4. Das Wunschland in Fabel und Komödie

[300] Was sich nun freilich aus all dem Meinen und Begehren einer in ihren Tiefen aufgewühlten Gesellschaft an positiven Ideen entwickelt hat, wie man sich in den Kreisen der mit dem Bestehenden Zerfallenen den proletarischen Freiheits- und Gleichheitsgedanken in seiner Verwirklichung unter den Menschen zu utopistischen Zukunftsbildern ausgemalt hat, dafür fehlt es bei der völligen Unzulänglichkeit unserer Überlieferung an genügenden Zeugnissen. Übrigens ist ja selbst die moderne Sozialdemokratie noch nicht imstande gewesen, ein auch im einzelnen klar und scharf gezeichnetes Ziel ihrer Bestrebungen aufzustellen. Und ob sich die antiken Gleichheitsfanatiker über die einzelnen wirtschaftlichen Elemente ihres Ideals wesentlich klarer gewesen sind,[300] das ist noch sehr die Frage, wenn sich auch in dem engen und übersichtlichen Kreise des Stadtstaates dieses Ideal unendlich viel leichter ausgestalten ließ als unter den Verhältnissen des modernen Großstaates und der modernen Weltwirtschaft.

Soviel ist allerdings gewiß, daß der spekulative Vollkommenheitsdrang des hellenischen Geistes und die aus den Tiefen des Volksgemüts stammenden Triebkräfte, welche hier die Phantasie beflügelten, das heiße Sehnen eines nimmersatten Egoismus, wie die ehrliche Verbitterung der Gedrückten und Elenden überwirkliches oder vermeintliches soziales Unrecht mindestens ebenso hochfliegende, die Gesellschaft aus den Angeln hebende Ideen der Weltverbesserung erzeugt haben, wie es die waren, die uns in dem Sozialismus der Gelehrten und Literaten begegnet sind637 und noch begegnen werden. Wenn diese sozial-philosophische Spekulation mit ihrer idealistischen Abstraktion von dem geschichtlich Gewordenen den Boden des geschichtlich Möglichen völlig unter den Füßen verlor, wenn sie der lebendigen Wirklichkeit eine selbstgeschaffene, in der grundsätzlichen Abwendung von der wirklichen Welt wurzelnde Idealwelt gegenüberstellte und so die Zauberformel zur Auflösung der Disharmonien des menschlichen Daseins gefunden zu haben wähnte, so folgte sie damit ja nur einem Zuge, der im Gemüts- und Geistesleben der Menschheit seit uralter Zeit mit übermächtiger Gewalt sich wirksam gezeigt hat. Seitdem der menschliche Geist zur Reflexion erwacht ist, hat er immer wieder von neuem das Bedürfnis empfunden, inmitten all der Rätsel, der Widersprüche und Nöte des Lebens ein harmonisches Weltbild in sich zu erzeugen, in dem alle diese Rätsel und Schwierigkeiten gelöst erscheinen. Das ewige Sehnen des menschlichen Herzens verlangt nach einer Ergänzung der harten und vernunftwidrigen Wirklichkeit durch eine freigeschaffene Idealwelt; und auch die Vernunft – von der »Unruhe des Warumfragens« gequält – kann nicht ruhen, bis sie die leitenden Prinzipien für eine solche harmonische Gestaltung des menschlichen Daseins und diese Gestaltung selbst – das soziale Ideal – ersonnen hat. In ihm sucht und findet der Mensch Erholung von irdischem Kampf und Leid. Er sucht – um mit Schiller zu reden – Hilfe bei der Imagination gegen die Empirie, indem er im kühnen Flug der Phantasie die Schranken der Endlichkeit durchbricht und sich zu einer Welt der Vollkommenheit erhebt.

[301] Ebenso ist es psychologisch leicht begreiflich, daß auf diesem Wege für eine naive Vorstellungsweise, für »Seelen von mehr Wärme als Helle«, die Grenzen zwischen Traum, Wirklichkeit und Möglichkeit völlig verschwinden. Gab und gibt es für die Menschheit wirklich kein anderes Los, als immer und ewig denselben hoffnungslosen Kreislauf des gegenwärtigen Lebens mit all seiner Mühsal und Arbeitsqual, seinem leiblichen und sittlichen Elend? Die Frage stellen, hieß sie verneinen! Das Ideal, das eben dem innersten Widerstreben des Gemütes gegen die tatsächliche Gestaltung des menschlichen Daseins entsprang, erschien ja zugleich als das eigentlich Seinsollende, von Vernunft und Gerechtigkeit Geforderte, dem gegenüber das Bestehende eine innere Daseinsberechtigung im Grunde nicht mehr hat.

Die Vorstellung, daß das Menschenleben nicht immer an solchen Widersprüchen gekrankt haben könne, daß die Scheidewand zwischen Menschenelend und Götterseligkeit nicht unverrückbar sei, drängt sich einem kindlichen Denken, wenn es einmal in dieser Weise zu reflektieren begonnen, ganz von selber auf. »Der Wunsch wünschte die Scheidewand hinweg, die Phantasie entfernte sie. Jetzt zwar – so lautet die Antwort auf jene Frage – wird das höchste Glück den Sterblichen nicht zuteil, aber was jetzt nicht ist, das kann doch gewesen sein! In der Tat, es war – es war einmal ... «638 »Selig war ehedem das Leben.«639 – »Glücklich waren, die damals mit den Vorfahren lebten.«640 Es ist das alte Lied von der guten alten Zeit641 und von einem Paradies, das uns bei den Orientalen als der Garten Eden, bei den Griechen als das goldene Zeitalter entgegentritt. Und folgerichtig erscheint dann der jetzige Zustand der Dinge – »wie heute die Sterblichen sind«, sagt der homerische Nestor – als etwa, was erst infolge besonderer verhängnisvoller Umstände in die Welt gekommen. Dieser Zustand ist das Ergebnis stufenweiser Verschlechterung von Natur und Menschenwelt, des Herabsinkens von einer ursprünglichen Höhe sittlicher Reinheit und äußerer Glückseligkeit. Er ist daher auch – so spinnt die nimmer rastende Phantasie ihren Faden weiter – einer Wandlung fähig. Die goldene, selige Zeit kann wiederkehren, aller[302] Kampf und alle Not ihren Frieden und ihre Versöhnung finden. So verschiedene Formen diese Anschauungsweise annimmt, immer sind es die gleichen Triebkräfte des menschlichen Seelenlebens, denen sie ihren Ursprung verdanken.642

