Sechster Abschnitt
Die spartanisch-kretische Agrarverfassung

[61] Zu Rückschlüssen auf das Agrarwesen der Vorzeit bleibt uns nach alledem nur noch das übrig, was wir von der Agrarverfassung selbst in historischer Zeit noch zu erkennen vermögen. – Da sehen wir denn in Sparta wie auf Kreta die Masse des ländlichen Grund und Bodens, soweit er im Eigentum der herrschenden Klasse stand, in Meierhöfe zerteilt, die von schollenpflichtigen Bauern bestellt wurden. Diese Hofstellen (κλῆροι »Lose«) bildeten geschlossene und unteilbare wirtschaftliche Einheiten. Für Kreta ist uns durch das Stadtrecht von Gortyn, also für das 5. Jahrhundert wenigstens soviel hinlänglich bezeugt, daß der Besitz der »Häusler« (fοικέες), deren Stellung der der spartanischen Heloten entsprach, nicht wie der übrige Nachlaß ihrer Herren der Teilung unter die Erben unterworfen werden konnte.184 Noch deutlicher ist diese Geschlossenheit der Hufen in Sparta erkennbar. Hier war der Ertrag, den die Helotenwirtschaften nach dem von Staats wegen festgesetzten Maßstab den Herren lieferten, für alle derselbe (82 Medimnen Gerste und[61] ein entsprechendes Maß von Öl, Obst und Wein),185 woraus sich mit Notwendigkeit ergibt, daß die Landlose nicht nur von annähernd gleicher, sondern auch von unveränderlicher Größe gewesen sein müssen. Nur so erklärt es sich auch, daß die innerhalb des spartanischen Herrenstandes schon früh hervortretende Tendenz zur Konzentrierung des Grundeigentums die alte auf der Selbständigkeit zahlreicher kleiner Betriebe beruhende Agrarverfassung offenbar wenig berührt hat. Das Eigentumsrecht an zahlreichen Helotenhufen mochte sich allmählich in einer Hand vereinigen, aber es entstanden dadurch, da das Verhältnis zwischen Herr und Bauer nicht einseitig von dem einzelnen geändert werden durfte, keine zusammenhängend bewirtschafteten Gutskomplexe. Die Landlose bestanden vielmehr als selbständige Betriebe fort, die nicht zu einer organischen Wirtschaftseinheit verbunden werden konnten. – Eine hübsche Anekdote erzählt von Lykurg, wie er einmal nach der Durchführung seines Ackergesetzes von einer Reise zurückkehrend durch die frisch abgeernteten Felder gekommen sei und beim Anblick der in regelmäßigen Reihen aufgeschichteten Getreideschober geäußert habe, Lakonien sehe aus wie das Eigentum von lauter Brüdern, die sich eben in ihr Erbe geteilt hätten.186 Das ist eine Legende, wie die Geschichte von der Lykurgischen Landaufteilung selbst. Allein sie enthält doch unverkennbar einen echten Kern. Es spiegelt sich in dieser angeblichen Äußerung des Gesetzgebers ohne Zweifel der Eindruck wider, der sich in der Tat dem Beobachter der Flurteilung und der durch letztere bedingten Formen der Ackerwirtschaft in der Gemarkung Spartas aufdrängen mußte.

Es liegt auf der Hand und ist auch von dem Urheber der genannten Erzählung ganz richtig herausgefühlt, daß diese Flurteilung nichts Naturwüchsiges, sondern künstlich gemacht war. Es leuchtet ferner ein, daß, wenn dieselbe geraume Zeit nach der Einnahme des Landes und nach einer längeren Epoche der Entwicklung und Ausbildung des Privateigentums am Grund und Boden hergestellt wurde, dies nur möglich war durch eine allgemeine Gütereinziehung und systematische Neuaufteilung des gesamten Agrarbesitzes: die denkbar radikalste sozialrevolutionäre Umwälzung, die von vornherein so sehr aller inneren Wahrscheinlichkeit[62] entbehrt, daß wir ihre Geschichtlichkeit nur auf Grund einer gut beglaubigten Tradition annehmen könnten. Wo hätten wir aber eine solche Tradition? Was die Lykurglegende von einer derartigen Umgestaltung der spartanischen Eigentumsordnung durch einen großen Gesetzgeber zu erzählen weiß, beruht überhaupt nicht auf Überlieferung, sondern verdankt seinen Ursprung ganz unverkennbar den sozialpolitischen Restaurationsbestrebungen und der diesen Bestrebungen dienenden Tendenzliteratur des 4. und 3. Jahrhunderts, die aus der Opposition gegen die gesellschaftlichen und staatlichen Mißstände des damaligen Sparta erwachsen ist. Wenn schon die Person des Gesetzgebers selbst angesichts der mythischen und hieratischen Elemente der Lykurgsage als eine geschichtliche kaum mehr zu erkennen ist, so kann noch weniger ein Zweifel darüber bestehen, daß das ihm zugeschriebene soziale Erlösungswerk nichts ist als ein Phantasiegebilde, welches nur eine vorbildliche Bedeutung hat, d.h. den Zeitgenossen im Spiegel der idealisierten Vergangenheit vorhält, was sie im Interesse einer Wiedergeburt von Staat und Gesellschaft zu tun hätten.187

So bleibt denn nach diesem negativen Ergebnis nur die andere Möglichkeit, daß nämlich die in geschichtlicher Zeit in der Gemarkung Spartas bestehende Flurteilung schon vollendet war, bevor der Grund und Boden in das Sondereigentum der einzelnen Familien des Herrenstandes, überging. – Damit fällt ein bedeutsames Licht auf die Entstehungsgeschichte der spartanischen Agrarverfassung. Wir sehen, wie das von den Spartiaten okkupierte Land, soweit es nicht im freien Eigentum der untertänig gewordenen Landesbevölkerung (der Periöken) oder für andere Zwecke vorbehalten blieb, von Staats wegen in ein System von Meierwirtschaften (κλῆροι) zerlegt wurde, wie die Größe derselben mit Rücksicht auf das Interesse der Landeskultur und den Bedarf für den Unterhalt der Gutshörigen und ihrer künftigen Herren genau reguliert ward, und wie dann die Höfe nebst ihrem lebenden Inventar unter die Mitglieder der Herrengemeinde zur Aufteilung kamen.

