorbereitung eines bakteriologischen Feldzuges begonnen; Sowjetgefangene wurden zu diesen medizinischen Versuchen verwendet; in der Mehrzahl der Fälle hatten diese den Tod zur Folge. Im Zusammenhang mit diesem bakteriologischen Feldzuge wurden auch Vorbereitungen für das Ausstreuen einer Bakterienemulsion von 88 Flugzeugen aus getroffen, mit dem Zweck, ausgedehnte Fehlernten und eine daraus folgende Hungersnot zu erzielen. Diese Maßnahmen kamen nie zur Anwendung, möglicherweise wegen der schnellen Verschlechterung der militärischen Lage Deutschlands.

Der zur Verteidigung gegen die Anschuldigung des Mordes und der Mißhandlung von Sowjet-Kriegsgefangenen angeführte Grund, nämlich, daß die USSR die Genfer Konvention nicht unterschrieben hatte, entbehrt jeglicher Grundlage. Am 15. September 1941 protestierte Admiral Canaris gegen die Anweisungen für die Behandlung von Sowjet-Kriegsgefangenen, die von General Reinecke am 8. September 1941 unterzeichnet worden waren. Damals erklärte er:

»Das Genfer Kriegsgefangenenabkommen gilt zwischen Deutschland und der USSR nicht, daher gelten lediglich die Grundsätze des allgemeinen Völkerrechtes über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Diese haben sich seit dem 18. Jahrhundert dahin gefestigt, daß die Kriegsgefangenenschaft weder Rache noch Strafe ist, sondern lediglich Sicherheitshaft, deren einziger Zweck es ist, die Kriegsgefangenen an der weiteren Teilnahme am Kampf zu verhindern. Dieser Grundsatz hat sich im Zusammenhang mit der bei allen Heeren geltenden Anschauung dahin entwickelt, daß es der militärischen Auffassung widerspricht, [259] Wehrlose zu töten oder zu verletzen... Die als Anlage 1 beigefügten Anordnungen für die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener gehen von einer grundsätzlichen anderen Auffassung aus.«

Dieser Protest, der die rechtliche Lage richtig wiedergab, wurde nicht beachtet. Der Angeklagte Keitel machte zu dieser Denkschrift eine Notiz:

»Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg. Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung. Deshalb billige ich diese Maßnahmen und decke sie.«


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 255-260.
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