In dem Roman des allgemeinen Wohlbefindens erscheinen natürlich die Lebensbedingungen der seligen Urzeit so gestaltet, daß vor allem die Ursachen des Übels in Wegfall kommen. Die am härtesten empfundene dieser Ursachen ist die Kargheit der Natur. Der Kampf um das Brot und die immer nur in beschränkter Zahl vorhandenen Güter der Erde vergiftet den friedlichen, kulturfördernden Wettstreit. Neben dieser »Eris, die gut für die Menschen«, waltet die andere, den Sterblichen verhaßte, die »Unheil bringend verderblichen Krieg und Hader entzündet«, die den Schwachen, der es wagt, mit dem Starken sich zu messen, in Schmach und Unglück stürzt.643 Für sie war keine Stätte in jener seligen Zeit, weil hier jeder bei dem großen Gastmahl der Natur seinen Platz fand.644 Die märchenhafte Steigerung der produktiven Kräfte der Natur und der Technik, von denen der moderne Sozialismus in seinen Zukunftsphantasien träumt, ist nichts im Vergleich zu dem, was sich der griechische Volksglaube von dem goldenen Geschlechte erzählte, das dereinst unter der Herrschaft des Kronos in der Fülle aller Güter, frei von Sorge645 und Ungemach, von Krankheit und Alter ein göttergleiches Dasein geführt hat, einer Zeit, wo jeder sein Werk trieb nach freiem Belieben, in ungetrübter Ruhe und Zufriedenheit, bis ihn im Vollgenusse der Kraft ein sanfter Schlummer schmerzlos hinwegrief. Hier spendete die Erde ihren Kindern den unerschöpflichen Reichtum ihrer Gaben freiwillig, »ungepflügt und unbesät«.646 Hier fehlte daher von vorneherein jeder Anlaß zu jenem Kampf der Interessen und Leidenschaften, in dem »der Töpfer grollend auf den Töpfer schaut, der Schmied auf den Schmied, Neid sofort den Bettler vom Bettler trennt und Sänger von Sänger«.647 Es ist ein Zeitalter der allgemeinen Bruderliebe und einer Gleichheit, die weder Herr noch Knecht,[303] weder arm noch reich gekannt hat.648 Daher erweckt auch das Fest, in welchem das Andenken an die Zeiten des guten Herrschers Kronos fortlebt, die Feier der Kronien, alle edlen Gefühle in der Menschenbrust. Während ihrer Dauer soll allgemeines Wohlwollen herrschen, jedermann es vermeiden, dem Nächsten wehe zu tun.649 Selbst dem Sklaven ist es vergönnt, sich mit den Fröhlichen als Mensch zu fühlen.650

Es ist wohl kein Zufall, daß diese schöne volkstümliche Sage von dem goldenen Zeitalter allem Anscheine nach nicht schon in der ältesten Entwicklungsepoche der erzählenden Poesie ihre dichterische Ausgestaltung erhielt.651 Das homerische Epos ist ein Erzeugnis der aristokratischen Welt des hellenischen Mittelalters. Der homerische Sänger singt für die Fürsten und Edeln, aus deren Leben und Sinnesart der Heldengesang seine Nahrung sog; und so ist denn auch die Art und Weise, wie diese Aöden der Masse der Volksgenossen gedenken, ganz und gar der Gefühls- und Sprechweise der Herren abgelauscht. Tun und Leiden der Menge, die »weder im Kriege zu rechnen, noch im Rate«, tritt völlig zurück und daher auch naturgemäß das Ideal, in dem eben das Sehnen des Volkes seinen Ausdruck fand. Für das Genußmoment in diesem Ideal fehlte ja der Sinn nicht, gewiß aber für[304] seine sozial-ethische und sozial-demokratische Tendenz. Das Gesellschaftsideal eines Grundadels, dem reicher Güterbesitz die freieste ritterliche Muße und heitersten Lebensgenuß ermöglichte, war naturgemäß ein aristokratisches, und es hat seine poetische Verkörperung gefunden in dem adeligen Musterstaat von Scheria, der Phäakenstadt, in der eine genußliebende Aristokratie herrlich und in Freuden lebt. Die Schar der Mühlsklavinnen und unfreien Spinnerinnen im Palaste des Herrschers, die bescheidene Stellung des Volkes gegenüber den Edlen zeigen deutlich, wie es eben die Vorstellungswelt der herrschenden Klasse ist, die sich in diesem Idealstaat widerspiegelt.

Dagegen kommt nun in der Dichtung, in der sich der Mythus vom goldenen Zeitalter zum ersten Male dargestellt findet, in den »Werken und Tagen« Hesiods, eben jene Masse des arbeitenden Volkes zum Wort, die auf der Bühne der epischen Welt so sehr in den Hintergrund getreten war. In einem Liede von der Arbeit, von dem Manne der Arbeit, dem bäuerlichen Poeten aus dem ärmlichen Dorfe Askra, wird die hehre Botschaft von der seligen Jugendzeit des Menschengeschlechtes verkündet:652 nicht der herrschenden Klasse, – denn zu der hat ihn das Leid, das ihm von den ungerechten und bestechlichen »Königen« (d.h. den regierenden Edelleuten) widerfahren, in scharfen Gegensatz gebracht, – sondern dem ganzen Volke, das mit ihm unter dem gleichen Druck der Adelsherrschaft litt. Wenn man gesagt hat, daß es die befreiende Kritik ist, in der aller Sozialismus wurzelt, so trifft dies hier recht augenfällig zu. Denn das Ideal ist bei Hesiod zugleich der Ausdruck einer rücksichtslosen Kritik der herrschenden Zustände. Sein Lied ist ein »Rügelied« nicht bloß gegen den Bruder, sondern zugleich auch gegen die ausbeuterische Klassenherrschaft, bei der jener seinen Rückhalt fand.

Daher die Popularität der Dichtung Hesiods in den nächsten Jahrhunderten, in denen eben diejenigen Klassen des Volkes, an die sich Hesiod wendet, in siegreichem Ansturm das Joch dieser Klassenherrschaft brachen und die wirtschaftliche Arbeit zu ungeahnter Macht und Ehre emporstieg. Während da, wo die ritterliche Aristokratie fortbestand und der Bauer ein armer Höriger blieb, wie z.B. in Sparta, Hesiod keinen Eingang fand, gewann sein Lied weiteste Verbreitung bei den emporstrebenden Bauer- und Bürgerschaften der fortgeschrittenen[305] Kantone der hellenischen Welt. Die Träume von Glück, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, zu denen sich dereinst der Dichter aus dem sozialen Elend der alten Zeit geflüchtet, sie sind recht eigentlich das Ideal dieser neuen Zeit.