[63] Freilich sind wir mit der Feststellung dieser Tatsache auch schon an der Grenze unseres Wissens angelangt. Wir vermögen nicht zu erkennen, nach welchem Prinzip die ursprüngliche Verteilung der Landlose erfolgte, insbesondere ob dieselbe von Anfang an eine definitive war und sofort zur Entstehung von privatem Grundeigentum führte, oder ob das Land noch eine Zeitlang im Gesamteigentum der eingewanderten Dorer geblieben ist.

Zunächst ist ja wohl soviel klar, daß wir eine wirklich geschichtliche Überlieferung über diese Anfänge des Wirtschaftslebens nicht besitzen. Die Verhältnisse, die hier in Frage kommen, sind weit über ein halbes Jahrtausend älter als die ersten »Zeugen«, die man für sie anzuführen vermag, als Plato, der in den »Gesetzen« von den Gründern der Dorerstaaten Argos, Messenien und Lakonien zu erzählen weiß, daß sie die Aufteilung des okkupierten Landes an ihr Kriegsvolk auf dem Fuße einer gewissen Gleichheit (ἰσότης τις τῆς οὐσίας) vorgenommen hätten.188 Allerdings wird Plato eine derartige Tradition schon vorgefunden haben, allein dieselbe beruhte gewiß nicht auf historischen Erinnerungen, sondern auf bloßer Spekulation, die ja wahrscheinlich das Richtige getroffen hat, aber für die Entscheidung der Frage nicht mehr ins Gewicht fällt, wie etwa moderne Reflexionen über diese Dinge.189

Duncker hat diese Lücke durch Heranziehung von Analogien ausfüllen zu können geglaubt, indem er auf die Vorgänge bei zahlreichen anderen Kolonisationen hinwies: auf die germanischen Ansiedlungen im römischen Reiche, die Niederlassung der Normannen in England, deren Teilungskataster bekanntlich noch erhalten ist, auf die deutsche Kolonisation im Osten der Elbe, deren Teilungsmaß für die okkupierten Gemarkungen (große oder kleine Hufe) auf unseren Flurkarten ebenfalls noch erkennbar ist, auf das Verfahren der Konquistadoren, auf die Parzellen der Kolonisationen Friedrichs II. und die Landverkäufe der Vereinigten Staaten Nordamerikas.190 Duncker ist um so mehr der Ansicht, daß die dorischen Staatengründungen nach dieser Analogie beurteilt werden müßten, weil wir in der Tat nachweisen können, daß in geschichtlicher Zeit bei den Hellenen die Behandlung eroberter Gebiete eine ganz[64] ähnliche war, Ansiedlung und Landaufteilung miteinander Hand in Hand gingen. Schon das verhältnismäßig alte Lied von den Phäaken in der Odyssee weiß ja zu erzählen, wie bei der Begründung einer Niederlassung neben Mauer- und Hausbau die Aufteilung der Äcker die erste Handlung der Ansiedler war (VI 10).191 Die Argiver verjagen einen König, weil er ein den Arkadern abgenommenes Gebiet nicht aufgeteilt habe, und als sie (463) Mykenä zerstört, teilen sie dessen Landgebiet auf.192 Um zu bezeichnen, daß Arkadien seine Bevölkerung nicht gewechselt habe, d.h. es nicht erobert worden sei, sagt Strabo: »Die Arkader sind dem Lose nicht verfallen« (οὐκ ἐμπεπτώκασιν εἰς τὸν κλῆρον).193 Von derselben Praxis der Aufteilung neubesiedelter Gebiete durchs Los (κατακληρουχεῖν) zeugen die Bemerkungen Diodors (V 15, 81, 83, 84) über die Kolonisierung der Cykladen, von Tenedos, Lesbos, Sardinien, die Kleruchien Athens usw. Was Sparta selbst betrifft, so kann man auf die bekannte dem König Polydor in den Mund gelegte Äußerung hinweisen, der auf die Frage, warum er gegen die Brüder (die Messener) zu Felde ziehe, geantwortet haben soll: »Ich ziehe nur gegen das noch unvermessene Land.«194 Auch der Orakelspruch gehört hierher, den die Pythia den Spartanern in bezug auf die beabsichtigte Eroberung Arkadiens gegeben haben soll, und in dem es heißt, sie wolle ihnen geben die herrliche Flur, sie zu messen mit dem Maße der Leine.195

Duncker hat vollkommen recht, wenn er meint, daß dieser Spruch, wie jenes Königswort nur aus der Vorstellung heraus erfunden sein konnte, daß die Spartaner erobertes Land »nach der Schnur zu vermessen« und aufzuteilen pflegten.

