Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

[657] Das gegen Speer nach den Anklagepunkten Drei und Vier vorgebrachte Beweismaterial bezieht sich zur Gänze auf seine Teilnahme am Zwangarbeiterprogramm. Speer hatte keine unmittelbare verwaltungsmäßige Verantwortlichkeit für dieses Programm. Obwohl er die Ernennung eines Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz befürwortet hatte, weil er eine zentrale Behörde wünschte, mit der er Arbeitsfragen behandeln konnte, erlangte er doch nicht verwaltungsmäßige Kontrolle über Sauckel. Sauckel wurde unmittelbar von Hitler mit Erlaß vom 21. März 1942 ernannt, welcher vorsah, daß er Göring als dem Beauftragten für den Vierjahresplan unmittelbar verantwortlich war.

Als Reichsminister für Bewaffnung und Munition und Generalbevollmächtigter für Bewaffnung unter dem Vierjahresplan verfügte Speer über weitgehende Vollmachten auf dem Gebiete der Produktion. Seine ursprüngliche Vollmacht erstreckte sich auf die Konstruktion und die Erzeugung von Waffen für das OKH. Diese wurde nach und nach ausgedehnt, so daß sie Marinerüstung, zivile Produktion und endlich, am 1. August 1944, auch die Luftrüstung einschloß. Als das führende Mitglied der Zentralen Planung, welche oberste Gewalt über die Ausrichtung der deutschen Produktion und die Zuteilung und Entwicklung von Rohstoffen hatte, vertrat Speer die Ansicht, daß der Ausschuß befugt war, Anweisungen an Sauckel zu erteilen, Arbeitskräfte für die seiner Kontrolle unterstehenden Industrien herbeizuschaffen; und es gelang ihm, diese Haltung trotz der Einwände Sauckels zu befestigen. Es entwickelte sich nun die Übung, daß Speer an Sauckel eine Schätzung der Gesamtzahl des Bedarfs an Arbeitern übermittelte, Sauckel die Arbeitskräfte herbeischaffte und sie den verschiedenen Industrien zuteilte im Einklang mit Anweisungen, die ihm von Speer erteilt wurden.

Wenn Speer seine Anforderungen an Sauckel stellte, so wußte er, daß sie mit Fremdarbeitern, die unter Zwang dienten, erfüllt werden würden. Er nahm an Sitzungen teil, auf deren Tagesordnung die Ausdehnung des Zwangsarbeiterprogramms zum Zwecke der Befriedigung seiner Anforderungen stand. Er war bei einer Besprechung mit Hitler und Sauckel anwesend, die während der Zeit vom 10. bis 12. August 1942 stattfand und auf der man sich dahin einigte, daß Sauckel mit Gewalt Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten beibringen sollte, wo immer dies nötig war, um den Arbeitermangel der unter der Kontrolle Speers stehenden Industrien zu beheben. Speer war auch auf der Konferenz in Hitlers Hauptquartier am 4. Januar 1944, wobei die Entscheidung getroffen wurde, daß Sauckel »mindestens vier Millionen neue Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten« herbeischaffen sollte, um das von Speer gestellte Verlangen nach Arbeitskräften zu befriedigen, obwohl [658] Sauckel feststellte, daß er dies nur mit Hilfe Himmlers tun könne (1292-PS, US-225).

Sauckel informierte Speer und seine Stellvertreter fortlaufend, daß Fremdarbeiter mit Gewalt herangezogen werden. Bei einer Sitzung am 1. März 1944 befragte Speers Stellvertreter Sauckel sehr eingehend über seine Nichterfüllung der Verpflichtung, vier Millionen Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten herbeizuschaffen. In einigen Fällen verlangte Speer Arbeitskräfte aus bestimmten fremden Ländern. So wurde Sauckel auf der Konferenz vom 10. bis 12. August 1942 angewiesen, Speer »eine weitere Million russischer Arbeitskräfte für die deutsche Rüstungsindustrie bis einschließlich Oktober 1942« zu verschaffen (R-124, US-179). Bei einer Sitzung der Zentralen Planung am 22. April 1943 erörterte Speer Pläne, russische Arbeitskräfte für die Kohlengruben zu bekommen und sprach sich glatt gegen den Vorschlag aus, daß dieser Arbeitermangel von deutschen Arbeitern aufgefüllt werden sollte.