Das Bild von der seligen Urzeit, über die nicht Ares und sein Genosse, der Gott des Kampfgetümmels, sondern Kypris, die göttliche Mutter des Eros, waltete und mit den Banden der Liebe selbst Menschen- und Tierwelt verband,653 das läßt in begeisterten Versen Empedokles, der Führer und Prophet der siegreichen Demokratie von Akragas, vor dem inneren Auge der Tausende erstehen, die er durch den Zauber seines Wortes um sich sammelte. Der Mythus bietet dem Weltweisen und Volksmann die Form dar, in der er seine Ideale dem Empfinden der Masse nahe zu bringen sucht. Und fast um dieselbe Zeit hält die holde Dichtung ihren Einzug an der Stätte, wo die glänzendste Demokratie der Welt ihre geistige Erholung und Erhebung über die Sorgen des Alltagslebens suchte: im öffentlichen Festraum des Dionysos, auf der Bühne des Theaters von Athen!

Die dramatische Dichtung des perikleischen Athens – das Lustspiel, ja gelegentlich auch die Tragödie – war unerschöpflich in immer neuen Erfindungen, die Herrlichkeit des paradiesischen Wunschlandes den entzückten Hörern vorzuführen. Die Freiheit und Gleichheit, an der sich die junge Demokratie berauschte, die Beteiligung aller an den Gütern und Genüssen der Welt, nach denen in der neuen Freiheit auch die Massen immer dringender begehrten, kurz was nur immer einem von den Ideen ungemessenen Fortschrittes erfüllten Geschlecht als das glückliche, goldene Ziel vor Augen schweben mochte, all das war ja in dem Reiche des Kronos volle Wirklichkeit gewesen. Was hätte es Volkstümlicheres geben können als die poetische Veranschaulichung dieser entschwundenen Welt, durch welche die populärsten Ideale der Zeit selbst Gestalt und Leben gewannen?

[306] Auch enthielten die alten Träume von einem seligen Wunschland noch ein anderes Moment, das sich zur Steigerung der dramatischen Wirkung vortrefflich verwerten ließ. Jene sentimentale Idylle trat uns ja von Anfang an in einer doppelten Gestalt entgegen: als die Vorstellung von einem verlorenen Jugendparadies in der Vergangenheit und als Glaube an die Möglichkeit eines gleich vollkommenen Glückes in der Zukunft. Schon bei Hesiod reiht sich an die Idee vom goldenen Zeitalter die Vorstellung von dem Lande ewigen, ungetrübten Glückes, das ferne am Ende der Welt liegt; die »elysische Flur« Homers, die Inseln der Seligen, wie Hesiod es nennt. Die »letzte Zufluchtsstätte menschlicher Hoffnung«,654 wo der alte Götterkönig, unter dessen Herrschaft einst das goldene Zeitalter des Friedens und Glückes auf Erden bestand, völlig abgeschieden von der ihm durch Zeus entrissenen Welt wie in einem neuen goldenen Zeitalter über die Seligen waltet.655 Ähnlich hat auch die Komödie das goldene Freudenreich nicht nur als eine Erscheinung der grauen Vergangenheit dargestellt; auch sie hat es sozusagen in die Zukunft hineinprojiziert, indem sie die seligen Wonnegärten z.B. in die Unterwelt verlegt,656 oder sie läßt es noch leibhaftig auf Erden selbst bestehen, wenn auch in fernen sagenhaften Landen;657 eine Anschauungsweise, die den Reiz des utopischen Gesellschaftsbildes wesentlich erhöhen mußte.

Für uns freilich ist diese ganze Dichtung bis auf dürftige Bruchstücke verloren, aus denen sich nur eine höchst unvollkommene Vorstellung von dem gewinnen läßt, was Kratinos und seine Kunstgenossen oder gar die Tragiker aus dem alten Mythus gemacht haben. Wie z.B. das gepriesene »Gemeinschaftsleben im Kronosreich«658 zur Darstellung kam, erfahren wir nirgends. Wir hören nur ganz im allgemeinen, daß die Schlaraffia der Komödie in der Tat ein Reich absoluten sozialen Friedens war. So erscheint in einer Komödie des Teleklides, der – wie Kaiser Friedrich aus dem Kyffhäuser – auf die Oberwelt zurückgekehrte uralte König Amphiktyon auf der Bühne und[307] entwirft ein Bild von dem seligen Friedensreich, das mit den Worten beginnt:


»So will ich euch schildern das Glück und die Lust, die ich den Menschen gewährte.

Da war vor allem der Friede im Land alltäglich wie Luft und wie Wasser,

Nicht Furcht entsproßte der Erde, noch Weh. Sie brachte des Guten die Fülle.«659


Im übrigen aber dürfen wir wohl vermuten, daß die wesentlichsten Konsequenzen, welche die jugendliche soziologische Spekulation des 5. Jahrhunderts aus dem Gemeinschaftsprinzip und der Idee der Brüderlichkeit zog, in einer Dichtung, in der die die Zeit bewegenden Fragen einen so lebhaften Widerhall fanden, ebenfalls zum Ausdruck gekommen sein werden. Die Idee der Frauengemeinschaft z.B., die uns schon damals (z.B. bei Herodot) in den idealisierenden Vorstellungen über die Naturvölker entgegentritt660 und von Euripides auf der Bühne als Problem vorgetragen wird,661 dürfte auch in den dramatischen Schilderungen des goldenen Zeitalters nicht ganz gefehlt haben. Die blühenden, mit allen Reizen geschmückten Jungfrauen, die in dem von Pherekrates geschilderten Paradies die Zecher bedienen,662 weisen deutlich genug in diese Richtung. Auch die Weltbeglückungspläne, die Aristophanes in seiner Kommunistenkomödie verkünden läßt,663 haben gewiß manche Züge mit dem Wunschlande gemein, wie es das ältere Lustspiel schilderte. Es ist sicherlich nicht zum ersten Male gesagt, was hier vom Zukunftsstaat gerühmt wird, daß in ihm nämlich kein Frevel am Gemeinwesen möglich sei, keine falschen Zeugen oder Sykophanten,


»Kein Beutelschneiden, kein Mißgönnen fremden Glücks,

Kein Nackt- und Bloßgehn, kein Verarmen, keine Not,

Kein Zank der Parteien, kein Verhaft für fällige Schuld!«664


In der Tat das goldene Zeitalter in leibhaftiger Gestalt!

Jedenfalls zeigt sich nach einer anderen Seite hin eine enge Verwandtschaft zwischen den Zukunftserwartungen der kommunistischen Schwärmer bei Aristophanes und der Darstellung des goldenen Zeitalters bei den anderen Dichtern der Komödie. Hier wie dort kann sich die poetische Phantasie nicht genug tun in der Schilderung der sinnlichen Freuden, die das ideale Wunschland in sich birgt. Einerseits wurde damit ja eine der empfänglichsten Seiten im Volksgemüt berührt, anderseits entsprach die realistische Ausmalung dieser[308] Herrlichkeiten so recht dem Geiste, der unter der Herrschaft der komischen Muse im Festraum des Dionysos waltete. Wie es Bacchus' Gabe ist, die den Sterblichen hoch über Sorge und Leid hinaushebt, die arm und reich gleich macht und in einem Meere goldenen Überflusses nach einem holden Traumland entführt,665 so will auch die Komödie »die Festgemeinde des Gottes in einen Rausch des lachenden Optimismus und der verwegensten Phantastik versetzen«.666 Eine Wirkung, die durch nichts besser erreicht werden konnte, als durch die Vorführung des goldenen Kronosreiches, das so ganz und gar dem Zauberlande glich, zu dem dionysische Lust ihre Jünger entrückt. So wird in himmelstürmender Laune aus den abenteuerlichsten Vorstellungen ein phantastisch-drolliges Gebäude aufgebaut. Die kühnsten Träume einer ausschweifenden sinnlichen Phantasie gewinnen Leben und Gestalt.