Allein liegt in alledem ein zwingender Beweis dafür, daß schon bei der ersten Ansiedlung des dorischen Kriegsvolkes im Eurotastal mit dem Grund und Boden in jeder Hinsicht ebenso verfahren worden ist, wie bei den späteren Gebietserweiterungen Spartas? Wer die soziale Entwicklung Spartas nur aus einem ursprünglichen Agrarkommunismus begreifen zu können glaubt, wird mit Recht einwenden können, daß die angeführten Kolonisationen und Eroberungen solchen Zeiten angehören, in[65] denen das Institut des Privateigentums am Grund und Boden bereits vollkommen entwickelt und daher der Übergang neugewonnenen Landes in das Sondereigentum selbstverständlich war. Soweit sich auch diese Praxis der Landaufteilung zurückführen läßt, die Zeiten der ersten dorischen Staatengründungen liegen doch noch um Jahrhunderte weiter zurück,196 in deren Verlauf sich die wirtschaftlichen Anschauungen und Bedürfnisse wesentlich verändert haben können. Wenn Duncker meint, daß Ansiedlungen auf Grund von Eroberungen ohne Landteilung für die Eroberer undenkbar sind, so ist das insoferne richtig, als es sich um eine Auseinandersetzung, eine Abteilung mit der alten Landesbevölkerung handelt; auch eine neue Flurteilung zur Regelung des landwirtschaftlichen Betriebes auf der der letzteren abgenommenen Gemarkung muß, wie wir sahen, in Sparta als Folge der Okkupation angenommen werden. Wie aber die Zuteilung der Landlose an die einzelnen Familien des Herrenstandes geregelt wurde, bleibt für uns doch noch eine offene Frage. Wenn durch die Verlosung bei den späteren Landaufteilungen der Grund und Boden in den bleibenden Besitz der einzelnen überging, so braucht das keineswegs von Anfang an so gewesen zu sein. Es ist vielmehr wohl denkbar, daß eine so eng verbundene kriegerische Genossenschaft, wie die spartanische Herrengemeinde, welche die Notwendigkeit steter Kriegsbereitschaft ohnehin zu gewissen gemeinwirtschaftlichen Institutionen zwang, auch dem gemeinsam errungenen Landbesitz gegenüber an dem genossenschaftlichen Prinzip möglichst lange festgehalten hat. Wenn in diesen dorischen Herrenstaaten einerseits das Hauptmotiv des Eigentumsbedürfnisses, die persönliche Arbeit und der daraus entspringende Anspruch auf ausschließlichen Genuß ihres Ertrages von vornherein wegfiel und anderseits durch die unvermeidlichen Folgen des Privateigentums, durch Entfesselung des Erwerbstriebes und wirtschaftliche Ungleichheit die Lebensbedingungen des Staates besonders gefährdet werden mußten, so erscheint es immerhin möglich, daß in Sparta der Prozeß der Eigentumsbildung ähnlich wie bei den Dorern Liparas durch eine längere Periode der genossenschaftlichen Organisation des Agrarwesens hindurchgegangen ist, d.h. daß der ganze Komplex von Helotenhufen ursprünglich als Gesamteigentum der Gemeinde behandelt und demgemäß den einzelnen nur ein zeitweiliges Nutzungsrecht[66] an den »Losen« eingeräumt wurde. Auch dafür ließen sich, wie schon das Beispiel des dorischen Lipara bezeugt, leicht Analogien finden. Wenn Duncker für seine Annahme auf die privatwirtschaftlichen Formen hinweist, in denen sich in der Neuzeit die Besiedlung des amerikanischen Westens vollzieht, so könnte man mit demselben Recht für jene entgegengesetzte Auffassung die älteste Kolonisation Neuenglands anführen, die bekanntlich vielfach mit einem agrarischen Kommunismus verbunden war. Doch was ist mit solchen problematischen Analogien gedient, solange andere Anhaltspunkte fehlen?

Nun glaubt man ja allerdings eine Reihe von solchen Anhaltspunkten zu besitzen, welche jeden Zweifel daran ausschließen sollen, daß Spartas Agrarverfassung bis tief in die historische Zeit hinein auf dem Prinzip des Gesamteigentums beruhte, daß hier – wie man meint – der Staat allezeit ein Eigentumsrecht an den aufgeteilten Ackerlosen behauptet und die letzteren gewissermaßen als »Staatslehen« betrachtet habe, die er jeden Augenblick behufs einer Neuverteilung wieder einziehen könne.197

Für diese Ansicht beruft man sich vor allem darauf, daß als Gesamtname für den in den unmittelbaren Besitz der spartanischen Herrengemeinde übergegangenen Teil Lacedämons die Bezeichnung »πολιτκὴ χώρα« gebraucht wird,198 wodurch derselbe deutlich als ager publicus charakterisiert werde. Allein ist eine solche Erklärung notwendig oder auch nur wahrscheinlich? Es liegt absolut kein Grund zu der Annahme vor, daß man in Sparta das Gemeindeland nicht ebenso genannt haben sollte wie überall sonst, nämlich τὸ κοινόν, τὸ δημόσιον. Und warum soll πολιτικὴ χώρα etwas anderes bedeuten als das »Bürgerland«, d.h. das unter die Bürger aufgeteilte und dem für die Vollbürger geltenden Rechte unterworfene Land im Gegensatz zu dem Untertanenboden der Periökenbezirke?199 Was man im Hinblick auf die Verschiedenheit des Personen- und Güterrechts von dem römischen Italien gesagt hat, daß es gegenüber dem Provinzialboden als das eigentliche Bürgerheim und Bürgerland gegolten habe,200 das trifft ungleich mehr für die πολιτικὴ χώρα Lacedämons zu. Sie bildete mit ihrer von Staats wegen gesicherten Bestellung[67] durch eine unfreie Arbeiterschaft die Voraussetzung der ganzen bürgerlichen Existenz des Spartiatentums; sie war gewiß auch grundsätzlich der herrschenden Bürgerschaft vorbehalten, so daß kein Untertan ohne Eintritt ins Bürgerrecht in der Gemarkung, wo die »alten Landlose« (αἱ ἀρχαῖαι,201 αἱ ἀρχῆϑεν διατεταγμέ ναι μοῖραι)202 lagen, Grundeigentum erwerben konnte. Anderseits haben die gewohnheitsrechtlichen Normen, welche Erwerb und Veräußerung dieser Landlose regelten, bezw. beschränkten, naturgemäß auf die Grundeigentumsverhältnisse des Periökenlandes keine Anwendung gefunden.

