Fünftes Kapitel

Der soziale Weltstaat des Stifters der Stoa

Aus der Reihe der Staatsideale, von denen uns nichts als der Titel oder einzelne völlig ungenügende Notizen erhalten sind,1 erhebt sich der »vielbewunderte«2 Sozialstaat des Stifters der Stoa, über den wir wenigstens so viel wissen, daß wir ihn in die Kette sozialphilosophischer Gedankensysteme als ein neues bedeutsames Glied einfügen können.

Allerdings scheint auch hier in Beziehung auf den prinzipiellen Kern der Theorie ein Fortschritt über die platonisch-aristotelische Sozialphilosophie hinaus nicht vorzuliegen. Wenigstens berührt sich nach der Ansicht Plutarchs der Staat Zenos in seinen Grundprinzipien unmittelbar mit dem Sozialismus des lykurgischen Sparta und dem Idealstaate Platos. Auch Zeno soll ausgehend von der Koinzidenz der Tugend und Glückseligkeit die Sittlichkeit als Staatszweck aufgestellt und damit zugleich das platonische Einheits- und Gemeinschaftsprinzip verbunden haben. Die πολιτείας ὑπόϑεσις sei hier wie dort dieselbe.3

[268] Man könnte vielleicht fragen, ob wir berechtigt sind, auf dieses Zeugnis hin die dogmengeschichtliche Stellung der Staats- und Sozialtheorie Zenos zu bestimmen. Plutarch war gewiß nicht der Mann dazu, sozialphilosophische Theorien auf die ihnen zugrunde liegenden Ideen methodisch zu prüfen, ihren ethischen Kern mit kritischer Schärfe zu erfassen; und es fragt sich, ob er bei seiner Gleichstellung Platos und Zenos mehr die leitenden und treibenden Ideen des Systems im Auge hat oder die praktischen Ziele, in denen sich Zeno mit Plato insoferne nahe berührt, als auch er vor Forderungen wie der Beseitigung des Geldes, der Frauen- und Kindergemeinschaft nicht zurückscheut.4

Doch spricht allerdings das, was wir sonst von der Sozialphilosophie der Stoa wissen, im wesentlichen für die Auffassung Plutarchs. Gerade die Gemeinschaftsidee wird hier mit besonderer Entschiedenheit betont. Das Gesetz der Natur, welches zugleich das der Vernunft und daher für alle vernunftbegabten Wesen ein und dasselbe ist, verbindet dieselben zu einer idealen Einheit, indem es ihnen allen dieselben sittlichen Ziele steckt. Jeder einzelne hat sich daher als Teil eines großen, innerlich zusammengehörigen Ganzen, als Glied einer Gemeinschaft zu fühlen. Der Trieb nach Gemeinschaft ist allen Vernunftwesen geradezu eingeboren, sie ist ein Gebot der Natur.5

Die antiindividualistische Tendenz dieser Auffassung liegt klar zutage. Schon der absolute »Kanon« des Natur- und Vernunftgesetzes, welches die Grundlage dieser Gemeinschaft bildet, fordert unbedingte Unterwerfung alles individuellen Wollens und Denkens. Es wird von Chrysippos definiert als »der König über göttliche und menschliche Dinge, der Fürst und Herrscher über Rühmliches und Verwerfliches, die Richtschnur für gerecht und ungerecht, der Gebieter über Tun und[269] Lassen der von der Natur zur staatlichen Gemeinschaft geschaffenen Wesen«.6 Eine Begriffsbestimmung, deren Bedeutung der römische Staatsabsolutismus sehr wohl erkannte, als er sie für seine Kodifikation des Rechtes verwandte. Allerdings ist es ein tendenziöser Mißbrauch, wenn hier der stoische Begriff des »Gesetzes« ohne weiteres auf das positive Recht des einzelnen geschichtlichen Staates übertragen und für dieses genau dieselbe Allgewalt in Anspruch genommen wird wie für jenes, obgleich doch gerade jenes »ewige Gesetz« der Stoa das Individuum unter Umständen geradezu zur Auflehnung gegen das Gesetz des bestehenden Staates berechtigt. Allein für die prinzipielle Auffassung kommt das nicht in Betracht. Im »besten« Staate, in welchem das Vernunftrecht eben wirklich anerkanntes Recht geworden, ist es in der Tat der absolute Beherrscher alles individuellen Lebens und Strebens. Hier gibt es nirgends einen Gegensatz des Willens der einzelnen gegen den der Gemeinschaft.