Mit immer neuem Behagen wird ausgemalt, wie in jener seligen Zeit die Natur es fertig brachte, daß allen Erdenkindern ohne Unterschied und ohne eigene Mühe alles zuteil ward, wessen sie nur immer bedurften und begehrten. Das Brot wuchs bereits gebacken aus der Erde hervor oder hing, wie die Früchte, an den Bäumen.667 Die Ströme waren mit Wein oder – wie es in einer anderen Version hieß – mit Milch und Honig, die Kanäle mit pikanten Saucen gefüllt. Weizen- und Gerstenbrote stritten sich vor dem Mund der Leute um die Gunst, verzehrt zu werden, gebratene Vögel und allerlei feines Backwerk flog ihnen von selbst in den Mund, die Fische kamen in die Häuser, um sich dort selbst zu braten und selbst aufzutragen. Suppenströme führten warme Fleischstücke in ihren Wogen heran. Selbst das Spielzeug der Kinder bestand auserlesenen Leckerbissen;668 und was dergleichen Phantastereien mehr sind. In den fernen Wunschländern, die sich noch dieser goldenen Zeit erfreuen, schneit es Mehl, tröpfelt's Brote und regnet's Brei.669 Es sind Verhältnisse, durch die zum Teil auch das schwierige ökonomische Problem gelöst erscheint, das die Komödie mit Vorliebe aufwirft, wie es nämlich möglich gewesen sei, daß die Gesellschaft[309] ohne eine dienende Klasse bestehen konnte und doch der einzelne sich nicht selbst zu bedienen brauchte.670 Noch gründlicher aber erledigte diese Frage eine andere Schilderung: sie läßt nämlich alle Dienste einfach durch die beseelt gedachten Gebrauchsgegenstände selbst leisten! Der Automat ersetzt alle dienenden Hände.671 Man braucht nur zu rufen, so stehen sie zu Diensten. Zum Tische sagt man: »Komm und decke dich«, – zum Backtrog: »Knete den Teig«, – zum Kruge: »Schenk' ein«, – zum Becher: »Geh und spül' dich« usw.672

Man sieht: der alte Mythus ist hier ganz und gar zum Märchen vom Schlaraffenland geworden. Und die phantastische Ausgestaltung dieses zauberhaften Märchenlandes ist gewiß wesentlich das Werk der Komödie. Aber wie die heitere Muse überall dem wirklichen Leben und Empfinden des Volkes nachgeht, mit dessen Schwächen ihr Humor sein freies Spiel treibt, so hat sie gewiß auch hier nur die Fäden weitergesponnen, welche bereits die Phantasie des Volkes geknüpft. Die Schlaraffia der Komödie ist nur die groteske Ausgestaltung einer volkstümlichen Sozialphilosophie und zugleich die geistvollste Satire, die ihr zuteil werden konnte. Das Volk hat sicherlich zu allen Zeiten das Bedürfnis empfunden, die allgemeine Vorstellung vom Kronosreich durch eine realistische Ausmalung seinem Empfinden näher zu bringen,673 ein Bemühen, das naturgemäß nur zu leicht ins Burleske umschlagen konnte. Ebenso ist es psychologisch leicht begreiflich, daß bei dieser sinnlichen Ausmalung des Ideals die ideelle Seite des Mythus mehr und mehr in[310] den Hintergrund trat. Ungleich tiefer als die Idee der Gemeinschaft und die Brüderschaftsschwärmerei wurzelt der Gedanke an das eigene Selbst! Im Kommunismus der Massen überwiegt daher immer das individualistische Interesse, der Gedanke an die Freiheit von dem Zwang des Dienens und der Arbeit und an eine möglichst schrankenlose Befriedigung aller Bedürfnisse und Begierden. Das größte Glück der größten Zahl, d.h. das Glück in der derb sinnlichen Gestalt, wie es die große Mehrheit versteht: das ist der Grundton, auf den dieser plebejische Utopismus gestimmt ist.

Man vergegenwärtige sich nur die zahlreichen griechischen Sprichwörter, die in naivster Weise die Wonnen eines sinnlich behaglichen Lebens preisen oder – um mit den alten Erklärern zu reden – die »Fülle des Glücks« und der »Güter« und das allgemeine »Bereitstehen« dieser Güter (πλῆϑος εὐδαιμονίας – ἕτοιμα ἀγαϑά – πλῆϑος ἀγαϑῶν) preisen.674 Es ist ein Leben, wie »gemahlen und gebacken« (βίος ἀληλεσμένος καὶ μεμαγμένος), der vielberufene βίος Ἅβρωνος, eben das Schlaraffenleben, wo die Feldfrüchte ohne Zutun menschlicher Arbeit (αὐτομάτως) gemahlen und gebacken werden und wo – auch wieder nach dem Sprichwort, – das Brot gebacken (die μᾶζα μεμαγμένη) auf der Straße liegt, Ströme von Wein und Honig und andern guten Dingen fließen und sich zu einem »Meer von Gütern« (ϑάλασσα ἀγαϑῶν) sammeln. Da hagelt es Geld (δραχμὴ χαλαζῶσα), da stäubt und regnet das Gold auf einen hernieder (χρυσῷ καταπάττειν τ.), da gibt es himmelhohe Goldberge (χρυσᾶ ὄρη) und Silberquellen. Tier und Gerät folgt dem Wink des Menschen. Zu arbeiten braucht niemand, und so ist denn auch in dieser Art von Sprichwörterliteratur von Arbeit nirgends die Rede.675