Hat uns aber so der Begriff der πολιτικὴ χώρα nicht auf den der Allmende, sondern auf den Begriff eines spezifisch bürgerlichen, dem strengen bürgerlichen Recht unterworfenen Bodeneigentums im Unterschied von einem außerhalb dieses strengen Rechtes stehenden geführt, so drängt sich alsbald die weitere Frage auf: enthielt nicht eben die agrarische Gebundenheit dieses bürgerlichen Rechtes Momente genug, welche die Annahme eines wahren Eigentums an den Hufen des »Bürgerlandes« dennoch ausschließen?

Nun ist es ja allerdings richtig, daß auf einen Besitz, der weder veräußerlich, noch teilbar war203 und einer streng obligatorischen Erbfolge unterlag,204 der uns geläufig gewordene Begriff des Privateigentums nicht anwendbar ist. Sollten wir aber deswegen die genannte Frage bejahen? Gewiß nicht! Denn nur derjenige kann dem spartanischen Agrarbesitz der historischen Zeit den Charakter des Eigentums absprechen, der bewußt oder unbewußt von der naturrechtlichen Doktrin ausgeht, daß das Wesen des Eigentums in der Unbeschränktheit der Herrschaft des Eigentümers besteht, und daß daher jede Beschränkung desselben im Grunde einen Eingriff enthält, der der Idee des Instituts widerspricht.205 Ist aber[68] diese abstrakt-individualistische Auffassung des Eigentumsrechtes als einer absoluten Verfügungsgewalt nicht so ungeschichtlich wie möglich? Wenn es die Aufgabe des Rechtes ist, »die Lebensbedingungen der Gesellschaft in der Form des Zwanges zu sichern«,206 so kann es auch kein Eigentumsrecht geben, welches nicht durch die stete Rücksicht auf die Gesamtheit beeinflußt und gebunden wäre; und diese Rücksicht kann unter Umständen zu sehr weitgehenden Beschränkungen des einzelnen führen, ohne daß derselbe aufhört, Eigentümer zu sein.207

Auch die Eigentumsbeschränkungen des spartanischen Agrarrechtes haben keinen anderen Sinn als eben den, die Lebensbedingungen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu sichern. In diesem aristokratischen Ständestaat beruhte die Machtstellung der herrschenden Kaste ja durchaus auf dem Grundbesitz. Die Grundrente war für alle ihre Angehörigen die unentbehrliche Voraussetzung für die Behauptung eines standesgemäßen, von jeder Erwerbsarbeit befreiten Lebens, sowie für die Erfüllung ihrer staatlichen Pflichten. Die herrschende Klasse hatte daher das lebhafteste Interesse daran, den zu ihr gehörigen Familien ihren Besitz an liegenden Gütern möglichst zu sichern, was eben nur dadurch erreichbar war, daß man dem einzelnen in der freien Verfügung über[69] das Grundeigentum weitgehende Schranken auferlegte und dasselbe als ein familienweise geschlossenes zu erhalten suchte. Deshalb finden sich in Hellas unter der Herrschaft der alten aristokratischen Verfassungen ganz allgemein dieselben agrarischen Eigentumsbeschränkungen wie in Sparta.208 Wo die gesellschaftliche Ordnung noch überwiegend auf der Naturalwirtschaft beruht oder der Grundbesitz vorzugsweise den Mittelpunkt des Lebens ausmacht, da stellt sich eben von selbst ein starkes Bedürfnis ein, der Familie dies Lebensgut zu erhalten, auf das sich allein eine selbständige Existenz gründen ließ, dessen Verlust unter den Verhältnissen eines unentwickelten wirtschaftlichen und staatlichen Lebens notwendig zur Abhängigkeit und zu einer Minderung der sozialen Schätzung sowohl, wie des persönlichen und politischen Rechtes führen mußte. Motive, die übrigens in Hellas noch durch ein sehr zwingendes religiöses Interesse verstärkt wurden, weil hier das Familiengut zugleich Sitz des Familienkultus und der Erbbegräbnisse war, deren Pflege zu den heiligsten Pflichten der Nachkommen gehörte.209

Dieses Zusammenwirken ständischer, wirtschaftlicher, religiöser Motive muß in den älteren Zeiten der hellenischen Welt ganz allgemein eine ähnliche Stabilität der Grundbesitzverhältnisse zur Folge gehabt haben, wie wir sie in dem Mittelalter anderer Völker wiederfinden.210

Auch dem Bewußtsein des althellenischen Bauernstandes, zumal da, wo er seine ursprüngliche Kraft und Haltung zu behaupten vermochte, wird es kaum weniger als dem Edelmann schimpflich (οὐ καλόν!) erschienen sein, den ererbten Hof ohne dringende Ursache zu veräußern. In der Tat geht durch das ganze ältere griechische Recht ein Zug hindurch, in welchem sich die angedeuteten Tendenzen sehr bestimmt ausprägen, wenn wir auch nicht immer klar zu erkennen vermögen, inwieweit wir es mit gesetzlich fixierten Verboten oder mit dem in alter Zeit ja nicht minder starken Zwang der Sitte zu tun haben. So hat sich selbst in dem Industrie- und[70] Handelsstaat Athen die Erinnerung an eine Zeit lebendig erhalten, wo letztwillige Verfügungen über das Vermögen noch nicht gestattet waren, weil – um mit Plutarch zu reden211 – Haus und Gut des Verstorbenen seiner Familie verbleiben sollte. Eine Auffassung, mit der es völlig übereinstimmt, wenn Polybios dem von den zeitgenössischen Böotiern mit der Testierfreiheit getriebenen Mißbrauch die Vererbung »in der Familie« gegenüberstellt, wie sie früher auch in Böotien üblich gewesen.212