Natürlich gewinnt nun aber auch die Gemeinschaft selbst von diesem Standpunkt aus eine ganz besondere Bedeutung für das Leben der einzelnen. Das Recht der Gesellschaft, die Pflicht des Individuums ihr gegenüber wird mit aller Entschiedenheit seinen persönlichen Interessen und Ansprüchen vorangestellt. Der einzelne erscheint auch hier ganz wesentlich zugleich um der anderen und um des Ganzen willen da,7 wird betrachtet als dienendes Organ8 des sozialen Organismus. Er kann nicht für sich leben, ohne für andere zu leben;9 und der »Weise« ist daher für die Stoa »niemals Privatmann«.10 Er fühlt sich so sehr als ein organisches Glied des auf möglichste Vervollkommnung11 gerichteten[270] Lebensprozesses der Gattung, daß er es als eine unabweisbare Pflicht anerkennt, »auch für die kommenden Geschlechter um ihrer selbst willen Sorge zu tragen«; eine Forderung, die sich ja aus der organischen Staats- und Gesellschaftstheorie von selbst ergibt.12 Ebenso ist es durchaus im Geiste dieser Theorie, wenn – in fast wörtlichem Anschluß an die soziale Ethik des Aristoteles – die Gerechtigkeit als die wesentlich auf die Gemeinschaft bezügliche Tugend formuliert wird, wenn sie und die Menschenliebe als die grundlegenden sozialen Tugenden hingestellt werden, welche »die menschliche Gesellschaft zusammenhalten«.13 Es entspricht daher durchaus dem allgemeinen Ideengang der stoischen Sozialphilosophie, wenn es bei Zeno von der bürgerlichen Gesellschaft heißt, daß sie im Idealstaat ein durchaus »einheitliches« Leben führt, einen Kosmos darstellt, wie eine friedlich zusammen weidende Herde, daß es der Eros ist, welcher diese Gemeinschaft mit zusammenhält.14

Man sieht, all das führt uns prinzipiell kaum über die ältere Sozialphilosophie hinaus, es ist dieselbe Überspannung des Gemeinschaftsprinzips, die uns hier wie dort entgegentritt. Wenn wir trotzdem den Idealstaat Zenos als eine neue und bedeutsame Erscheinung bezeichnet haben, so liegt das daran, daß hier der Sozialismus eine ganz andere geschichtliche Stellung erhält als bisher.

Der platonisch-aristotelische Idealstaat hält sich durchaus innerhalb der Schranken der Polis. Er will in mehr oder minder strenger Abgeschlossenheit der eigenen Vollendung leben. Mag jenseits seiner Grenzen »der Krieg aller gegen alle« die Signatur des menschlichen Daseins bilden, wenn nur er selbst in seinem Innern vom Kampf zum Frieden gekommen ist und dadurch zugleich die Kraft gewonnen hat, in den auch ihm nicht erspart bleibenden Kämpfen mit der feindlichen Außenwelt seine Existenz zu behaupten.

Das konnte nicht das letzte Ideal und Ziel einer Epoche bleiben, in welcher sich jener gewaltige Vereinigungsprozeß der Kulturmenschheit vollzog, der, eben in der Zeit Zenos mit der Verschmelzung von Orient und Okzident beginnend, im römischen Weltstaat sich vollendete. Zeno,[271] dessen Wiege auf einem Boden gestanden, in welchem sich hellenisches und orientalisches Volkstum auf das engste berührte, Zeno, der vielleicht selbst seiner Abstammung nach zweien Rassen angehörte, war recht eigentlich dazu berufen, die Schranken zu durchbrechen, welche das Einheits- und Gemeinschaftsprinzip der antiken Sozialphilosophie bis dahin sich selbst gesteckt hatte.15 Zwar hat er den Gedanken des Weltbürgertums an sich bereits vom Cynismus überkommen,16 allein das Hauptinteresse ist bei dem letzteren doch offenbar ein ganz einseitig individualistisches, nämlich das Bestreben des Philosophen, die Fesseln der bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Ordnungen abzustreifen, für das Individuum eine größere Freiheit der Bewegung, die Möglichkeit zum schrankenlosen Ausleben seiner Eigenart zu gewinnen. Eine Tendenz, die ja auch im Stoizismus keineswegs fehlt, – ist doch dessen Interesse an der Heranbildung der Einzelpersönlichkeit zu dem Ideale des Weisen ein ausgeprägt individualistisches, – die aber doch von Anfang an sich mit der Gemeinschaftsidee verbindet, mit der Idee eines sozialen Kosmos, dessen Wesen eben die Ordnung und Gebundenheit ist.