Vortrefflich hat die Anschauungsweise, aus der diese Form des sozialen Utopismus erwuchs, und die durch sie aufgestachelte kommunistische Begehrlichkeit der lachende Philosoph von Samosata charakterisiert und zwar in unmittelbarer Anknüpfung an die Legende vom goldenen Zeitalter, indem er sich in den »Briefen an Kronos« als einen der armen Verehrer des Gottes einführt, der natürlich kein dringenderes Anliegen hat, als daß Kronos das verhaßte Vorrecht der Reichen auf all diese »guten Dinge« aufheben und dieselben allen zugänglich machen möge, weil sonst die Feier seines Festes eigentlich keinen Sinn hätte.676[311] »Das ist es, lieber Kronos, was mich am allermeisten verdrießt, ja wir finden es ganz unerträglich, daß der eine nichts zu tun haben soll, als auf Purpurbetten ausgestreckt die langsame Verdauung einer allzu reichlichen Mahlzeit abzuwarten, sich Komplimente über sein Glück machen zu lassen und alle Tage im Jahr Feiertag zu haben, während uns andere sogar im Traume die Frage beschäftigt, wo die vier Obolen herkommen sollen, um uns am nächsten Tag mit einem Magen voll trockenen Brotes oder Gerstenbreies und einer Handvoll Kresse oder Aschlauch oder ein paar Zwiebeln zum Beigericht wieder schlafen zu legen. – Erst dann, o Kronos, wenn du hier reformiert und Wandel geschafft hast, wird man sagen können, du habest das Leben wieder zum Leben und dein Fest wieder zum Feste gemacht.«

Daher wird wohl auch in den charakteristischen Debatten, die zwischen den Anwälten des Reichtums und des Sinnengenusses einerseits und den Vertretern der Armut, Entsagung und Arbeit anderseits in mehreren dieser Schlaraffenkomödien ausgefochten werden, der Sieg in der Regel auf seiten der ersteren gewesen sein.

»Was« – erklärt der Fürsprech des Reichtums in den »Persern« des Pherekrates der Armut oder ihrem Vertreter –


»Was brauchen wir all deine Wissenschaft

von Stieranspannen und Pflügen,

Von Sichelbereitung und Schmiedhandwerk,

von Saat und Mahd und Umzäunung?

Von selber werden, du hast's ja gehört,

durch die Gassen sich rauschende Ströme

Von dampfender Brühe ergießen und Speck

und achillische Klößchen uns führen

Weither, von den Quellen des Reichtums her;

wer mag, schöpft voll sich die Schüssel.

Und würzigen Rauchwein regnet uns Zeus

herab auf die Ziegel der Dächer,

Und die Wasserspeier am Dachkarnies,

sie speien uns saftige Trauben

Und Honigkuchen und Linsenbrei

und Hörnchen und Brezeln und Semmeln.

Und all die Bäume da drauß im Gebirg,

nicht Blätter werden sie tragen,

Nein, schimmernde Würste und Kabeljaus

und zarte gebratene Drosseln.«677[312]


Und wie triumphierend verkündet in der Tierkomödie des Krates gegenüber dem Vorkämpfer der Armut und Genügsamkeit der des Reichtums und Genusses:


»Hör' nun auch mich an. Ich will grad' im Gegenteil

Zum warmen Bad das Wasser meinen Freunden hier

Vom Meer auf säulenunterstütztem Aquädukt

Herführen, wie man's in der Päanshalle sieht.

So wird es jedem in die Wanne fließen; ist

Sie voll, so sagt es ›haltet ein!‹ Dann kommt sofort

Von selbst der Schwamm, das Fläschchen nebst den Sandelschuh'n.«678


Aussichten, die bei Eupolis im »Goldenen Zeitalter« einen Gläubigen zu dem Jubelruf begeistern:


»O Stadt, du schönste von allen, soviele Kleon beherrscht,

Wie glücklich warst du vor Zeiten, wie glücklich wirst du noch sein!

* * *

Da soll sich einer nicht freuen, nicht lieben unser Athen,

Wo selbst dem krüppligen Wichte, wie dürr und häßlich er sei ...«679


Ein Ausblick, den man verstehen wird, wenn man sich das gleich zu schildernde sexuelle Utopien des Aristophanes vergegenwärtigt.680

Auf dem Boden dieser Weltanschauung, für welche das physische Wohlsein das allbeherrschende Prinzip und die soziale Frage nur als Magenfrage von Interesse ist, mußte die soziale Utopie naturgemäß immer wieder zur Posse, zum Fastnachtsspiele werden. Und als solche erscheint sie denn auch in der einzigen Dichtung, die uns aus der langen Reihe komischer Idealstaaten vollständig erhalten ist: in der köstlichen poetischen Satire der »Ekklesiazusen«,681 in der Aristophanes mit dem rücksichtslos derben Humor eines Shakespeare und der überlegenen Heiterkeit eines Molière dem proletarischen Utopismus noch einmal sein Spiegelbild vor Augen hält; während zugleich mit genialer Kühnheit die letzte noch mögliche Steigerung erfolgt und die Schlaraffia aus weltentrückter Ferne unmittelbar auf den Boden der attischen Wirklichkeit selbst verpflanzt wird.

Es ist, wie gesagt, ein Zerrbild, das in Äußerlichkeiten grotesk übertreibt, um den plebejischen Kommunismus dem Fluch der Lächerlichkeit preiszugeben; und der Dichter erreicht diesen Zweck, indem er[313] eben überall die letzten und äußersten Konsequenzen zieht, die kühnsten Proletarierphantasien womöglich noch übertrumpft.682 Allein sieht man von der bizarren Maske ab, so kommen doch vielfach echte Züge zum Vorschein. Von dem innersten Wesen und den eigentlichen Triebkräften dieses vulgären Utopismus erhält man ein Bild von packender Naturtreue.

Ein harmloser Spuk ist natürlich die Weiberherrschaft, mit deren Begründung das Stück beginnt, von der aber im weiteren Verlauf wenig mehr die Rede ist.683 Sie dient nur zur Steigerung der Komik und zugleich als wahrhaft genial erdachtes Mittel, um den Übergang von der alten Gesellschaft zum Zukunftsstaat völlig unblutig und in heiterster Weise sich vollziehen zu lassen.684 »Durch Weiberlist bei Nacht und Nebel kühn und fein gesponnen,« kommt ein Beschluß der Volksversammlung zustande, der »Stadt und Volk den Frauen übergibt« und jene Einrichtungen ins Dasein ruft, auf welche sich das eigentliche Interesse des Stückes und die Satire des Dichters konzentriert: die Frauen- und Gütergemeinschaft. Auf den Kommunismus des Genießens, den diese Gemeinschaft ermöglichen soll, ist alles Sinnen und Trachten in dem irdischen Paradies gerichtet, das die zur Präsidentin der kommunistischen Republik erkorene emanzipationslustige Dame, die Bürgerin Praxagora, »klugen und freien Sinnes«685 verkündet. Das ist es, was allem Volk eine Zukunft voll nie gesehenen »Glanzes und ungezählten lebenerhöhenden Gewinnes«686 verbürgen, die Stadt glücklich machen soll für alle Zeiten!