Die spartanische Unveräußerlichkeit des ererbten Grundbesitzes, der »alten Stammgüter«, war nach dem Zeugnis des Aristoteles »vor alters« in vielen hellenischen Staaten geltendes Recht gewesen.213 Und noch lange, nachdem das Prinzip selbst aufgegeben war, haben sich mehr oder minder weitgehende Beschränkungen des Veräußerungsrechtes erhalten. So war z.B. in Lokri noch im 4. Jahrhundert der Verkauf von Liegenschaften zwar zugelassen, aber nur im Falle offenkundiger Not.214 Im alten Rechte von Elis war dem einzelnen die hypothekarische Belastung seines Grundbesitzes nur bis zu einer gewissen Quote desselben gestattet, um wenigstens einen Teil vor der durch die Verschuldung drohenden Gefahr des Verlustes sicher zu stellen.215 Für andere Staaten sind wenigstens im allgemeinen gesetzgeberische Maßregeln zur Konservierung der bestehenden Agrarverhältnisse, zur »Erhaltung der alten Stammgüter« bezeugt,216 wobei man entweder an Beschränkungen der Teilbarkeit und Veräußerlichkeit oder an ein staatlich geregeltes Adoptionswesen denken kann in dem Sinne, wie es nach den sogen. νόμοι ϑετικοί, d.h. Adoptivgesetzen, in Theben bestand.217

Wo findet sich nun aber bei alledem eine Spur davon, daß man mit diesen Beschränkungen des Liegenschaftsverkehrs das Institut des agrarischen Privateigentums selbst negieren wollte? Sie zeigen uns wohl ein zugunsten der Familie und im Interesse der bestehenden Gesellschaftsordnung [71] gebundenes Grundeigentum, schließen aber den Begriff des Eigentums selbst keineswegs aus. Wenn daher das Bodenrecht in Sparta keine anderen Beschränkungen des Individuums kennt als solche, denen wir auch sonst im älteren griechischen Agrarrecht begegnen, so fehlt uns jeder Anhaltspunkt für die Annahme, daß das Recht des Individuums oder der Familie am Grund und Boden in Sparta grundsätzlich anders aufgefaßt wurde als sonst in Althellas.

Möglich ist es ja immerhin, daß der Sozialismus des kriegerischen Gesellschaftstypus das Gemeinschaftsprinzip in Sparta auch auf dem Gebiete des Bodenbesitzrechtes noch in ungleich strengerer Form zur Geltung brachte als anderwärts. Die Art und Weise, wie das tatsächlich bei der beweglichen Habe geschah, macht es sogar in hohem Grade wahrscheinlich. Es ist sehr wohl denkbar, daß ein Staat, der, so wie der spartanische, die Person des Bürgers gewissermaßen als sein Eigentum behandelte, auch den Besitz desselben nicht anders auffaßte und in dem Bürger nur den Inhaber eines abgeleiteten Nutzungsrechtes sah.

Wenn auf die Frage: »Wessen ist das Haus?« Stauffer dem Landvogt erwidert: »Dieses Haus ist meines Herrn und Kaisers und Eures und mein Lehen«, so mochte der alte Spartaner, dem sich der Staat nicht in einer Person verkörperte, der vielmehr für die Abstraktion des Staates, der Polis, volles Verständnis hatte, sehr wohl auf die gleiche Frage antworten: »Mein Haus und Gut ist des Staates.« Und es mag sich der Begriff des Obereigentums des Staates am Landgebiet ursprünglich im Agrarrecht Spartas scharf ausgeprägt haben.

Allein indem wir solche Möglichkeiten erwägen, müssen wir uns anderseits stets bewußt bleiben, daß wir es dabei eben nur mit Möglichkeiten zu tun haben. Es ist eine durch die uns zu Gebote stehenden tatsächlichen Anhaltspunkte nicht gerechtfertigte, vorschnelle Behauptung, daß die spartanischen Kleren »sich nach den rechtlichen Bestimmungen, welche für sie gelten, als Staatslehen erweisen«.218

Nun glaubt man freilich für diese Eigenschaft der Spartiatenhufen als Staatslehen ein besonderes Moment zu besitzen in den Befugnissen, welche dem spartanischen Königtum in gewissen familienrechtlichen, auch für die Besitzverhältnisse wichtigen Fragen zukamen. Man hat nämlich aus der bekannten Angabe Herodots, nach welcher die Adoptionen in Sparta vor den Königen stattfanden,219 den Schluß gezogen, daß hier[72] der Staat sich in der Person des Königs als des Vertreters seiner Ansprüche an die einzelnen Landlose mit den Losinhabern bei fehlender erbberechtigter Nachkommenschaft über eine anderweitige Erbfolge verständigt habe; was eben in der Weise geschehen sei, daß der Inhaber des Kleros »für eine bestimmte Adoption die richterliche Entscheidung des Königs provozierte«.220 Durch diese königliche Gerichtsbarkeit soll sich der Staat als der Eigentümer des Landes zugleich die rechtliche Möglichkeit gewahrt haben, auf die Verteilung des Grund und Bodens fortwährend einen bestimmenden Einfluß auszuüben. Der König habe es z.B. in der Hand gehabt, Adoptionen zu verhindern, welche die dem Staatsinteresse zuwiderlaufende Vereinigung mehrerer Lose zu einem Besitztum herbeigeführt hätten, dagegen solche Adoptionen zu erzwingen, welche unversorgten Söhnen kinderreicher Häuser zu einem Kleros verhalfen. Ganz analog hat man ferner den Umstand gedeutet, daß die richterliche Entscheidung über die Hand von Erbtöchtern, welche nicht schon von seiten des Vaters verlobt waren, ebenfalls den Königen zustand.221 Auch dies habe keinen anderen Grund gehabt als den, das Eigentumsrecht des Staates an dem Landlos zu wahren und dem Staate zugleich die Möglichkeit zu gewähren, zugunsten solcher Bürger, die kein eigenes Gut hatten, über die Hand und den Besitz der Erbtöchter zu verfügen.222