Speer brachte vor, daß er die Reorganisation des Arbeitsprogramms befürwortete, um mehr Wert auf die Verwendung deutscher Arbeitskräfte im Kriegseinsatz in Deutschland zu legen und auf die Verwendung von Arbeitskräften in besetzten Ländern zur Erzeugung von Verbrauchsgütern, die früher in Deutschland erzeugt worden waren.47 Speer unternahm Schritte in dieser Richtung, indem er die sogenannten »Sperrbetriebe« in den besetzten Gebieten errichtete, die dazu benutzt wurden, waren für den Versand nach Deutschland zu erzeugen. Beschäftigte die ser Betriebe waren gefeit gegen die Verschickung nach Deutschland, und jeder Arbeiter, der den Befehl bekam, nach Deutschland zu gehen, konnte die Deportation vermeiden, wenn er in einem Sperrbetrieb zur Arbeit ging. Dieses System, obwohl etwas weniger unmenschlich als die Verschickung nach Deutschland, war dennoch ungesetzlich.48 Das System der Sperrbetriebe spielte nur eine kleine Rolle in dem großen Zwangsarbeiterprogramm, und dennoch drängte Speer auf Zusammenarbeit mit dem Zwangsarbeiterprogramm, da er wußte, auf welche Art und Weise es tatsächlich gehandhabt wurde.49 In einem offiziellen Sinn war er dessen hauptsächlichster Nutznießer, und er drängte fortwährend auf dessen Ausdehnung.

Auch als Chef der Organisation Todt war Speer unmittelbar an der Verwendung von Zwangsarbeitern beteiligt. Die Organisation [659] Todt betätigte sich hauptsächlich in den besetzten Gebieten an solchen Projekten wie dem Atlantikwall und dem Bau von Militärstraßen, und Speer hat zugegeben, daß er sich auf Zwangsarbeit verließ, um diese, mit den erforderlichen Arbeitskräften versehen, zu halten. Auch verwandte er Arbeitskräfte aus den Konzentrationslagern in den Industrien, die seiner Kontrolle unterstanden. Ursprünglich traf er Anstalten, um diese Arbeitsquelle zur Verwendung in kleinen, entlegenen Fabriken heranzuziehen; und später, aus Angst vor Himmlers Kompetenzehrgeiz, machte er den Versuch, so wenig Arbeiter wie möglich aus den Konzentrationslagern zu verwenden.

Auch war Speer an der Verwendung von Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie beteiligt, behauptet aber, daß er sowjetische Kriegsgefangene nur in den Industrien verwandte, die unter die Genfer Konvention fallen.

Die Stellung Speers war derart, daß er nicht unmittelbar mit den Grausamkeiten in der Durchführung des Zwangsarbeiterprogramms zu tun hatte, obschon er davon wußte. Beispielsweise wurde er bei Sitzungen der Zentralen Planung davon in Kenntnis gesetzt, daß seine Forderungen nach Arbeitskräften so groß waren, daß sie gewaltsame Werbungsmethoden notwendig machten. Bei einer Sitzung der Zentralen Planung am 30. Oktober 1942 gab Speer seiner Meinung Ausdruck, daß viele Zwangsarbeiter, die sich krank meldeten, Drückeberger seien und sagte: »SS und Polizei könnten hier ruhig hart zufassen und die Leute, die als Bummelanten bekannt sind, in KZ-Betriebe stecken.« Allerdings bestand Speer darauf, den Zwangsarbeitern angemessene Ernährung und Arbeitsbedingungen zu gewähren, so daß sie tüchtig50 arbeiten konnten.

Als mildernder Umstand muß anerkannt werden, daß Speers Errichtung von Sperrbetrieben viele Arbeiter zu Hause hielt, und daß er im Endstadium des Krieges einer der wenigen Männer war, die den Mut hatten, Hitler zu sagen, daß der Krieg verloren sei, und Schritte zu unternehmen, um – sowohl in den besetzten Gebieten als in Deutschland – die sinnlose Vernichtung von Produktionsstätten zu verhüten. Er führte seine Opposition zu Hitlers Politik der verbrannten Erde in einigen westlichen Ländern und in Deutschland durch, indem er diese unter beträchtlicher persönlicher Gefahr bewußt sabotierte.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 22, S. 657-660.
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