[314] So wird denn in den verlockenden Bildern, in denen die Präsidentin die Herrlichkeiten des neuen Gemeinwesens vor ihrem Ehemann entrollt – dem echten Typus des proletarischen Kleinbürgers Athens –, die Verstaatlichung aller Produktions- und Konsumtionsmittel in Aussicht gestellt, damit »alles Gemeingut sei, teilnehme ein jeder an allem, und vom Gemeingut jeglicher lebe«.687


»So schaff' ich denn erstens den Acker

Zu Gemeingut um und das sämtliche Geld und was sonst noch jeder Besitz hat.

Aus dem Gemeinschatz werden wir Frauen euch Männer ernähren und kleiden,

Ihn verwaltend mit Fleiß und mit Sparsamkeit und Rechnung legend von allem.688

Aus Armut tut kein Mensch mehr was, denn alle sie haben ja alles:

Brot, Kuchen, Gemüse, Fleisch, Fische, Gewand, Wein, Kränze, Rosinen und Mandeln.«689


Wie das alles auf die Dauer zu beschaffen sei, wenn jeder nur dem Genuß, niemand mehr der Arbeit leben will, das braucht den Bürger des Zukunftsstaates nicht zu bekümmern. Zwar stehen ihm nicht die beseelten Automaten des Fabellandes Schlaraffia zu Gebote; aber hatte nicht schon die bestehende Gesellschaft ihre vernunftbegabten Werkzeuge, die ihm bis zu einem gewissen Grade Ähnliches leisten konnten? Den Sklaven, auf den er die verhaßte Arbeit abwälzen kann, nimmt er mit Vergnügen in das neue Gemeinwesen hinüber, so radikal er sonst mit allem Bestehenden gebrochen hat. Die Freiheit und Gleichheit, die er für sich beansprucht, wird von ihm – darin denkt er bei all seinem Fortschrittsdrang so konservativ und individualistisch wie der engherzigste Plutokrat – der ganzen unglücklichen Menschenklasse versagt, der schon die bestehende Gesellschaft ein Übermaß von Arbeitslast aufgebürdet hatte, und die nun, wo auch der niedrigste freie Proletarier sich von der Arbeit emanzipiert hat, alle Mühe und Plage allein übernehmen muß.

»Das Feld« – erklärt Praxagora dem freien Bürger Athens – »bestellen die Sklaven! Für dich bleibt nur das eine Geschäft, wenn der sich streckt, dich geschmückt zum Gelag zu begeben.«690 Diese proletarischen Vertreter des Freiheits- und Gleichheitsprinzips »denken nicht daran, daß die Sklaven gewissermaßen auch Menschen sind, sondern fressen behaglich auf der von fremder Arbeit gedüngten Weide«.691

Es ist, als ob der ganze Staat für sie einzig und allein zur möglichst glänzenden Lösung der Magenfrage da wäre.[315]


»Die Gerichtshöf' erst, dann die Hallen und Scharrn, Eßsäle werden sie sämtlich.«692


Auf die Tribüne kommen Kannen, Krüge und Weinfaß zu stehen. Auf dem Markte aber wird die Urne aufgestellt, nicht mehr, wie bisher zur Erlosung von Ämtern oder Richtersitzen – die braucht man nicht mehr –, sondern zur Verlosung der Kuverts für das große Gastmahl, das der Staat alltäglich allen Bürgern bereitet.693


»Ein jeder vergnügt zum Gerichtshof eilt, wo die Nummer zum Essen ihn hinweist,

Wenn der Herold ruft: Die von Numero A, die werden sich alle gefälligst

In die Königshalle begehen zu Tisch; die von B in die Halle daneben,

Die von Numero C sind unter der Stadt, in der Halle der Mehlmagazine.«


Und was sie hier finden, ist nicht ein »Essen«, sondern ein »Schwelgen«, von dem die das Mahl ansagende Bürgerin Heroldin eine verführerische Schilderung gibt:694


»Ihr Bürgerinnensöhne – denn so heißt ihr jetzt –

Auf, eilet zur Regentin, die wir eingesetzt,

Damit das Glück des Loses allen, Mann für Mann,

Verkünden möge, wo er heute speisen kann!

Es sind die Tafeln allzumal bereitet schon,

Die Küch' und Keller weidlich ausgebeutet schon.

Mit Vließ und Teppich aller Sitz bebreitet schon;

Man mischt die Becher, reihentlang stehn hinterm Tisch

Die Salbenmädchen; schon am Feuer ist der Fisch,

Der Hase bratet, und der Kuchen im Ofen backt!

Man wickelt Kränze, und die Aschkastanie knackt.

Von jungen Mädchen wird ein Schnepfenklein gehackt ...

Auf, auf geschwind; man bringt das Essen schon hinein!

Ihr braucht den Mund nur aufzumachen, so fliegt's hinein.«


Es ist fast wie im Lande Schlaraffia, und auch die kulinarischen Genüsse, die des Bürgers gleich beim großen Freudenmahl des ersten Tages harren, können sich wohl mit denen messen, in deren Preis sich die poetischen Schilderungen des Kronosreiches überboten hatten. Es naht ein Frikassee von Sprotten, Muränen, Lampreten, Trüffeln, Schnepfen, Fasanen, Lerchen, Tauben, Hasen usw. – Also verkündet der Schlußchor in seinem »Essenshoffgesang« (μέλος μελλοδειπνικόν).695

Ja, es winken noch süßere Freuden! Das Freiheits- und Gleichheitsprinzip wäre nur unvollkommen verwirklicht, wenn nicht auch alle Schranken gefallen wären, welche die alte Gesellschaft dem Liebesgenuß gesteckt hatte. Eigene Häuslichkeit, Ehe, Familie gibt es nicht mehr. Die Stadt wird ein großes Haus bilden, hinweg wird alles gebrochen,[316] damit jeder zu jedem stets freien Zugang habe, oder – wie wir hinzufügen dürfen – jeder zu jeder.696 Denn neben der Gütergemeinschaft besteht die allgemeine Weibergemeinschaft.

Dem Einwand, daß man nach der Beseitigung des Privateigentums kein Geld mehr für Dirnen haben werde, begegnet Praxagora siegreich mit der Erklärung:


»In Zukunft steht es frei, sie umsonst zu beschlafen,

Denn gemeinsam mach' ich sie gleichfalls so, daß jede zu jedem sich hinlegt

Und schwängern sich läßt von jedem, der will.«697


Die Stadt ist von jetzt an nicht nur ein Luxushotel, sondern auch ein Gratisbordell!698


– »Wir setzen von allem so jeglichem vor,

Daß bespitzt er, das Kränzlein halb auf dem Ohr,

Heimwandelt, sein Stümpflein Licht auf dem Rohr,

Und die Weibsen in Gassen und Gäßchen, mit Schrei'n

Auf jeden Kommenden stürmen sie ein,

Liebkosen und betteln: Bei mir kehr' ein,

Drin wartet ein reizendes Jüngferchen dein.