Gegenüber dieser Auffassung ist zunächst zu bemerken, daß, selbst wenn in Sparta das Adoptions- und Erbtöchterrecht in solcher Weise einer systematischen sozialpolitischen Tätigkeit des Staates dienstbar gewesen wäre, daraus allein doch noch nicht folgen würde, daß der Staat hier gleichzeitig als Eigentümer des Grund und Bodens gehandelt habe. Ein Staat, der mit seiner Zwangsgewalt so, wie der spartanische, auf allen Lebensgebieten die Willens- und Rechtssphäre des Individuums einschränkte, konnte sich sehr wohl zu einem derartigen Verfahren ohne weiteres berechtigt halten, auch wenn der Grund und Boden Gegenstand des Privateigentums war.

[73] Eine weitere Frage ist nun aber die: Findet die genannte Ansicht über die Stellung des spartanischen Königtums zum Güterrecht irgendeine Stütze in den Quellen? So, wie der einzige Bericht über die fragliche Tätigkeit der Könige lautet, gewiß nicht! Herodot sagt von den spartanischen Adoptionen weiter nichts, als daß sie in Gegenwart des Königs vollzogen werden mußten. Ob und inwieweit letzterer ein Bestätigungsrecht hatte, ob und in welcher Richtung er überhaupt den Adoptionsakt beeinflussen konnte, ist uns völlig unbekannt. Noch ungünstiger liegt die Sache bei der Frage des Erbtöchterrechts. Herodot a.a.O. bezeichnet die betreffende Tätigkeit des Königs als ein »Rechtsprechen«223 (δικάζειν);224 jedenfalls ist es völlig willkürlich, das Wort δικάζειν hier in der Bedeutung von »entscheiden« überhaupt zu verstehen. Wenn es sich aber bei der Verfügung über Hand und Besitz von Erbtöchtern um eine richterliche Entscheidung der in Betracht kommenden Rechtsfragen225 handelte, so war damit die Berücksichtigung nichtjuristischer, also auch sozialpolitischer Erwägungen von vornherein ausgeschlossen. Auch wäre es ja sehr schwer verständlich, warum ein Staat, der kraft seines Obereigentums in letzter Instanz über alle Erbgüter verfügen konnte, diese seine Macht nur in so beschränktem Umfange ausgeübt haben sollte. Müßte man nicht vielmehr erwarten, daß die Zustimmung des Königs zu der Ehe einer jeden Erbtochter gefordert wurde, wie es z.B. im fränkisch-normannischen Lehensrecht ganz folgerichtig geschehen ist? Wie konnte ein »Oberlehensherr«, der es zugleich als seine Aufgabe betrachtete, dafür zu sorgen, daß »kein Landlos erledigt blieb und daß die nichtansässigen Mitglieder der Kriegergemeinde möglichst durch Verheiratung mit Erbtöchtern zu Grundbesitz gelangten«,226 wie konnte der ein absolutes Entscheidungsrecht des Vaters anerkennen, das gewiß häufig genug eher zugunsten eines vermögenden als eines armen Bewerbers ausfiel?227 Die Beschränkung des staatlichen Einmischungsrechts auf Erbtöchter, für welche eine väterliche Willensmeinung[74] nicht vorlag, mußte ja der Durchführung jenes Gedankens von vorneherein eine empfindliche Grenze setzen. In der Tat hat sich denn auch von der angeblichen sozialpolitischen Wirksamkeit des spartanischen Königtums so wenig in den tatsächlichen Verhältnissen eine Spur erhalten, daß schon ein paar Generationen nach der von Herodot geschilderten Zeit zwei Fünftel des gesamten Grund und Bodens Spartas in die Hände von Frauen übergegangen war, während ein großer Teil der Bürger eines genügenden selbständigen Grundbesitzes entbehrte.228

Wir haben nach alledem keinen Anlaß, die von Herodot geschilderte Kompetenz der spartanischen Könige anders aufzufassen als diejenige, welche z.B. der erste athenische Archont oder die römischen Pontifices auf demselben Gebiete des Familienrechtes besaßen. Die Beteiligung der Magistratur erklärt sich aber in Hellas sehr einfach aus den engen Beziehungen zwischen Sakralrecht und Familienrecht, aus den von der Person des zu Adoptierenden geforderten Qualifikationen,229 aus der öffentlichrechtlichen Bedeutung des Adoptionsaktes. Denn die Familie, welche der Adoptierte fortsetzt, hat eben auch eine öffentlichrechtliche Bedeutung und die politische Gewalt hat daher hier naturgemäß ein entscheidendes Wort mitzureden, eine Tatsache, die ihren prägnanten Ausdruck darin findet, daß z.B. in Rom der in den Kuriatkomitien unter dem Vorsitz des Pontifex maximus versammelte populus Romanus, in Athen der Demos, in Gortyn die Volksversammlung an dem Akte teilnimmt. Dazu kam, was das Erbtöchterrecht betrifft, der allgemeine Rechtsgrundsatz, mangels anerkannter Leibeserben oder bei Lebzeiten Adoptierter Erbschaften nur infolge eines amtlichen Verfahrens antreten zu lassen, welches allen Berechtigten die Geltendmachung ihrer Ansprüche erlaubte.230