Indem Zeno den gesellschaftlichen Organismus seines Idealstaates als Kosmos bezeichnet, gibt er dem rein negativen und individualistischen Ideal des Cynismus einen positiven und zugleich ausgeprägt sozialistischen Inhalt. Er will die Sonderungen durch die kommunalen, politischen, nationalen Schranken, die Verschiedenheiten in Recht und Verfassung nicht bloß darum beseitigen, die Menschen nicht bloß darum zu Bürgern eines Staates machen, weil die volle Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne des stoischen Ideals durch die Sprengung jener engeren Verbände begünstigt würde, sondern es ist ihm dabei gleichzeitig ebensosehr darum zu tun, sie alle einer höheren Lebensordnung zu unterwerfen und durch die aus der Unterordnung unter »ein Gesetz« hervorgehende Willensgemeinschaft zu einer sozialen Lebensgemeinschaft alles individuelle zu sozialem Leben zu verschmelzen. Das Gemeinschaftsprinzip ist es, welches hier in dem Einheitsstaat der Gattung seinen höchsten Ausdruck findet. Die κοινωνία der älteren Staatsideale soll sich zu einer allseitigen Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechtes erweitern, der eine Menschheitsstaat zugleich der[272] Sozialstaat der Zukunft sein. Und innerhalb dieser allgemein menschlichen Kulturgemeinschaft soll sich hinwiederum die absolute Einheitlichkeit alles sozialen Lebens verwirklichen, dank dem alles beherrschenden und alles umfassenden Walten des Gesetzes der Vernunft, welches nicht zuläßt, daß die Entwicklung des sozialen Ganzen durch individuelle Willkür gestört werde.17

Alles das erinnert an Ideen, wie sie uns im modernen Sozialismus in dem Gottesreich Fichtes, in der association universelle Saint Simons und in dem sozialen Weltstaat von Rodbertus entgegentreten, in welchem die Menschheit zum Gipfelpunkt ihres Daseins emporsteigen soll, indem sie zu einer immer innigeren Verschmelzung der Individuen mit dem Lebensprozeß der Gattung fortschreitet. Freilich mit dem Unterschied, daß die »eine Gesellschaft« dieses modernen Sozialismus als eine streng organisierte Gemeinschaft gedacht ist, während das Zukunftsideal der Stoa, wenigstens in der Formulierung Zenos, zurückweist auf staatlose Zustände und völlig in eins zusammenfließt mit der Vorstellung jenes idealen Naturzustandes, für den es keines anderen, als des natürlichen Rechtes bedarf. Denn dieses natürliche Recht ist im Einklang mit den Gesetzen der Natur, wie mit denen der Vernunft, welche das Weltganze beherrscht und seinen Lauf bestimmt. Die Herrschaft des Naturrechtes ist daher identisch mit der des ethischen Gesetzes, wie des Vernunftgesetzes, das eben kein anderes sein kann, als dasjenige, welches in der Natur der Dinge selbst liegt. Daher gibt es in diesem Zustand der harmonischen Übereinstimmung des Lebens der Gesellschaft mit der allgemeinen Weltordnung keinen Gegensatz gegen das Sittengesetz, keine Kriminalität. Der beste Staat – sagt Zeno – hat keine Gerichtshöfe. Das als erkanntes Naturgesetz in den Gemütern lebendig gewordene Gesetz der Vernunft wirkt als allgewaltiges organisierendes Prinzip, unter dessen Herrschaft sich alles individuelle Leben zu einem sich selbst ordnenden Kosmos harmonisch zusammenschließt, widerstrebende Tendenzen von vorneherein nicht aufkommen können.18

Eine reine Phantasmagorie, durch welche das ganze Staatsideal auf das Innerliche und Unsinnliche gestellt wird; was ja noch weiterhin[273] seinen Ausdruck darin findet, daß in diesem Staat, wie das Recht keiner Gerichtshöfe, so der Gottesdienst keiner Tempel, die Erziehung keiner Gymnasien, der Verkehr keines Tauschmittels bedürfen soll.19 Es verflüchtet sich hier alles ins Unbestimmte und Nebelhafte. Der spekulative doktrinäre Geist des extremen Sozialismus hat mit der Idee des sozialen Menschheitsstaates einen Höhepunkt erklommen, auf dem sich die Wirklichkeit und die Bedingungen realer Gestaltung der Ideen seinen Blicken völlig entzogen haben. Das utopische Element im Sozialismus, sein unwiderstehlicher Drang, sich in unermeßliche Perspektiven zu verlieren, hat den denkbar reinsten Ausdruck gefunden. Ein Utopismus, über dem wir freilich nie vergessen dürfen, welch eminente geschichtliche Bedeutung die kosmopolitische Gemeinschafts- und Humanitätsidee der Stoa an sich gehabt hat.20[274]


Quelle:
Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, München 31925, Bd. 2.
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