Kommt! ruft eine andere hoch im Mansard,

Hier hab ich ein Dirnchen dir, wunder wie zart

Und wie hold und wie fein; doch sie wird erst dein,

Wenn zum Imbiß erst du bei mir stiegst ein!« –

»Wohlan denn, sagt mir, ob es euch gefällt?«699


»Aber« – wendet der Ehemann Blepyros ein – »wie wäre man bei solchem Leben imstande, die eigenen Kinder zu erkennen?« – »Das ist gar nicht nötig« – erwidert Praxagora –, »die Kinder betrachten alle älteren Männer als ihre Väter.« Darauf der Gatte: »Wenn sie aber jetzt schon den Vater, den sie kennen, durchprügeln, warum ihn in Zukunft nicht, wenn man nichts von ihm weiß, behofieren?« – »Dergleichen ist nicht zu befürchten,« erwidert die Gattin.


»Das duldet schon der Nachbar nicht. Vordem ließ keiner sich's kümmern,

Ob ein anderer Prügel vom Sohne bekam; jetzt muß, wenn erprügeln und schrei'n hört,

In Besorgnis, es sei sein Vater in Not, er dem Prügelnden eilen zu wehren.«700


Ausgeschlossen ist von der allgemeinen Liebeskonkurrenz nur die Sklavin. Den »Huren soll ihr Geschäft gelegt werden« – verkündet Praxagora, –


»Damit des Jünglingsfrische Kraft die Bürgerin

Genieße. Nicht mehr soll die Sklavin aufgeputzt[317]

Dem freien Weibe Kypris' schönste Gunst entziehn;

Beim Sklaven schlafen darf sie nur, ist mein Gebot.«701


Ganz frei allerdings ist auch für den Bürger und die Bürgerin die Liebe nicht. Denn die Natur ist leider auf diesem Gebiete Aristokratin! Sie hat körperliche Kraft und Schönheit allzu ungleich verteilt, als daß man hoffen dürfte, die einzelnen würden sich bei freier Liebe auch auf diesem Gebiete zur praktischen Anerkennung des Gleichheitsprinzips verstehen. Alle würden »nach der Schönsten im Land, wie natürlich, gehn und sich ihrer zu freuen verlangen«.702 Und umgekehrt würden alle Weiber den hübschesten Mann umarmen wollen. – Um daher auch hier die Gleichheitsidee zur Wahrheit zu machen muß die Freiheit beschränkt werden. Es wird ein Reihedienst der Minne angeordnet, bei dem auch die Häßlichen nicht zu kurz kommen. Freilich eine Klippe, an der die ganze Herrlichkeit des Zukunftsstaates zu scheitern droht!

Hier entsteht ein Konflikt zwischen liberté und égalité, der dem Dichter Stoff zu Szenen von wahrhaft verblüffender Komik liefert, – dem köstlichen, wenn auch über die Maßen derbnaturalistischen Finale des Stücks, darstellend den Streit der älteren und ältesten Weiblein um den schmucken Burschen, den sein Liebchen so gerne für sich allein haben möchte, aber nicht haben kann, weil dies dem Gleichheitsprinzip widersprechen würde. – Man hat mit Recht bemerkt, daß das sexuelle Utopien gewisser Kommunisten niemals eine so durchschlagende niederschmetternde Kritik erfahren hat, wie hier. »Schade, daß unser höherentwickeltes Anstandsgefühl, richtiger gesagt unsere eingelernte Prüderie, uns dies siegreiche befreiende Lachen über soviel ›Menschliches‹ nicht mehr gestattet.«703 Für die Prophetin des Zukunftsstaates freilich sind derartige Widersprüche und Konflikte nicht vorhanden. Nach ihrer Ansicht wird das unzweifelhafte Ergebnis des Kommunismus eine völlig ungetrübte Harmonie und Eintracht sein. In siegesgewissem Optimismus704 verkündet sie: Bei uns ist Neid und Mißgunst, Zank und Streit, Frevelsinn und Freveltat unmöglich. Denn die Ursache von alledem: Not und Armut ist ja für immer beseitigt. Wo »allen gemein ist dasselbe Geschick«705 und alle überreichlich satt werden an Braten, Wein und Liebe, da ist auch Diebstahl, Raub, Betrug usw. aus der Welt verschwunden.

[318] Mit dieser Argumentation schlägt Praxagora alle Einwände ihres dumm-schlauen Ehemanns Blepyros nieder, der an die Wirklichkeit des kommunistischen Paradieses nicht recht glauben will, so gerne er sich auch die Genüsse desselben gefallen ließe. Sein Bedenken, die lieben Mitbürger möchten bei der Ablieferung ihres Eigentums an den Staatsschatz gar manches unterschlagen,706 weist sie mit der Bemerkung zurück, daß jetzt, wo »alle alles haben«, derjenige, der nicht abliefert, von seinem Betrug keinen Nutzen hat. Was soll er mit dem Gelde anfangen, da aus Armut niemand mehr um Geld etwas zu tun braucht?707 Wozu ferner noch stehlen, wenn alles gemeinsam;708 wozu rauben, wo alle haben, was nottut?709


»Wes Mantel man will, der gibt ihn sogleich freiwillig. Wozu denn sich zanken?

Denn er geht gleich drauf zum Zentralmagazin und holt sich da einen noch bessern.«710


Man sieht: Frau Praxagora stimmt ganz mit Herrn Bebel überein, der mit der gleichen Emphase und der gleichen kategorischen Sicherheit, wie die Präsidentin des lustigen Weiberstaates, in seiner »Frau« das prophetische Wort spricht: »Die Diebe sind verschwunden, weil das Privateigentum verschwunden ist.«711 – Es ist derselbe Gedankengang, den wir bei diesem modernen Utopismus wiederfinden, wenn auf den weiteren Einwand, daß in der heutigen Welt gerade die, welche in der Fülle materieller Güter schwelgen, die größeren Schurken seien,712 von seiten Praxagoras die Antwort erfolgt:


»Ja vordem, Freund, solange wir noch nach den Gesetzen lebten von vordem;

Doch jetzt, wo das Leben gemeinsam ist,713 was bringt Nichtzahlen für Vorteil?«


Modern gesprochen: »Ja vordem – solange wir noch unter dem alten verrotteten Bourgeoisregiment lebten und durch dies Milieu korrumpiert waren! Jetzt aber sind alle ehrlich, weil alle satt sind.«714 Oder, wie Bellamy erklärt, warum im Jahre 2000 alles anders und neu[319] ist: »Die menschlichen Lebensbedingungen haben sich geändert und mit ihnen die Motive des menschlichen Handelns.«