Warum sollten wir die amtliche Tätigkeit der spartanischen Könige auf demselben Gebiete nach anderen Gesichtspunkten beurteilen? Wir[75] sind dazu um so weniger berechtigt, als gerade hier ihr Eingreifen durch ihre ganze öffentliche Stellung sehr wohl motiviert erscheint. Als Vertreter der Gesamtheit gegenüber den Landesgöttern im Besitz der höchsten priesterlichen Würde waren sie ja zugleich die geborenen Hüter der mit dem Familienrecht zusammenhängenden religiösen Interessen und daher schon aus diesem Grunde zur Mitwirkung bei jenen wichtigen familienrechtlichen Akten berufen, ganz ebenso wie die römischen Pontifices.

Dagegen ergeben sich sofort unlösbare Schwierigkeiten, wenn man den Königen die Befugnis zu einer sozialistischen Regulierung der Eigentumsverhältnisse zuschreibt, wenn man sie als die großen Segenspender für die Enterbten der Gesellschaft hinstellt. So wie sich bis auf die Zeit Herodots die Verteilung der staatlichen Machtverhältnisse in Sparta gestaltet hatte, wäre nicht das Königtum berufen gewesen, ein Eigentumsrecht der Gesamtheit und ihr Interesse am vaterländischen Boden zu vertreten, die »Gleichheit des Besitzes und der Rechte zu überwachen«,231 sondern diejenige Behörde, welche damals bereits die oberste Magistratur in Sparta war, nämlich das Ephorat. Hätte die Gemeinde in der genannten Weise Ansprüche auf die einzelnen Landlose geltend machen wollen, so hätte sie dies damals gewiß durch eben die Organe getan, in welchen sich recht eigentlich die souveräne Gewalt des Volkes (d.h. des herrschenden Standes) und sein Wille verkörperte. Bei dem eifersüchtigen Mißtrauen, mit dem die Herrenklasse seit Jahrhunderten bemüht war, zu verhüten, daß aus dem Königtum eine »Tyrannis« werde, wäre es geradezu unbegreiflich gewesen, wenn sie dem Königtum eine derartige diskretionäre Gewalt auf einem der wichtigsten Lebensgebiete gelassen hätte, während sie sich doch im Gegensatz zum Königtum in dem Ephorat längst ein Organ geschaffen hatte, das als Aufsichtsbehörde über den gesamten staatlichen »Kosmos«, als oberster »Wächter« über die Wohlfahrt und die Interessen des Staates alle Voraussetzungen für die Ausübung einer solchen Gewalt in sich vereinigte.232 In der Tat erscheint denn auch die Entscheidung der für die Gestaltung der Besitzverhältnisse, für die Entwicklung sozialer Ungleichheit überaus wichtigen Frage, welche um die Wende des 5. und 4. Jahrhunderts an Sparta herantrat: der Frage nach der gesetzlichen Zulassung des Gold- und Silbergeldes,[76] ganz wesentlich mit als Sache des Ephorats.233 Was vollends das Verfügungsrecht über Gemeindeeigentum betrifft, so ist in den uns bekannten Fällen, d.h. bei der Freilassung von Heloten und der Vergebung von Gemeindeland, überhaupt kein einzelnes Regierungsorgan kompetent gewesen, sondern die souveräne Gemeinde selbst.234

Angesichts dieser Tatsachen können wir in der modernen Auffassung des spartanischen Königtums als eines obersten Regulators des Wirtschaftslebens nichts weiter erblicken als eine Fortsetzung der antiken Legendenbildung über den sozialen Musterstaat Sparta.235 Auch das hat jene Auffassung mit der antiken Legende gemein, daß sie dieselben Züge, welche das von der sozialen Theorie geschaffene Bild eines idealen Staates zeigt, in das Leben Altspartas hineinträgt. Denn bewußt oder unbewußt hat hier unverkennbar der platonische Gesetzesstaat vorgeschwebt, ein Staat, der in der Tat auf dem Prinzipe beruht, daß jeder Bürger seinen Anteil am vaterländischen Boden als etwas der Gesamtheit Gehöriges zu betrachten habe.236 Ebenda finden wir auch zur Verwirklichung dieses Gedankens eine mächtige Zentralgewalt,237 welche »für alle darauf zu sinnen« hat, daß der Bodenanteil des einzelnen, die Scholle, »die seine Heimat ist und die er mehr in Ehren zu halten hat, als Kinder ihre Mutter«, nicht verringert werde, und daß womöglich jedem Bürger ein solcher Anteil zufalle. Ebenso wird unter den Maßnahmen (μηχανήματα) dieses Sozialismus ausdrücklich die Einweisung nachgeborener Söhne in solche Hufen ausgesprochen, deren Inhaber keine männliche Nachkommenschaft haben. – Zugegeben, daß die Institutionen Spartas bedeutsame Analogien zu denen des Gesetzesstaates bieten, – wie sie denn Plato ohne Zweifel mit als Vorbild gedient haben, – um so sorgsamer werden wir uns davor hüten müssen, die Unterschiede zu verwischen, die doch auch hier zwischen Ideal und Wirklichkeit bestehen.238 Für uns kann es jedenfalls keinem Zweifel unterliegen, daß auch auf[77] agrarpolitischem Gebiete die Entwicklung des geschichtlichen Sparta eine vielfach andere war, als die des Sozialstaates der Legende. Es ist ja allerdings höchst wahrscheinlich, daß die erste Landaufteilung des dorischen Kriegsvolkes im Sinne weitgehendster Gleichheit erfolgt war. Es entsprach das nur dem gegenseitigen kameradschaftlichen Verhältnis, wie es zwischen den Genossen eines erobernden kriegerischen Verbandes von vornherein besteht. Jeder Kamerad hatte hier ein wohlerworbenes Recht auf die Nutzung des gemeinsam eroberten Landes, und dieses Nutzungsrecht war naturgemäß ein ebenso gleichartiges wie die Stellung der Durchschnittsfreien im Heeresverband; höchstens daß, wie den Heerkönigen, so den militärischen Befehlshabern überhaupt ein der höheren Leistung und Ehre entsprechender größerer Anteil an der Landbeute eingeräumt ward: ein Vorzug, der das Prinzip selbst in keiner Weise durchbrach. Ob dann aber gleichzeitig eine Agrarverfassung ins Leben trat, die auf eine dauernde Erhaltung dieser ursprünglichen Gleichheit berechnet war und ein Privateigentum an den aufgeteilten Landhufen nicht anerkannte? Wir wissen es nicht! Soviel ist jedoch gewiß, daß, wenn in Sparta je eine solche Verfassung bestand, sie verhältnismäßig frühe außer Übung gekommen ist. Das älteste Zeugnis der spartanischen Agrargeschichte, die dem 7. Jahrhundert angehörende politische Dichtung des Tyrtäos, läßt uns bereits einen Blick in Verhältnisse tun, in denen das Individualeigentum am Grund und Boden längst bestanden haben muß, von einer prinzipiellen Gütergleichheit, wie sie Ephoros und Polybios selbst noch für eine viel spätere Zeit annehmen, keine Rede mehr sein konnte.

