Gelegenheitsdichterei

[269] Gelegenheitsdichterei, d.i. diejenige Richtung und Art der Dichtkunst, die sich an äusserliche Vorfälle des Lebens des einzelnen Menschen oder der einzelnen Körperschaft, Gemeinde u. dgl. anhängtist zuerst bei den Humanisten Ita, liens in Aufnahme gekommen. Zwar gab es schon früher an einzelne Personen gerichtete Gedichte, deren z.B. Walther von der Vogelweide mehrere verfasste, aber sie knüpften sich an eine einzelne, freie Lebenserfahrung; Hans Sachs kennt Dichtungen an Personen gar nicht. Erst das den feinen Lebensformen nachgehende Treiben der Humanisten unter sich selber und gegenüber ihren hohen Mäcenaten, ihre Ruhmsucht, die andere rühmen Hess, um sich damit selber Ruhm zu erholen, gewöhnte sich an regelmässige poetische Beweihräucherung der Erhebung zu akademischen Ämtern und Würden, von Geburtstagen, Hochzeiten, Sterbefällen. In deutschen Gelehrtenkreisen druckt man seit der Mitte des 16. Jahrh. regelmässig solche Carmina gratularia etc. Sie sind anfänglich lateinisch, wenns höher reicht, griechisch, und wenns noch höher kommt, hebräisch oder arabisch geschrieben; mit dem Beginn des 17. Jahrh. treten französische und italienische Sprache auf, mit Opitz die deutsche; von da an dichten nicht bloss die eigentlichen Dichter, wie Opitz, Flemming, Gryphius solche Gelegenheitsgedichte, sondern überall finden[269] sich studierte Leute, wohl meist Pfarrer, die sich gegen einen Lohn dazu hergeben, auf Bestellung dergleichen Gedichte zu liefern. In den zahlreich erhaltenen Einzeldrucken unterscheidet man recht deutlich den bessern Geschmack der ersten und den rohern und unkeuschen Geschmack der zweiten schlesischen Schule. Was die Form dieser Gelegenheitsdichtungen betrifft, so ist zwar die am meisten gebräuchliche die Ode oder die Elegie, ein reflektierendes Gedicht in Alexandrinern; es kommen aber auch strophische Dichtungen vor, die Satire, das Hirtengedicht, Cantaten, Serenaden, Pastorellen, Maskeraden und Balladen. Erst das 18. Jahrh. hat diese Richtung der Dichtkunst dahin zurückgedrängt, wo sie hingehört, in die Kreise des Privatlebens.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 269-270.
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