Aber Blepyros kann sich aus dem Rahmen des Bestehenden nicht so leicht herausdenken. Er forscht weiter: »Wenn man ein Strafgeld zu erlegen hat, wo nimmt man es her? Denn es geht doch nicht an, vom Gemeingut das zu bestreiten.« Worauf Praxagora erwidert, der Fall könne überhaupt nicht eintreten; denn es gebe ja keine Prozesse mehr. – Wenn aber niemand mehr prozessieren kann, wenn es keine Schuldhaft mehr gibt, werden da nicht – fragt Blepyros – viele bankrott gehn? Auch das – belehrt ihn die Gattin – kommt in unserem Staat nicht vor. Bei uns kann es weder Gläubiger noch Schuldner geben, da es ja kein Privatkapital mehr gibt.715

Aber der hartnäckige Ehemann ist noch nicht überzeugt, er will noch eines erklärt haben:


»Wenn einer mich schlägt, der berauscht vom Gelag heimkommt und wegen Mißhandlung

Mich entschädigen soll, wo nimmt er es her? Ja, da stehen die Weibsen am Berge!«716


Praxagora wagt es nicht zu bestreiten, daß im Zukunftsstaat derartige Menschlichkeiten vorkommen könnten. Aber sie ist deshalb um eine Auskunft nicht verlegen; sie gibt ein sehr einfaches Rezept, um mit solch unbequemen Genossen fertig zu werden:


»Das büßt er ab an der täglichen Kost. Wenn wir die ihm gehörig beschneiden,

So wird ihm die Lust an den Prügeln vergehn, die er so mit dem Magen gebüßt hat.«


Ja, das Magenmotiv soll noch ganz andere Wunder wirken! Es macht nicht nur die Genossen fein sittsam, sondern hält sogar jene edleren Regungen der Menschenseele wach, auf die der Staat nun einmal, wenn er Bestand haben soll, bei seinen Bürgern notwendig rechnen muß. Damit den Genossen in dem allgemeinen Bauch- und Phallusdienst nicht alle Wehrhaftigkeit und Tapferkeit abhanden komme, wird dem Feigen – ein echt aristophanischer Zug! – die Aussicht eröffnet, von der Table d'hôte weggespottet zu werden.717


»Zum Mahle singen die Knaben, von jedem der Männer

Den preisend, der kühn in der Schlacht sich bewährt, des spottend, der feige davonlief,

Daß er, schamrot, sich nicht geselle zum Mahl.«718


So wie die Menschen geschildert werden, mit denen es der Zukunftsstaat zu tun hat, scheint ja allerdings mit diesem Motiv alles von ihnen erreichbar. Man denke nur an die letzte Szene vor dem Schlußchor! Die Heroldin sieht Blepyros daherkommen, der auf dem Wege[320] zum gemeinsamen Mahle sich verspätet hat. Sie ruft ihm zu: »O Herr, du glückgepriesener, dreimalseliger!« »Ich? wie so?« – fragt Blepyros. Darauf die Heroldin:


»Ja, du, bei den Göttern, wie keiner der Menschen sonst!

Wer könnte hochbeglückter je zu preisen sein,

Als der von mehr als dreißigtausend und einigen

Athenern einzig nicht bereits gegessen hat!«719


Man denkt unwillkürlich an die groteske Satire von Rabelais, welche die Allmacht des Messer Gaster schildert. Und mit einer Satire haben wir es ja auch hier zu tun!

Allein wenn wir nun von den Äußerlichkeiten absehen und uns die Grundgedanken der Dichtung noch einmal vergegenwärtigen, bestätigt sich uns nicht zur Genüge das, was schon oben gesagt wurde, daß die Karikatur des Dichters – wie jede wirklich gute Karikatur – gewisse für das Original charakteristische Züge deutlich erkennen läßt? Denkt man sich, es wäre uns eine Utopie aus jener Zeit erhalten, die wirklich aus dem verwirrten, erhitzten Gehirn eines hungrigen und verlumpten Pöbels entsprungen wäre, eines Pöbels, der nichts hat, aber alles begehrt, vor allem Genuß und wieder Genuß, – würde diese Utopie in dem, was wesentlich ist, nicht die größte Verwandtschaft mit dem Zukunftsgemälde des Aristophanes zeigen? Kann ein extremer Materialismus und Individualismus, dem nichts heilig ist als der »Einzige« und seine Lust, ein anderes Ideal erzeugen, als den kommunistischen Himmel des Pöbels, die »Saturnalien der Kanaille«?720

Aber auch dann, wenn man von diesen Extremen absieht, erscheint hier der Zentral- und Kernpunkt des Problems, wie es jeder rein demokratische Sozialismus formulieren muß, mit genialer Sicherheit getroffen. Man denke an Lassalle, der auf der einen Seite die Mission der Masse nicht genug idealisieren kann, auf der anderen aber als Ausgangspunkt und Hauptfrage die materiellen Interessen des Arbeiterstandes in den Vordergrund gestellt und in seiner praktischen Propaganda mit großem Geschick das gemeine Begehren der menschlichen Natur aufgestachelt hat. Ganz wie Frau Praxagora! Und nicht anderseits die Gier des sinnlichen Willens, nach langer Entbehrung einmal auch einige volle Züge des Genusses zu tun, psychologisch vollkommen begreiflich und nur zu »natürlich«?

Überhaupt zeigt die aristophanische Dichtung recht augenfällig, wie[321] verkehrt die bis in die neueste Zeit in unpolitischen Köpfen spukende Ansicht ist, daß außerhalb der Sophistenkreise und Philosophenschulen von kommunistischen und sozialistischen Ideen bei den Griechen nicht die Rede sein könne, daß die große Masse der Gebildeten wie der Ungebildeten nie ein anderes Verhältnis zu diesen Ideen gehabt habe, als das, daß die »darüber lachte, wenn sie ihr auf der Bühne vorgeführt wurden«.721

Eine frühere Zeit, die für derartige Probleme noch wenig Verständnis hatte, mochte sich mit der Ansicht Droysens begnügen, daß die proletarische Schlaraffia des Aristophanes sich auf harmlose Diskussionen »in Hörsälen und vornehmen Zirkeln« bezog, daß es sich bei ihr nur um einen Stoff handelte, der »aus den Interessen damaliger modisch-literarischer Bildung entnommen war«.722 Wer die soziale Dichtung der Hellenen in ihrer Gesamtentwicklung und in ihrem geschichtlichen Zusammenhang betrachten gelernt hat, wird zu einer völlig anderen Ansicht gelangen. Er wird aus ihr den Schluß ziehen, daß die ungelösten Fragen der sozialen Sphinx das Nachdenken und die Phantasie von Tausenden beschäftigt haben müssen, daß ein tiefes Sehnen nach gesellschaftlicher Reform in breiten Schichten vorhanden war. Er weiß zum voraus, daß, um ein Wort Rankes auf unseren Fall anzuwenden, »dies Streben, Bilden, Wollen nicht beim literarischen Adel blieb, sondern in gewisser Gestalt da war beim Volke«.


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 1, S. 300-322.
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