Es handelt sich um den aus Tyrtäos geschöpften Bericht des Aristoteles über die schwere innere Krisis (στάσις), welche der spartanische Staat in der harten Zeit des zweiten messenischen Krieges durchzumachen hatte. Zum ersten Male in der griechischen Geschichte tritt uns hier die Forderung einer Neuaufteilung des Grund und Bodens entgegen, welche damals aus der Mitte der durch den Krieg herabgekommenen Bürger (vielleicht der in Messenien Begüterten und nun brotlos Gewordenen?) erhoben wurde. Diese Forderung muß nach dem »von Empörungen in Aristokratien« handelnden Bericht schon für jene Zeit als eine ebenso revolutionäre gegolten haben, wie später, weshalb sie denn auch von Tyrtäos unter Berufung auf das Prinzip der »Wohlgesetzlichkeit«, der εὐνομία239 bekämpft wurde. Sie mag vielleicht auf der anderen Seite mit[78] dem Hinweis darauf begründet worden sein, daß der einzelne ja sein Ackerland ursprünglich von der Gesamtheit besitze, und daß daher die Gesamtheit allezeit berechtigt sei, eine Neuregelung der Besitzverhältnisse vorzunehmen. Allein wenn man damals die Verwirklichung dieses Gedankens eben nur noch von der Gewalt erwarten durfte, so beweist das zur Genüge, daß ein so weitgehender Eingriff der Staatsgewalt in die bestehende Grundbesitzverteilung der Rechtsordnung und dem vorherrschenden Rechtsbewußtsein jener Zeit nicht mehr entsprach.

Wie tief muß hier das Institut des privaten Grundeigentums eingewurzelt gewesen sein, wenn der wenig jüngere Alkäos einem Spartaner den Ausspruch in den Mund legen konnte, daß »die Habe den Mann macht« und »kein Armer edel sein« könne!240 Eine Äußerung, die zugleich ein unverkennbares Symptom dafür ist, daß schon im 7. Jahrhundert die natürliche Konsequenz des Privateigentums, die wirtschaftliche Ungleichheit, auch in Sparta sich mehr oder minder fühlbar gemacht hat. Wie hätte man auch damals von einer Änderung der bestehenden Grundbesitzverteilung eine Versorgung der offenbar zahlreichen besitzlosen Elemente erwarten können, wenn nicht ein beträchtlicher Teil der Spartaner schon weit mehr als das unentbehrliche Normalmaß an Grund und Boden besessen hätte?

Diese Ungleichheit reflektiert sich auch in einer bedeutsamen wirtschaftlichen Tatsache. In der Odyssee, die uns ja bereits die Zustände des dorischen Sparta schildert,241 wird Lacedämon wegen seiner Vorzüge für die Rossezucht gepriesen:


Das »weite Blachfeld« des Eurotas,

»Wo in Masse der Lotos gedeiht, wo nährender Galgant,

Wo auch Weizen und Spelt und weißaufbuschende Gerste«.242[79]


Hier muß also die Rossezucht seit alter Zeit von einzelnen wenigstens mit Eifer betrieben worden sein, und wenn es auch eine stark übertriebene Behauptung ist, daß es seit den Perserkriegen die Spartaner darin allen übrigen Hellenen zuvorgetan hätten,243 so sind uns doch jedenfalls mehrere Spartaner als Sieger in den olympischen Wettrennen bereits für das 5. Jahrhundert bezeugt.244 Eine Tatsache, die einen sicheren Schluß auf die Gestaltung der Besitzverhältnisse zuläßt, da im Altertum von jeher die ἱπποτροφία als Zeichen hervorragenden Reichtums und fortgeschrittener wirtschaftlicher Ungleichheit gegolten hat.245

Übrigens treten uns in Sparta in diesem Jahrhundert auch sonst die Besitzesgegensätze, der Unterschied zwischen den »vielen« (οἱ πολλοί) und einer begüterten Minderheit sehr deutlich entgegen;246 eine Differenzierung der Gesellschaft, die dann im 4. Jahrhundert mit rapider Schnelligkeit zu dem Gegensatz von Mammonismus und Pauperismus entartet ist.247

Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 61-80.
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